1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Bilder aus Ost-Europa.
Esthen bewohnten Inseln trennt, Links — westlich — lag im Vorder-
gründe die Insel Mohn, hinter derselben der lange Streifen der
öselschen Küste. Dies war einst die Heimat „weit berüchtigter See-
fahrer; denn von hier aus unternahmen die Öselaner ihre Raubzüge
an die Küste der Ostsee oder tief in das ihnen stammverwandte Efth-
land hinein.
Kühne Seefahrer sind die Öselaner bis heute geblieben. Ihre
einmastigen Boote, scheinbar kaum zur Küstenfahrt und zum Holztrans-
Port geeignet, vermittelten in den Kriegsjahren 1854 und 1855 einen
lebhaften Handel mit Schweden und der preußischen Küste und reizen
auch jetzt noch die besondere Aufmerksamkeit der Grenz- und Zoll-
Wächter. In Trachten und Sagen bewahren sie treu die alteu Über-
lieferungen des Volkes.
Uns zur Rechten dehnte sich die flache Küste des esthischen Fest-
landes aus. Die Dampfpfeife des Schiffes schrillte durch die stille
Morgenluft; die Räder schlugen immer langsamer in das Wasser, und
endlich lag der Dampfer still, ohue Anker zu werfeu. Ein großes
Boot, das dem Dampfer neue Reisende zuführte, kam zu uns heran.
Sechs kräftige Ruderer in dunkelbraunen Jacken halfen den Reisenden
zu uns herüber au Bord und wechselten dagegen die Aussteigenden ein.
Einige Kommandoworte, kurze Fragen, kurze Antworten — sonst
alles so still, daß man trotz der Bewegung ans Schiff und Boot
das Plätschern der Wellen am Kiel hörte. Dann senkten sich die
Ruder taktmäßig ins Wasser und führten uns der Landungsstelle von
Werder auf efthifchem Boden zu, während das Schiff neuen Dampf
ausstieß und feine Bahn weiter zog nach Hapfal, Reval und Petersburg.
In gleicher Stille vollzog sich unsere Lauduug in Werder. Kein
Feilschen und Schreien, keine Zudringlichkeit der Dienstfertigen; die
Ruderer trugen das Gepäck in die Poststation, und die Reisenden
trennten sich mit kurzem Gruß.
Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen über die saftgrünen
Felder, die dunklen Tannen und die lichten Birken hin, als ich den
von Schloß Werder inzwischen angelangten leichten Korbwagen bestieg
und dauu lustig auf ebener Straße nach Efthland hineinrollte.
Es ist eines der kleinsten Gouvernements des russischen Reichs
und hat doch 358 Qnadratmeilen, fast die Ausdehnung des König-
reichs Württemberg, doch noch nicht ein Fünftel so viel Bevölkerung.
Die geringe Dichtigkeit der Bevölkeruug giebt dem Verkehr im
Lande den Charakter. Nur zwei Bahnlinien durchschneiden dasselbe;
der Lokalverkehr aus beiden Linien ist unbedeutend; denn die Mehrzahl
der Reisenden bewegt sich zwischen den Hauptpunkten Reval einerseits
und Petersburg und Dorpat andererseits, und daher muß eine Anzahl
vvn Post- und Landstraßen dem Verkehr im Innern nachhelfen
Granitrücken, die das Land auch in seinen sumpfigen Teilen durchziehen,
bieten treffliches Material zum Straßenbau. Wo im Norden der fast
horizontal lagerude Jurakalk an die Oberfläche tritt, erscheint der