1. Bd. 6
- S. 149
1845 -
Leipzig
: Kollmann
- Autor: Fortmann, Heinrich
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
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garde und der Stab der Nationalgarde auch eingeladen wurden.
Zu diesem Mahle wählte man den großen Opernsaal, der aus-
schließlich zu den größten Hoffesten bestimmt und seit der Ver-
mahlung des zweiten Bruders des Königs nicht geöffnet war.
Die Musik des Königs hatte sich bei diesem Feste einfinden
müssen, und die Logen waren mit Zuschauern angefüllt. Wäh-
rend des Mahles brachte man mit Begeisterung die Gesundheit
des Königs und seiner Gemahlin aus. ,Bei dem zweiten Aufsatze
wurden die Grenadiere von Flandern, die Schweizer und Dra-
goner eingelassen, um Zeugen dieses Schauspiels zu seyn. —
Plötzlich erscheint die Königin mit dem Dauphin auf dem Arme
und von ihrem Gemahle begleitet, wie ehemals ihre verlassene
Mutter in der Versammlung der treuen Ungarn erschien. Sie
gehen um die Tische und werden mit jubelnder Freude empfangen.
Die Königin unterhält sich sehr herablassend mit den Offizieren,
und der kleine Dauphin geht von Hand zu Hand. Die Freude
der Versammlung geht jetzt in Begeisterung über; den bloßen
Degen in der Hand brings man der königlichen Familie ein Lebe-
hoch, und im Augenblicke, wo sie sich wieder entfernt, spielt dis
Musik die Arie aus Richard Löwenherz: ,,O Richard, o mein
König! ob dich die Welt verläßt, ich bleib' dir treu :c." Die
Scene gewinnt nun ein sehr bedeutungsvolles Ansehn. Berauscht
von dem verschwenderisch gereichten Weine, verlieren die Gäste
alle Zurückhaltung und begehen im Taumel der Sinne tausend
Thorheiten, die sie leider zu theuer bezahlen müssen. Dcr Uhlanen-
marsch begeistert zum Angriffe, die wankenden Offiziere erklettern
die Logen, als wenn man Sturm liefe, weiße Kokarden werden
ausgctheilt *) und, wie man sagt, die dreifarbige mit Füßen
getreten; dann verbreitet sich der Schwarm in die Gänge des
Schlosses, wo die Damen vom Hofe sie mit Glückwünschen
empfangen und sie mit Bändern und Zweigen schmücken. —
Das war das berüchtigte Mahl vom i. October, welches
dcr Hof die Unbesonnenheit hatte, am 3. zu erneuern. Am darauf
folgenden Abende erhielt das Militair ein neues Gastmahl von
dem Versailler Bürgerrathe. Einige Hofdamen erschienen gegen
*) Wae andere Geschichtschreiber jedoch verneinen und behaupten, daß
blos einige Offiziere ihre Nationalkokarde» umgekehrt hätten, die auf
der andern Seite weiß waren.