1846 -
Leipzig
: Baumgärtner
- Hrsg.: ,, Reichenbach, Anton Benedict
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
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Iii. Die Oberfläche der Erde.
Ramond, welcher 1802 den Berg Perdu erstieg, fand sogar in einer Höhe von 9000
Fuß noch viele derselben. Die verschiedene Höhe der Hügel und Berge und die verschie-
denartige Neigung der Ebenen verursachen Temperaturverschiedenheiten, welche, je nachdem
sie von einem kalten oder milden Charakter sind, Scenen grauenvoller Oede und Nacktheit
oder grünender Fülle erzeugen. Die tieferen Gegenden des Mittelgebirges und des Vor-
gebirges sind mit dicken, znm Theil undurchdringlichen Waldungen bedeckt, in welchen
Bäre und Wölfe heulen. So vortreffliche Alpenweiden wie in der Schweiz findet man
hier gar nicht, aber die vorhandenen Triften sind doch reich genug, um zahlreichen Schaf-
heerden, die aus dem Flachlande Spaniens während des Sommers hierher getrieben wer-
den, hinlängliche Nahrung zu bieten. Auf den höheren Abhängen bezeichnen schottische
Fichten, in zerstreuten unregelmäßigen Gruppen, eine Höhe von 6500 Fuß. Ueber diesen
windet der krüppelhafte Wachholder seine Zweige um die Kalksteinvorsprünge, und noch
weiter hinauf, 8000 Fuß über der Meeresfläche, gucken hier und da aus den moosgesüllten
Spalten der parnassiablätterige Hahnenfuß, der grönländische Steinbrech und der Felsen-
beifnß hervor. Endlich auf der höchsten Spitze des Mont Perdu, auf solchen Felsenstellen,
die zu glatt und senkrecht sind, um den Schnee lange zurückzuhalten, treiben das Alpen-
hornkraut und die rosenblumige Alpenaretia ihre dünnen feinen Wurzeln in das Gestein,
so daß ihre Blüthen auf die unter ihr sich ausbreitende Schneedecke fallen. Dann und
wann kommt der Wanderer auch ans hohe Firsten, wo nichts als Oede und Nacktheit
herrscht und wo das ewige Einerlei höchstens hier und da eine Stelle an dem Felsen
unterbricht. Aber auch diese Einöden sind von lebenden Wesen nicht ganz verlassen; denn
auch hier haust der Bär, und mehrere Raubvögel, namentlich der Goldadler, haben hier
ihren Horst. Gar sehr verschieden von diesen kalten, wilden Scenen sind diejenigen, welche
die nördlichen und östlichen Ebenen darbieten. Hier rankt häufig an den massiven Woh-
nungen des Landmanns der Weinstock in üppiger Fülle empor und die Olive, das Zucker-
rohr, der Kaffeebaum, der Mantel-, Feigen- und Orangenbaum gedeihen in tropischer
Ueppigkeit und Kraft. Schafheerden weiden in der Nachbarschaft der Seen und finden
zur Nachtzeit Schutz unter den breiten Blättern der Fächerpalme. Außer jenen Schafheer-
den beleben auch Ziegen und eine kleine Rasse vom Rinde die Landschaft, und bunt auf-
gezäumte Maulthiere vollenden den malerischen Charakter derselben. Die Bevölkerung der
fruchtbaren Gegenden ist übrigens in Vergleich mit der Schweiz sehr gering. In den
französischen Pyrenäen kommen noch nicht 1400 Einwohner auf die Flächenmeile und Na-
mond sagt von dem Thale Berusse, in das er bei der Besteigung des Mont Perdu hinab-
blickte: „Wie entzückend schön war dieses Thal, trotz seiner furchtbaren Ringmauern von
himmelanstrebenden Felsen und drohenden Eisbergen! Einzig reich durch die Hand der
Natur und schön in seiner wilden Pracht, ist es wie die Erde in den ersten Tagen ihres
Seins und ehe sie noch von den Menschen zur Fruchtbarkeit gezwungen war. Vergebens
sieht man sich um nach Spuren menschlicher Fußtritte, denn noch nie hat ein Sterblicher
den Fuß in dieses Thal gesetzt. Die üppigsten Wiesen sind ohne Heerden; die Wälder