1844 -
Darmstadt
: Ollweiler
- Hrsg.: Nister, Friedrich
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
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O erstaunenswürdige Regsamkeit in der Natur, o unergründ-
liche Weisheit in der Schöpfung! Wie achtungslos wandle ich oft
unter allen Wundern des allmächtigen Gottes dahin? Der Tro-
pfen, welcher vom Himmel herabfällt, die Blumen zu laben, oder
das unbemerkte Moos am Felsstein zu erfrischen, ist ein Theil des
Weltmeers, herbeigeführt auf des Sturmes Flügel, und verwan-
delt durch geheime Kräfte in den Höhen des Himmels, wohin die
Macht keines Sterblichen reicht. Erde und Himmel sind in ewi-
ger Wechselwirkung mit einander; — hier ist keine todte Natur!
Auch der Erdball, den ich jetzt bewohne, hat sein besonderes Leben,
sein Aus- und Einathmen — Alles ist Leben in Gott!
Ob das Weltmeer noch immer abnehme und das Land sich
erweitere, ist seit Jahrtausenden noch nicht mit Sicherheit bemerkt
worden. In der Tiefe desselben ruht noch eine für un6 größten-
theilö unbekannte Welt; denn nur an wenigen Stellen ist der
Boden des Meeres untersucht worden. Dort im Abgrunde, wie
auf der Oberfläche des Landes, findet man Unebenheiten, Hügel
und Thäler, Höhlen und Klüfte, Quellen, Steine, Felsen, Pflan-
zen und ganze Wälder von Korallen. Was wir festes Land, was
wir Inseln nennen, sind nur hohe Gebirge, die vom Boden des
Meeres hervorgehen, und deren über die Wellen erhabene Spitzen
und Rücken wir bewohnen und mit unsern Städten und Dörfern
überbauen.
Auch die Abgründe sind bewohnt. Noch kennen wir bei
weitem nicht den größten Theil aller Geschöpfe, welche in Flüssen,
Seen und besonders im Alles umfassenden Weltmeer leben. Ihre
Geschlechter und Arten sind nicht zu zählen; ihre Vermehrung über-
steigt allen Glauben. Die Fische vermehren sich schon, ehe sie nur
den vierten, ja ehe sie kaum den achten Theil ihrer Größe erlangt
haben. Manche tragen und legen zugleich über neun Millionen
Eyer; und viele, so weit man bisher Erfahrungen anstellen konnte,
leben oft anderthalbhundert Jahre lang.
Vieles berichtet der Mund der Reisenden von den Wundern
des Meeres — aber es gehört ein Menschenalter dazu, sie alle
aufzuzählen, sa viel wir von ihnen wissen; von den mannichfaltigen
Gestalten der Wassergeschöpfe aller Gattung, ihrer Lebensart, ihren
Eigenschaften, ihren geheimen schaarenweisen Wandcrzügen, ihrem
Nutzen und der Art, wie man sich ihrer bemächtigt.
Wie die Flüsse des Landes sind auch die Wellen des Meeres
immer in Bewegung. Ein langer Stillstand würde die Luft mit
ungesunden Dünsten füllen, und alles Leben auf dem Erdball ver-
pesten. Aber das Wasser der See widersteht schon durch seine eigne
Natur jeder Fäulniß; denn es ist so sehr gesalzen, daß es in heißen
Ländern sein Salz an den Ufern abwirft, wo es von der Sonne
gebleicht und getrocknet wird, den Menschen zur Nahrung. —
Woher diese Salzung des unermeßlichen Weltmeeres? Auch hier
ist ein Geheimniß der Natur, ein Wunderwerk des Schöpfers!
Und auffallender spricht uns die Weisheit desselben an, wenn wir