1886 -
Münster i.W.
: Aschendorff
- Autor: ,
- Hrsg.: ,
- Auflagennummer (WdK): 13
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Konfession (WdK): Römisch-Katholisch
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Silber und andere Kostbarkeiten in Fülle hatten, fehlte es
ihnen bald am Nötigen, an Brot, und Napoleon sah sich ge-
zwungen, jetzt selbst den Besiegten den Frieden anzutragen.
Der Kaiser Alexander hielt den Feind listig hin, verwarf
dann endlich alle Anträge mit den Worten: „Erst jetzt werde
der Krieg für die Russen eigentlich anfangen!" Durch die
äußerste Not gedrängt, trat Napoleon am 18. Oktober den
Rückzug an, und zwar auf demselben Wege, den er gekommen
war. Aber welch ein Rückzug ! Kein Beispiel gleicher Gräß-
lichkeit hat die Geschichte aufzuweisen. Der Himmel schien
selbst mit den Russen in einen Bund getreten zu sein; denn
ein ungewöhnlich früher und strenger Winter trat ein und
überraschte die Feinde auf ihrem kläglichen Rückzüge. Menschen
und Pferde sanken vor Kälte und Hunger erschöpft dahin,
und wie mit einem Leichentuche bedeckte der Schnee die ge-
fallenen Opfer. Der Weg durch die unwirtbare Wüste war
bald mit toten Menschen und Pferden, mit Trümmern von
Geschütz und Gepäck bedeckt. Jeder Tag lieferte Tausende
von Gefangenen in die Hände der nachsetzenden Russen, Tau-
sende von Nachzüglern fielen unter den Lanzen der Kosacken,
unter den Keulen der ergrimmten Bauern. Am gräßlichsten
war das Unglück an der Beresina, über welche Napoleon eine
Brücke hatte schlagen lassen. Kaum war die Hälfte hinüber
gerückt, als plötzlich das fürchterliche Hurrahgeschrei der Ko-
sacken und das Donnern der russischen Kanonen gehört wurde.
Und aus einmal stürzte sich der ganze Haufen der Franzosen,
Menschen, Pferde, Wagen und Kanonen in rat- und thatloser
Flucht durch- und übereinander aus die Brücke. Jeder wollte
der erste sein; hier galt kein Befehl, kein Rang mehr; jeder
kämpfte um sein Leben. Viele wurden in dem Gedränge er-
drückt, viele von den Rädern der Kanonen und Wagen zer-
quetscht, viele von der Brücke hinunter in den Strom ge-
stürzt. In diese wilde Menschenflut hinein donnerten die Ka-
nonen der Russen und richteten eine entsetzliche Verwüstung
an. Zuletzt brach die Brticke ein; Tausende fanden ihren Tod
in den Wellen, und alle, welche noch am jenseitigen User
waren, wurden gefangen. Über 30 000 Mann verloren die
Franzosen bei diesem Übergange am 27. November. Napoleon
selbst, die Hoffnungslosigkeit seiner Lage einsehend, verließ
am 3. Dezember das Heer. In einem elenden Schlitten, den
Trümmern seines Heeres voraus, durchjagte er die öden
Schnee- und Eisfelder Rußlands nach Wilna und von da
über Warschau, Dresden und Mainz nach Paris, um schnell
die Bildung eines neuen Heeres zu veranstalten. Den Ober-
befehl über die zurückgebliebenen Trümmer überließ er dem