1900 -
Leipzig [u.a.]
: Ehlermann
- Hrsg.: Zernial, Unico, Huth, C. H. A., Hirt, Paul, Lucas, F., Hellwig, Paul, Spieß, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Schule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
- Geschlecht (WdK): Jungen
V. Hehn: Die Entstehung der romanischen Sprachen.
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Unterste zu oberst stieg. Irgend ein gemeiner Soldat thrakischer Her-
kunft konnte Kaiser werden, der altehrwürdige Senat war voll bar-
barischen Blutes. Gegen die neuen Klimate und ihre Produkte,
gegen die Anschauungen und Sitten, die alten Erfindungen der vielen
unterworfenen Völker, vorzüglich der Anwohner des Ozeans und der
naturkräftigen thrakisch-illyrischen Stämme in der Donauebene und
am Hämus, konnte sich das enge und geschlossene Idiom der lati-
uischen Landschaft in seiner Reinheit nicht halten. Besonders das
Heerwesen, das immer mehr der eigentliche Halt des ungeheuren
Reiches wurde, vermittelte wie die Verbreitung der herrschenden
Sprache so die Aufnahme und Verschmelzung fremder Begriffe.
Die Konskription versammelte Genossen der verschiedensten Länder in
den Armeen und stehenden Lagern, in denen eine eigene Militär-
sprache sich ailsbildete, die wieder durch Ansiedelung gedienter Sol-
daten, durch Veterauenkolonien und durch den lebhaften Krämer-
handel in und bei den Stationen auf die Bevölkerung ganzer Land-
striche überging. Vom Orient aus wirkte das Juden- und Christen-
tum zersetzend im Innern. Schon in verhältnismäßig früher Zeit
war Italien von jüdischen und syrischen Sklaven und Sklavinnen
überfüllt, die als Gärtner, Köche, Musikanten, als leichtfertige Zofen,
Tänzerinnen, Citherspielerinnen dem Luxus der Reichen dienten und
die Künste und die Verdorbenheit des Orients einführten. Das
Lateinische als Herrschersprache ging noch immer mit dem Purpur-
streif an der Toga, aber es konnte sich der steigenden Flut von unten
nicht mehr erwehren; es wurde immer künstlicher, schwülstiger, un-
reiner; es schwankte allmählich in das sogenannte Mittellatein, die
Kirchen-, Staats- und Litteratursprache des Mittelalters, hinüber.
Ungesehen, im Dunkel des Lebens, im Zuge der Notwendigkeit bildete
sich eine moderne Sprache mit weiterem Gesichtskreis und tieferem
Empfindungsgrunde aus — das Romanische. Die hereinbrechende
Nacht der Barbarei war seinem Werden nur günstig.
Eine moderne Sprache, sagen wir, hatte sich hervorgebildet, eine
christliche, eine europäische. Modern — im Gegensatz zu den
antiken, wie das Griechische und Lateinische, den künstlerischen, von
einem Theater, einem Forum umschlossenen Sprachen kleiner Politien,
die zugleich so geistvoll und so sinnlich sind und den tiefern Bruch
zwischen Ideal und Wirklichkeit noch nicht kennen; christlich — im
Gegensatz zu den ethnischen, wie das Gotische und noch heutzutage
das Slavische in den meisten seiner Zweige, Sprachen, die in die Ge-
schichte der Menschheit noch nicht eingetreten sind; europäisch, d. h.
auf weiterem Schauplatz, im Wechselverkehr der Länder und Klimate,
innerhalb des ungeheuren römischen Reiches und seiner Nachfolgerin,
der völkerumsassenden christlichen Kirche, geboren und erwachsen.