1906 -
Leipzig
: Freytag
- Autor: Steinecke, Viktor, Zehme, Arnold, Pfeifer, Wilhelm, Lehmann, Rudolf, Nath, Max, Klee, Gotthold
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Neuzeit
- Geschlecht (WdK): Jungen
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der Besatzung. Aber über den Rhein wagten die Deutschen sich nicht. Tiberius,
der in dem folgenden Jahre wieder das Kommando über die Rheinarmee
übernahm, stellte Ordnung und Sicherheit wieder her, ja überschritt sogar int
Zweiten Jahr nach der Katastrophe wiederum den Rhein. Die Katastrophe ist,
militärisch betrachtet, nicht schwerer als unzählige andere in den römischen
Annalen verzeichnete. Dennoch ist sie von den weitgreifendsten Folgen ge-
worden, ja man kann sagen ein Wendepunkt der Weltgeschichte, derjenige Mo-
ment, der in der äußeren Politik Roms nach der Fluthöhe den Beginn der
Ebbe markiert. Der durch die mühsam überwundene pannonische Insurrektion
erschöpfte Staat konnte diesen zweiten Stoß nicht verwinden. Nachdem eben
das Äußerste, was man an Mannschaften besaß, aufgeboten worden war, ver-
mochte man nicht mehr die frische Lücke zu füllen; als Augustus starb, zählte
das Heer eine Legion weniger, als vor der Varusschlacht. Aber vor allem hatte
man den Mut und den Glauben an sich selber verloren. Die unzulängliche und
fehlerhafte Reorganisation des Militärwesens war in der großen pannonisch-
germanischen Katastrophe zu Tage gekommen; die alte Wehrfähigkeit der Repu-
blik war nicht übergegangen auf die Monarchie. Die Militärceorganisation
half wohl etwas, aber tat weitaus nicht genug; die Regierung kam zu der
Ansicht zurück, daß der Staat einen großen Krieg nicht führen könne und ihn
vermeiden müsse. Germanien ward aufgegeben; nur die Rheinarmee führte
noch ferner den Namen des germanischen Heeres, und die Teile des linken
Rheinufers, in denen sie stand und die überdies meist deutsche Bevölkerung
hatten, die Namen des oberen und niederen Germaniens. Von der Elbgrenze
war nicht ferner die Rede, noch weniger von Wiederaufnahme des Angriffs
gegen Marobod. Tiberius sah das Werk seines Lebens, die Frucht vieljähriger
Kriegsarbeit zu Grunde gehen; der Bau, zu dem er als Siebenundzwanzig-
jähriger am Rhein und ant Bodensee den Grund gelegt, den er dann als Fünf-
ziger der Krönung nahe gebracht hatte, brach mit einem Schlage unwiderbringlich
zusammen. Ob er persönlich sich resigniert hat oder die Resignation ihm von
dem hochbejahrten, mehr und mehr dem Vorwärtsgehen und jedem Wagnis ab-
geneigten Kaiser aufgezwungen worden ist, vermögen wir nicht zu sagen; gewiß
ist nur, daß auch später, als er selbst die erste Stelle einnahm, der Greis auf
die Hoffnungen des Jünglings und Mannes nicht wieder zurückgekommen ist.
Wohl ward noch einmal die Eroberung Germaniens versucht; der Sohn des
Drusus, der Neffe und Adoptivsohn des Tiberius, der junge feurige und durch
besondere politische Verhältnisse zu einer mehr als billig selbständigen Feld-
herrnstellung gelangte Germanicus versuchte in den ersten Jahren des Ti-
berius das väterliche Werk wieder aufzunehmen, die zerstörten Festungen
wieder herzustellen, zu Wasser und zu Lande die einmal gewiesenen Wege
wieder einzuschlagen. Aber es geschah ohne, ja gegen den Willen des alten
Kaisers, und sowie die Abberufung des Prinzen gelungen war, wurden die
Truppen wieder zurückgezogen über den Rhein. Es war der neuen Monarchie
nicht bestimmt, die Wege der Eroberung zu finden und den matten Glanz der