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„begann man fast auf dem ganzen Erdkreise, vorzüglich aber in Italien und
Gallien, die kirchlichen Gebäude zu erneuern." — „Damals wandelten die
Gläubigen fast alle Kirchen der Bischofssitze sowie die Klöster der verschiedenen
Heiligen und die kleineren Bethäufer in schönere um." In Rom verwandte
man zu diesen Zwecken das so massenhaft gebotene Material antiker Kunst-
bauten. Auch Deutschland beteiligte sich an dieser gesteigerten Pflege der kirch-
lichen Architektur. Der anonyme Mönch von Haseried erzählte mit Bezug aus
die Diözese Eichstädt, daß man unter dem Bischof Heribert, welcher in den
Jahren 1022 bis 1042 regierte, zuerst angefangen habe, die alten Kirchen-
gebäude abzubrechen und neue an deren Stelle zu setzen. Konrad Ii. erbaute
die Abteikirche zu Limburg in der Hardt, die St. Johanniskirche zu Speier.
Auch wurde der Bau des Speierschen Domes unter seiner Regierung begonnen.
Die neue, als romanisch bezeichnete, obwohl vorwiegend durch den deutschen
Klerus ausgebildete Kunstsorm setzte an die Stelle der in der Basilika festge-
haltenen flachen Decke allmählich das hochgezogene Gewölbe und erhöhte noch
mehr als bisher die Lage des Chores. Hinter dem Altartische ferner wurde
eine etwas erhöhte Steinwand ausgeführt, durch welche dieses Heiligtum
noch bedeutender hervorgehoben wurde. Da der Chor der Sitz der Geistlichkeit,
das Schiff aber der Sitz der Laien war, so sprach sich in dem architektonischen
Verhältnisse von Chor und Langschifs das Verhältnis von Kirche und Welt
noch weit deutlicher als in der altchristlichen Basilika aus. Wie der Klerus
seines göttlichen Amtes wegen über der Welt erhaben war, so bildete der Chor
einen von dem Schisse der Kirche abgesonderten und dasselbe hoch überragenden
Raum.
Den vollendetsten künstlerischen Ausdruck erreichte die religiöse Idee des
kirchlichen Gottesstaates in der Gotik. Beide Tendenzen der Kirche wurden in
der letzteren am höchsten entwickelt. Die Verneinung der materiellen Bedin-
gungen in Stil und Technik war der leitende Gedanke der gotischen Kunst.
Die letztere gewann durch ihre Raumverhältnisse und ihr Gewölbesystem den
Anschein, als hätte sie das irdische Schwergewicht der Materie siegreich über-
wunden. Auf möglichst schmaler Grundlage suchte sie möglichst hoch hinauf-
zubauen. Das Gewölbesystem des gotischen Kirchenbaues scheint nicht auf den
Pfeilern zu ruhen, wie in dem romanischen Bau, sondern die aufstrebende
Richtung der Pfeiler in leicht geschwungener Linie fortzuführen. Dasselbe gilt
von dem Spitzbogen, der gleichfalls in seiner Rundung die vertikale Richtung
festhielt. Die außerordentliche Leichtigkeit der Architektur wurde durch das
Bestreben nach einer möglichst hellen Beleuchtung des Jnnenraumes wesentlich
gefördert. Man durchbrach die Wände mit so zahlreichen und hohen Fenstern,
daß man die Außenmauern der Seitenschiffe mit Strebepfeilern, welche mit
den Mauern des Hauptschiffes durch Strebebögen in Verbindung gesetzt wurden,
stützen mußte, um die geschwächte Widerstandskraft der Mauern auf diese Weise
wieder zu verstärken. Die Ausführung der sehr komplizierten Konstruktionen,
welche sich aus diesem Bestreben nach möglichster Auflösung der Massen ergaben,
4*
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Extrahierte Personennamen: Heribert Konrad_Ii Konrad
Extrahierte Ortsnamen: Italien Gallien Rom Deutschland Limburg Speierschen_Domes
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konnte die Gotik nur durch die scharfsinnigsten mathematischen Berechnungen
erzielen. Wie in der Stilform, so trat dieser nach einer Durchbrechung der
irdischen Bedingungen strebende Geist auch in der Technik hervor. Die gotische
Kunst behandelte ihr Material in einer der Natur desselben durchaus wider-
streitenden Weise, insofern die filigran artige Arbeit der Türme, das durch-
brochene Maßwerk der Galerien und das feine Stabwerk der Fenster wohl
der Natur des Holzes oder des Metalles, am wenigsten aber dem spröden
Materiale des Steines entsprach.
Wie die asketische, so wurde auch die hierarchische Richtung der Kirche
in der gotischen Kunst noch weiter als in der romanischen entwickelt. Obwohl
der Chor durch den Wegfall der Krypta weniger hoch lag als in der romanischen
Kirche, so wurde er dennoch bedeutungsvoller hervorgehoben. Vom Schiffe der
Kirche war er durch eine Ballustrade getrennt, so daß die Absonderung des
Klerus von der Laienwelt trotz der geringeren Höhenlage des Chores nicht
weniger als früher bestehen blieb. In der Breite und Tiefe wurde der Chor
vergrößert, mit einem Umgänge und einem Kapellenkranze umrahmt und
durch die Glasmalereien der anliegenden Fenster mit farbigen Lichtern
bestrahlt. Der Altar erhielt einen Aufsatz, der sich durch seine mächtige Größe
und seinen glänzenden Schmuck als der Schwerpunkt des Jnnenraumes dar-
stellte. Das ganze System strebte nach dem Chor als seinem Zielpunkte hin.
Die Flucht von der Sinnenwelt war auch in der bildenden Kunst die
Quelle der hierarchischen Macht.
So bedeutend aber der Einfluß der religiösen Idee auf die bildenden
Künste war, so ging der Umfang der letzteren doch wesentlich über das enge
Grenzgebiet der ersteren hinaus. Auch innerhalb der bildenden Kunst regte sich
ein sichtliches Abstreben aus dem engen Kreise der religiösen Idee. Die letztere
war nicht imstande, die künstlerische Schasfenstätigkeit völlig zu beherrschen,
so daß auch auf dem Gebiete der bildenden Kunst ein merklicher Abstand
zwischen dem Ideale und der Wirklichkeit des christlichen Gottesstaates verblieb.
Auch hier war der Reiz der sinnlichen Natur zeitweilig mächtiger als
die strenge Logik der weltverneinenden Idee. Während die letztere nur die
Darstellung religiöser Stoffe gestattete, begehrte namentlich die an antiker
Dichtung geschulte Bildung auch die Darstellung weltlicher Motive.
Der weltliche Kunstsinn war so regsam, daß er sich nicht nur in welt-
lichen Stoffen versuchte, sondern daß er sogar weltliche Motive in die religiöse
Kunst hineintrug oder religiöse Motive in weltliche umgestaltete. Die Phantasie
des Künstlers überwucherte die Tradition der kirchlichen Symbolik, so daß die
letztere unter den Erfindungen der ersteren fast verloren ging. Jene anfangs
erwähnten seltsamen Gestalten in den Klosterräumen der Kluniazenser
drängten sich auch in den künstlerischen Schmuck der Gotteshäuser hinein. Halb
versteckt unter dem Blatt- und Rankenwerk der Kapitäle, der Friese und Portal-
bögen zeigten sich jene Unholde antiker Kunstwerke, mehrere Tierleiber, die
von einem Kopfe ausgingen, sowie jene aus Menschen- und Tierleib zusammen-
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gestellten Kentauren und Sirenen. Mit Affen, Kobolden und anderen nichts
weniger als symbolischen Figuren wurden die Chorstühle der Kirchen verziert.
Selbst für ganze Szenen aus der äsopischen Tiersabel und dem altgermanischen
Tierepos fand der Witz des Künstlers eine Stelle in der ornamentalen Aus-
stattung der Kirche und des gottesdienstlichen Gerätes. Zwar mochten manche
dieser figürlichen Darstellungen ursprünglich als religiöse Symbole gedacht
sein, wie z. B. die dargestellten Jagdszenen die Bekehrung der Sünder be-
deuten sollten. Doch verloren dieselben allmählich jede symbolische Beziehung,
so daß sie schließlich nur als Zierformen dienten. Daß solche Darstellungen
auch keineswegs immer als symbolische aufgenommen wurden, beweisen jene
oben erwähnten Worte Bernhards von Clairvaux über die Kunstwerke der
Kluniazenser.
Wenn demnach die religiösen Stosse auch den überwiegenden Inhalt der
mittelalterlichen Kunst bildeten und die Klassizität der letzteren überhaupt
nur aus ihren religiösen Schöpfungen beruhte, so nahmen die weltlichen Ab-
schweifungen doch immerhin einen ziemlich breiten Raum ein. In jedem Falle
hatte der das ganze Mittelalter durchziehende Widerstreit zwischen Jenseits
und Diesseits auch in der bildenden Kunst eine tiefe Spur hinterlassen.
5. Die Entwickelung der Persönlichkeit in der italienischen
Renaissance.
Von Jakob Burckhardt. Die Kultur der Renaissance in Italien. 3. Ausl. Leipzig, 1877.
Der Kampf zwischen den Päpsten und den Hohenstaufen hinterließ Italien
in einem politischen Zustande, welcher von dem des übrigen Abendlandes in
den wesentlichsten Dingen abwich. Wenn in Frankreich, Spanien, England
das Lehnssystem so geartet war, daß es nach Ablauf seiner Lebenszeit dem
monarchischen Einheitsstaat in die Arme fallen mußte, wenn es in Deutschland
wenigstens die Einheit des Reiches äußerlich festhalten half, so hatte Italien
sich ihm fast völlig entzogen. Die Kaiser des vierzehnten Jahrhunderts wurden
im günstigsten Falle nicht mehr als Oberlehnsherrn, sondern als mögliche
Häupter und Verstärkungen schon vorhandener Mächte empfangen und ge-
achtet; das Papsttum aber mit seinen Kreaturen und Stützpunkten war ge-
rade stark genug, jede künftige Einheit zu verhindern, ohne doch selbst eine
schaffen zu können. Zwischen den beiden waren eine Menge politischer Ge-
staltungen — Städte und Gewaltherrscher — teils schon vorhanden, teils neu
emporgekommen, deren Dasein rein tatsächlicher Art war. In ihnen erscheint
der moderne europäische Staatsgeist zum erstenmal frei seinen eigenen An-
trieben hingegeben; sie zeigen oft genug die fessellose Selbstsucht in ihren furcht-
barsten Zügen, jedes Recht verhöhnend, jede gesunde Bildung im Keim er-
stickend, aber wo diese Richtung überwunden oder irgendwie ausgewogen wird,
da tritt ein neues Lebendiges in die Geschichte: der Staat als berechnete, be-
wußte Schöpfung, als Kunstwerk. In den Stadtrepubliken wie in den Ty-
TM Hauptwörter (50): [T4: [Reich Zeit Staat Volk Deutschland Jahrhundert Land Macht deutsch Geschichte], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
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79
Hier wäre nun mein Rat, daß die Bücher Aristoteles Physicorum, Meta»
physicae, de Anima, Ethicorum ganz würden abgetan mit allen anderen,
die von natürlichen Dingen rühmen, so doch nichts darinnen mag gelehret
werden." Diese Absage erhält erst ihre rechte Bedeutung, wenn man bedenkt,
daß doch auch für den Humanismus noch Aristoteles eine wesentliche, ja die
wesentlichste Quelle alles positiven Wissens gewesen ist.
So drohte von zwei Seiten eine völlige Trennung der beiden geistigen
Strönmngen. Damit aber war für den Humanismus die Gefahr, in gesin-
nungsloser Gleichgültigkeit zu erschlossen, ebenso drohend geworden, wie für
die Reformation die Aussicht, in der Enge eines ausschließlich religiösen Ge-
sichtskreises und einer rein theologischen Bildung zu erstarren.
Diese Gefahr abgewendet zu haben, ist das Verdienst Melanchthons. Indem
er die Errungenschaften der neuen Wissenschaften der Reformation dienstbar
machte, rettete er die wertvollsten Kulturelemente, die das Zeitalter besaß,
vor dem Schicksal, unter dem Druck der kirchlichen Revolution niedergetreten
und entwurzelt zu werden, gleichzeitig aber führte er diese Elemente der neuen
religiösen Bildung zu, die er dadurch unendlich bereicherte und stärkte.
Philipp Schwarzerd gehörte durch Geburt und Bildung dem Reuchlinschen
Kreise an. Er war von mütterlicher Seite ein Großneffe Reuchlins; in Pforz-
heim, der Heimatstadt seines Oheims und in seiner Nähe hat er seine Schul-
bildung empfangen; auf den Bildungsgang des Knaben und Jünglings hat
der berühmteste deutsche Humanist entscheidenden Einfluß gehabt. Er war es,
der den Familiennamen des Neffen in den griechischen Gelehrtennamen um-
gewandelt hat, er war es, auf dessen Rat der noch nicht Dreizehnjährige die
Universität Heidelberg bezog; er endlich ist es gewesen, auf dessen Empfehlung
der früh Gereifte und früh Gelehrte schon mit einundzwanzig Jahren vom
Kurfürsten Friedrich dem Weisen als Lehrer der griechischen Sprache und
Literatur nach Wittenberg berufen wurde. Als der junge Professor im
August 1518 auf dem Schauplatz seiner künftigen Wirksamkeit eintraf, dachte
er sich diese schwerlich anders als im ausschließlich humanistischen Sinne:
philologische und philosophische Tätigkeit, der Wissenschaft und ihrer Lehre
zugewandt, das war es, worauf seine Anlage wie feine Bildung ihn hinwiesen.
Daß er ein zweiter Erasmus würde, durfte er selbst und durften feine Freunde
von ihm hoffen. In der Tat schienen die Anfänge seiner Wittenberger Wirk-
samkeit durchaus geeignet, diese Hoffnung zu erfüllen. Nach einer bedeutenden
Antrittsrede über die Reform der Universitätsstudien entfaltete er alsbald eine
ausgedehnte und glänzende Wirksamkeit als Lehrer wie als Schriftsteller, er
las über die verschiedensten griechischen Autoren von Homer bis zum Neuen
Testament vor einem Auditorium von 5—600 Zuhörern; die Anzahl der Stu-
denten, die durch sein und Luthers Namen nach Wittenberg gelockt wurden, hob
sich zu ganz außergewöhnlicher Höhe, und der Ruhm des jungen Humanisten
verbreitete sich schnell durch ganz Deutschland.
Aber zugleich knüpften sich die Bande, die ihn gewaltsam aus den bis-
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Extrahierte Personennamen: Philipp_Schwarzerd Philipp Friedrich Friedrich August
Extrahierte Ortsnamen: Melanchthons Wittenberg Luthers Wittenberg Deutschland
80
herigen Bahnen ziehen und neuen Wegen zulenken sollten. Mit Luther ver-
band ihn zunächst der gemeinsame Gegensatz gegen die altkirchliche Wissenschaft.
Zu der Anschauungsweise des Reformators mußte er hinneigen, seitdem ihn:
noch in Heidelberg das Studium der Erasmischen Originalausgabe des Neuen
Testaments und die Beschäftigung mit der Patristik über den Gegensatz der
herrschenden Kirchenlehre zum ursprünglichen Christentum die Augen geöffnet
hatten. Mehr aber als alles einzelne zog ihn die mächtige Persönlichkeit Luthers
in ihren Bann, riß ihn die gewaltige Bewegung, die er entfacht hatte, mit sich
fort. Zunächst halb unfreiwillig in die Eckschen Händel hineingezogen, nahm er
bald auf das lebhafteste an den literarischen Streitigkeiten der nächsten Jahre
teil; eine ganze Reihe von Verteidigungsschriften für Luther und seine Sache
hat er in diesen Jahren veröffentlicht. Auch feine wissenschaftliche Lehrtätigkeit
wendet sich unter dem Druck der fortschreitenden Bewegung immer mehr dem
theologischen Gebiete zu, er wird baeenlanrens in bibliis, liest über das
Mattheusevangelium, erklärt den Römerbrief, und 1521 erfcheinen zum ersten-
mal feine nachmals in zahllosen neuen Ausgaben wiederholten „Loci com=
muñes rerum theologicarum", eine Zusammenstellung der Grundwahr-
heiten des Christentums aus der Heiligen Schrift, „die erste Dogmatik der
neuen evangelischen Kirche".
Aber das rücksichtslose Feuer der ersten Begeisterung legte sich bald. Nicht
sowohl die abmahnenden Stimmen der humanistischen Freunde, des Oheims
Reuchlin zumal, als die Ereignisse, die sich in Wittenberg selbst während und
nach Luthers Aufenthalt auf der Wartburg zutrugen, die Umsturzbewegungen,
die von Karlstadt und den Zwickauer Schwarmgeistern ausgingen, machten den
friedliebenden Mann unsicher und ängstlich; mehr aber noch mochte ihn die
Wahrnehmung erschrecken und verwirren, daß unter den religiösen Streitig-
keiten die humanistischen Interessen gänzlich zurückgingen. Sein einst so glän-
zendes Kolleg war entvölkert, die kainpfbereiten jungen Theologen, die die
Mehrzahl unter den Wittenberger Studenten bildeten, wollten von der stillen
Tätigkeit der humanistischen Gelehrten nichts mehr wissen. Melanchthon sehnte
sich fort, er fühlte sich nicht mehr am rechten Platz, noch in der rechten Tätig-
keit; durch Zufall, schreibt er im März 1523 an Spalatin, fei er in die theo-
logischen Vorlesungen hineingekommen und sitze nun schon mehr als zwei
Jahre auf diesem Riffe fest: er tauge nicht dazu und wünsche loszukommen.
Er sollte niemals wieder loskommen. Der Kampf, den er selbst mit
heraus geführt, die Freundschaft mit Luther, dem er sich in der ersten auf-
quellenden Fülle der Begeisterung ganz hingegeben hatte, banden ihn für
immer an Wittenberg und bei der Theologie fest. Luther erkannte in ihm das
auserwählte Rüstzeug, das die Vorsehung ihm und seiner Lehre bereitet hatte,
er drängte ihn fort und fort zu theologischen, besonders exegetischen Vorlesungen
und Arbeiten. 1525 mußte er wider Willen zu seiner philologischen noch eine
theologische Professur übernehmen. Und die Ansprüche, die an ihn erhoben
wurden, steigerten sich noch, als die neue Lehre aus dem Stadium des siegreichen
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letzten Worte waren auf die Frage seines Arztes, ob er noch etwas wünsche:'
„Nichts als den Himmel! Darum lasset mich zufrieden, störet ineine süße Ruhe
nicht!"
So trägt Melanchthons Leben einen tragischen Zug: der Mann des Ge-
dankens und der Wissenschaft, der in den lärmenden Strom einer gewaltigen
Umwälzung, der Mann des Friedens und der Versöhnlichkeit, der in den
Kamps der Parteien hineingerissen wurde, und erst im Tode die Ruhe fand,
die er sein Leben lang vergeblich ersehnt hatte. Aber dieses tragische Leben ist
der Sache, der es diente, dem Volke, dem es angehörte, im höchsten Sinne des
Wortes zugute gekommen.
Gelang es Melanchthon nicht, die neue Lehre mit dem Geiste der Ver-
söhnung und der Duldung zu erfüllen, der ihn selbst beseelte, so gelang es
ihm doch, ihr den Geist der Wissenschaft zuzuleiten, die ec beherrschte. Es ge-
lang ihm, weil er hier auf ernem Gebiet arbeiten durfte, wo ihm die feind-
seligen Mächte der Unduldsamkeit und der Engherzigkeit nicht entgegentraten:
dem der Jugendbildung. Neben allen Arbeiten und Kämpfen auf theologischen!
Gebiet hat Melanchthon die Beschäftigung mit den humanistischen Studien,
zu denen ihn sein Herz hinzog, niemals fallen lassen. Aber er hat auch zu alleu
Zeiten und unter den ungünstigsten Verhältnissen daran festgehalten, seinen
Schülern und Hörern diese Studien nahe zu bringen. Immer wieder, in einer
Unzahl von akademischen Reden und Schriften, wies er darauf hiu, wie not-
wendig es auch für den Theologen sei, in die Sprachen und Literaturen des
Altertums einzudringen.
Wenn es eine Zeitlang scheinen mußte, als ob unter den Stürmen der
kirchlichen Erneuerung das Interesse für das Altertum und die humanistischen
Studien gänzlich absterben würde, so ist es vor allem Melanchthons Be-
mühungen zu danken, daß sich dieses Interesse wieder hob, und daß die evan-
gelischen Theologen, die an Stelle des katholischen Klerus traten, diesen au
wissenschaftlicher Bildung bei weitem übertrafen. Wie einst sein Oheim Reuchlin
von den Humanisten als ihr gemeinsamer Vater begrüßt worden war, so ist
Melanchthon der Vater eines protestantischen Humanistengeschlechts geworden,
das die Schulen und das Geistesleben der Zeit zu leiten imstande war. „Als
Melanchthon", sagt Paulsen, „nach zweiundvierzigjähriger Wirksamkeit starb,
da wird es nicht viele Städte im protestantischen Deutschland gegeben haben,
in denen nicht ein Lehrer oder Pfarrer den Tod seines Lehrers und vielleicht
auch seines persönlichen Beraters und Leiters betrauerte. Denn in einem wahr-
haft erstaunlichen Umfang hat Melanchthon auch in den persönlichen Lebens-
weg seiner Schüler eingegriffen. Wo immer ein Fürst für seine Universität
einen Professor, eine Stadt für ihre Schule einen Rektor oder Lehrer suchte,
da war ihr erster Gedanke, Melanchthon um seinen Rat zu bitten."
Aber Melanchthon hat nicht nur der künftigen Generation ihre Lehrer
vorgebildet; er hat auch den gelehrten Unterricht auf der Schule und der
Universität in einer Weise organisiert, die aus Jahrhunderte hinaus maßgebend
6*
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158
der besten Statuen, wie sie zum Unterrichte junger Künstler und reisender
Liebhaber unentbehrlich wäre, unternehmen und nach Würdigkeit aus-
führen könnte.
Ich füge dieser Betrachtung über die Schönheit eine Erinnerung best
welche jungen Anfängern und Reisenden die erste und vornehmste Lehre in
Betrachtung griechischer Figuren sein kann. Suche nicht die Mängel und Un-
vollkommenheiten in Werken der Kunst Zu entdecken, bevor du das Schöne er-
kennen und finden gelernt. Diese Erinnerung gründet sich aus eine tägliche
Erfahrung, und den meisten, weil sie den Zensor machen wollen, ehe sie Schüler
zu werden angefangen, ist das Schöne unerkannt geblieben: denn sie machen
es wie die Schulknaben, die alle Witz genug haben, die Schwäche des Lehr-
meisters zu entdecken. Unsere Eitelkeit wollte nicht gern mit müßiger An-
schauung Vorbeigehen, und unsere eigene Genugtuung will geschmeichelt sein;
daher wir suchen ein Urteil zu fällen. Sowie aber ein verneinender Satz
eher als ein bejahender gefunden wird, ebenso ist das Unvollkommene
viel leichter, als das Vollkommene zu bemerken und zu finden, und es kostet
weniger Mühe, andere zu beurteilen, als selbst zu lehren. Man wird insgemein,
wenn man sich einer schönen Statue nähert, die Schönheit derselben in all-
gemeinen Ausdrücken rühmen, weil dieses nichts kostet, und wenn das Auge
ungewiß und flatternd auf derselben herumgeirrt, und das Gute in den Teilen,
mit dessen Gründen, nicht entdeckt hat, bleibt es an dem Fehlerhaften hängen.
Am Apollo bemerkt es das einwärts gedrückte Knie, welches mehr ein Fehler
des Zusammengesetzten Bruchs, als des Meisters ist; am vermeinten Antinous
im Belvedere die auswärts gebogenen Beine; am Farnesischen Herkules den Kopf,
von welchem man gelesen hat, daß er ziemlich klein sei. Einige irren aus Vorsicht,
wenn sie in Betrachtung der Werke der Alten alle Vorurteile zum Vorteile
derselben beiseite setzen wollen; sie sollen abel vielmehr vorher eingenommen
sich denselben nähern: denn in der Versicherung, viel Schönes zu finden, werden
sie dasselbe suchen, und einiges wird sich ihnen entdecken. Man kehre so oft
zurück, bis man es gefunden hat; denn es ist vorhanden.
Ich führe dich jetzt zu dem so viel gerühmten und niemals genug ge-
priesenen Torso eines Herkules; zu einem Werke, welches das schönste in
seiner Art und unter die höchsten Hervorbringungen der Kunst zu zählen ist,
von denen, welche bis auf unsere Zeiten gekommen sind. Wie werde ich dir den-
selben beschreiben, da er der schönsten und der bedeutendsten Teile der Natur
beraubt ist! Sowie von einer prächtigen Eiche, welche umgehauen und von
Zweigen und Ästen entblößt worden, nur der Stamm allein übrig geblieben ist,
so mißhandelt und verstümmelt sitzt das Bild des Helden; Kopf, Arme und
Beine und das Oberste der Brust fehlen.
Der erste Anblick wird dir vielleicht nichts, als einen verunstalteten
Stein entdecken, vermagst du aber in die Geheimnisse der Kunst einzudringen,
so wirst du ein Wunder derselben erblicken, wenn du dieses Werk mit einem
ruhigen Auge betrachtest. Alsdann wird dir Herkules wie mitten in allen
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279
In erster Beziehung ist freilich ein Konflikt zu berücksichtigen. Die Lust
aus direkter Anschauung von Schönheit und Anmut dessen, was wir vor uns
sehen, kann die Unlust aus dem Widerspruche, der in Verletzung der Wahrheits-
sorderung liegt, überbieten, zumal wenn die Kunstgewöhnung solchen nicht
mehr fühlbar macht; und in der Tat hat Kunstgewöhnung uns in dieser
Hinsicht viel vertragen gelehrt, fraglich, ob nicht zu viel, und ob nicht eine
künftige Kunstgewöhnung die jetzige in dieser Hinsicht rektifizieren wird. Man
traue doch der jetzigen nicht gar zu sehr, und sollte überhaupt mehr als
es geschieht, überlegen, ob nicht manches, was man für Sache der Kunst-
berechtigung hält, nur Sache einer Kunst gewöhn ung ist, die besser
durch eine andere vertreten würde. Es frommt der allgemeinen Geistesbildung
nicht, den an sich berechtigten höheren Reiz, der in anschaulicher Erfüllung der
Wahrheitssorderung liegt, dem Reize an sich schöner aber unwahrer Form-
gebung nachzusetzen; wer sich daran gewöhnt, büßt dadurch an Empfänglichkeit
selbst für jenen Reiz ein, und verliert im ganzen mehr und Besseres als er durch
die falsche Gewöhnung von andrer Seite gewinnt. Mit all dem aber bleibt
folgender Gegenrücksicht Raum:
Die Wahrheitsforderung ist der Kunst mit der Wissenschaft gemein, aber
für beide von verschiedenem Gewicht. In der Wissenschaft ist ihre Erfüllung
wesentlicher Zweck und um jeden Preis von ihr anzustreben, mag sie gefallen
oder nicht gefallen; der Kunst ist sie nur ein Hauptmittel zum Zweck, was nie
anders als nach untergeordneten Beziehungen andern Mitteln weichen sollte,
doch wirklich nach solchen einer Übermacht anderer weichen darf. Zuzugestehen
ist, daß eine bestimmte Grenze in dieser Beziehung nicht festzustellen ist, man
kann eben nur im allgemeinen sagen, es muß dann geschehen, wenn Vorteile
der Verletzung ihre Nachteile überwiegen. Das kann sich für verschiedenen Ge-
schmack verschieden stellen, und gehört zu den Fällen, wo es nicht leicht oder
möglich ist, über die größere oder geringere Berechtigung des einen oder andern
Geschmackes zu entscheiden; indes man sich doch immer der dabei abzuwägenden
Gründe bewußt werden kann. Betrachten wir zunächst nur ein Beispiel.
In der Pieta von Michel Angelo hält eine sitzende Madonna den Christus-
leichnam auf dem Schoße liegend. In der Pieta von Rietschel hat eine knieende
Madonna den Christusleichnam gerade vor sich liegen. Beide Werke lassen
sich im Leipziger Museum gut vergleichen, indem sie sich an den entgegen-
gesetzten Enden des Saales gegenüberstehen. Beides sind Werke von großer
Schönheit, jedes nur in anderem Sinne, woraus hier nicht ausführlich ein-
zugehen, um nur folgenden Punkt ins Auge zu fassen. Trotzdem, daß das Ver-
hältnis des Christus zur Madonna in der Pieta von Rietschel naturwahrec
als in der von Michel Angelo ist, wird man es doch in letzterem Werke ent-
schieden schöner als in ersterem finden, indem der Vorteil der Naturwahrheit
dort durch andere Vorzüge hier überwogen wird. In der Pieta von Rierschel
ist der Christusleichnam der eines voll ausgewachsenen Mannes, welcher sein
natiirliches Größenverhältnis zur Madonna hat. In der Pieta von Michel
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
TM Hauptwörter (100): [T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T13: [Kirche Dom Zeit Bau Denkmal Kunst Tempel Bild Werk Stadt], T3: [Lage Karte Land Europa Geographie Klima Größe Verhältnis Grenze Gliederung]]
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280
Angela aber ist der Leichnam der eines nicht recht vollwüchsigen Mannes,
welcher gegen die Größe der Madonna etwas zurücksteht, was naturwidrig ist.
Aber mit dieser Naturwidrigkeit erkaufte sich Michel Angelo den Vorteil, den
Leichnam auf den Schoß der Madonna legen zu können, die Madonna dadurch
in das innigste Verhältnis zu ihm setzen zu können, was an ihr erstes mütter-
liches Verhältnis zu ihm erinnert und gegenteils dem Leichnam über den
Knien eine bewegte Lage geben zu können, wogegen die starre Ausstreckung
des Christusleichnams vor der Rietschelschen Pieta sehr in Nachteil steht. Es
ist wie Fluß gegen Eis. Man findet in der Tat das Verhältnis in der Pieta
von Michel Angelo so schön, daß man über die dabei unterlaufende Natur-
widrigkeit wegsieht, ohne dadurch gestört zu werden, wozu freilich zweies mit-
gehört, erstens, daß die Verjüngung des Christus sehr maßvoll gehalten ist,
zweitens, daß man in dieser idealen Sphäre überall gewöhnt ist, von den
Forderungen an strenge Naturwahrheit nachzulassen. Weder aber hätte der
Christusleichnam sehr viel kleiner sein dürfen, wenn sich nicht die Störung
entschieden geltend machen sollte, noch die verhältnismäßige Größe des Christus-
leichnams der Rietschelschen Pieta haben dürfen, um nicht der Madonna eine zu
schwere Last aufzubürden und das Nehmen des Leichnams auf den Schoß
selbst widernatürlich erscheinen zu lassen. Die Pieta von Michel Angelo
möchte ich überhaupt reicher an Schönheit und diese Schönheit romantischer
nennen, als die der Rietschelschen Pieta, indes in dieser die Schönheit sozusagen
in eine einfache Natürlichkeit, Würde und Tiefe gekleidet ist, die auch ihreu
Wert hat. Wer aber kann solche Werke überhaupt mit ein paar Worten er-
schöpfen wollen!
Anhang: Schönheit u n d C h a r a k t e r i st i k.
In analoger Weise als der Streit zwischen Idealismus und Realismus
dürfte sich der, nicht damit zusammenfallende aber sich damit verflechtende,
Streit zugleich klären und erledigen, ob die Kunst mehr aus Schönheit oder
Charakteristik zu gehen habe, und wiefern das Charakteristische selbst zum
Schönen zu rechnen sei.
Charakteristisch nennen wir überhaupt die Darstellung eines
Gegenstandes, insofern sie die Momente, die ihn von andern unterscheiden,
wahr und deutlich, doch ohne Übertreibung zur Geltung bringt, denn durch Über-
treibung wird die Charakteristik zur Karikatur. Eine gelungene Charakteristik
gewährt zwei wichtige ästhetische Vorteile, einmal, daß sie durch Erfüllung
der Wahrheitssorderung direkt zum unmittelbaren Gefallen an einem Werk
beiträgt, zweitens, daß sie der Monotonie entgegenwirkt, welche um so leichter
Platz greift, je mehr unterscheidende Züge der Gegenstände weggelassen und
diese durch Reduktion auf einen allgemeinen Typus einander verähnlicht
werden.
Insofern nun schön im weitesten Sinne heißt, was unmittelbar Ge-
fallen weckt, eine gelungene Charakteristik aber hierzu beitragen kann, wird sie
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Unter Mitwirkung von
Prof. Dr. Gotthold Klee,
Oberlehrer am Königl. Gymnasium
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