Xxi. §. 8. Die Zeiten des vierten Kreuzzuges. 409
Rückkehr vorüber, so hielt auch der Herr das widerchristliche Reich
nicht mehr aufrecht, sondern übergab es in das Verderben seiner
eignen Sündenschuld. Und als in Folge des Todes Saladin's
noch einmal im Abendland sich die Hoffnung auf bessere Erfolge
regte, als der gewaltige Hohenstaufe Heinrich Vi., Friedrich's
Sohn (1190 — 97), noch einmal einen großen Kreuzzug vorbereitete,
da griff die Hand Gottes wiederum sichtbarlich und wunderbar ein
und legte den kühnsten und mächtigsten der deutschen Kaiser in seiner
frischesten Jugendkraft — in dem Augenblick in den Staub, als seine
Heere begannen, sich nach dem Morgenlande in Bewegung zu setzen.
Schon bei der salischen Kaiserfamilie machten wir darauf auf-
merksam, wie sehr ähnlich ihre Geschichte der des ersten großen Kö-
nigs- und Kaiserhauses, des sächsischen, verlaufen sei. Noch viel auf-
fallender tritt diese Ähnlichkeit bei dem großen Hohenstaufengeschlecht
hervor. So wie Konrad Iii. uns wieder an den vorbereitenden
Heinrich I. und Friedrich I. an die lange, ruhmvolle und von
großen Erfolgen gekrönte Regierung Otto's des Großen erinnert, so
sehen wir in Friedrich's Sohne H einrich Vi. ein genaues Ab-
bild Otto's Ii. Dieselben jugendlichen Jahre, dieselben hochstreben-
den Gedanken, dieselbe geistvolle, obwohl irrende Politik, dieselbe
Richtung ihres Strebens nach Unter-Italien, dasselbe unvermuthete
Hinweggerafftwerden in der Mitte der stolzesten Entwürfe, dieselbe Un-
mündigkeit des hinterlassenen gekrönten Sohnes und der unheilvolle
Streit der langen Vormundschaft. Nur ist bei Heinrich Vi. Alles
noch stolzer, kühner, großartiger, schwunghafter und erfolgreicher, als
bei Otto. Nachdem es Heinrich gelungen war, das Erbreich seiner
Gemahlin Constanze, das schöne Neapel und Sicilien, an sich zu
bringen und somit Italien von einem Ende bis zum andern seiner
Herrschaft zu unterwerfen, fürchtete er sich auch vor keinem Papst
mehr. Denn jetzt war ja den Päpsten ihr bisheriger wichtigster Rück-
halt gegen alle kaiserlichen Angriffe, das Normannenreich in Süd-Jta-
lien, verloren und sogar in die Hände ihrer Gegner übergegangen. So
stand es jetzt zwischen Kaiser und Papst. Freunde und Helfer konnten
sie sich nicht mehr sein, sie waren nur noch eifersüchtige Nebenbuhler
und kämpften mit einander um die Weltherrschaft. So lange die Kreuz-
züge noch dauerten, lag die Weltherrschaft unbestritten in der päpst-
lichen Hand. Als Kaiser Friedrich und die Könige von Frankreich
und England nach Jerusalem aufbrachen, da erwies sich die gesammte
abendländische Christenheit noch einmal als ein großes einiges Ganze
unter der obersten Leitung des römischen Bischofs. Wie die Regimen-
ter eines gewaltigen Heeres strömten die Völker alle nach dem gleichen
angewiesenen Punkte hin, um nach dem Willen ihres Kriegsherrn, des
Papstes, wider die Feinde der Kirche zu kämpfen. Aber als die
Kampfeslust gebüßt war, da zeigte sich bald, daß auch der begeisterte
Gehorsam gegen den Papst vorüber war. Er mochte immer neue Auf-
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Extrahierte Personennamen: Heinrich_Vi Heinrich Konrad_Iii Konrad Heinrich_I. Heinrich_I. Friedrich_I. Friedrich_I. Heinrich_Vi Heinrich Otto Heinrich Heinrich Friedrich Friedrich
Extrahierte Ortsnamen: Gottes Neapel Sicilien Süd-Jta- Frankreich England Jerusalem
470 Xxii. §. 14. Wiedererhebung Frankreichs rc.
Reich hineinspielte, in seine eigne Hand zu bringen und zugleich die
schönen italienischen Länder des Papstes zu gewinnen wünschte? Doch
nicht auf diese Weise sollte die alte Weltmonarchie wiederher-
gestellt werden. Sie sollte überhaupt nicht wiederkehren. Nur das
sollte geschehen, daß die bedeutendsten und religiös angeregtesten Völker
der europäischen Christenheit, daß Deutschland und die Niederlande mit
Spanien und Italien noch einmal unter denselben Scepter gebracht
wurden, damit der große Geisterkampf, der jetzt bevorstand, auf eine
ehrliche und gründliche Weise zwischen ihnen könnte zu Ende gekämpft
werden, wie es denn ja auch geschehen ist.
$. 14. Wiedererhebung Frankreichs als Deutschlands
Widerpart und Verderben der Schweiz.
Indem wir die Gesammtheit der Länder überschauen, welche beim
Beginn der Reformation durch das gemeinsame Herrschergeschlecht
wieder mit einander in Berührung, in die engste Verbindung getreten
sind, fällt es uns sogleich auf, daß der alte Gegner Deutschlands,
daß Frankreich auch jetzt noch in seiner vereinzelten und feindlichen
Stellung bleibt und der gesummten übrigen abendländischen Christen-
heit als ein losgesondertes Glied gegenübertritt. Auch dem fränki-
schen Volke sollte das reine Evangelium wieder angeboten werden,
oftmals, reichlich, dringend; es sollten auch viele einzelne Seelen
durch die lautere Predigt dem Verderben entrissen werden, wiewohl
das Volk als Ganzes durch den bewußten und grimmigen Wider-
stand gegen das Wort Gottes erst völlig zu der antichristischen Stel-
lung und zu dem Verderben heranreifte, dem es vor unseren Augen
entgegengeht. Aber aus dem Schooße Frankreichs konnte keine
Kirchenresormation selbständig hervorgehen, die deutsche Reforma-
tion blieb den romanischen Völkern fremd und reizlos. Es fand sich
aber ein anderer Boden, der, obwohl ursprünglich Deutschland ange-
hörig und mit deutschem Wesen gesättigt, doch seit längerer Zeit schon
in gefährlicher Weise nach Frankreich hinüberneigte. Hier bildete
sich eine zweiter Quell- und Mittelpunkt der Reformation, und neben
der deutschen, germanischen Reformation in Sachsen begründete sich
eine welsche, romanische Reformation in der Schweiz. Nicht
so schnell waren die bedenklichen Folgen der allmäligen Los-
reißung aller schweizer Cantone von den angestammten deut-
schen Gewalten und althergebrachten Verpflichtungen sichtbar ge-
worden. Ein halbes Jahrhundert hindurch hatten die verbundenen
Schweizer nicht bloß den Ruhm unvergleichlicher Tapferkeit, ja Un-
überwindlichkeit, sondern auch echter deutscher Treue und Biederkeit,
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Extrahierte Ortsnamen: Frankreichs Deutschland Niederlande Spanien Italien Frankreichs Deutschlands Schweiz Deutschlands Frankreich Gottes Frankreichs Deutschland Frankreich Sachsen Schweiz
514 Xxiii. §. 13. Krieg wider den Kaiser. Religionsfriede.
mit seinen Kriegsleuten gegen den Kaiser zu Felde lag. Da mußte der
Kurfürst eilends nach Hause kehren, dem Kaiser den Sieg an der Donau
überlassen und sich gegen den Verräther wenden. Es gelang ihm im
ersten Anlauf, sein Land wieder einzunehmen. Aber er wußte nicht,
daß der Kaiser, der ihm folgte, schon längst seine kurfürstliche Würde
und den größten Theil seines Landes dem Verräther Moritz zugesagt
hatte. Als ein armer Gefangener, vom Tode bedroht, mußte er nach
der Schlacht bei Mühlberg dem Hofe des siegreichen Kaisers folgen. Da
frohlockte die gestimmte katholische Welt, da frohlockte der Papst. Auch
der Papst? Nein doch, im Gegentheil. Schon ehe der Kaiser sich nach
Sachsen wandte, hatte der Papst die Truppen, mit denen er das kai-
serliche Heer verstärkt halte, abgerufen, hatte das Concilium, welches
allen Unternehmungen des Kaisers zur Grundlage diente, von Trient
nach Bologna versetzt. Denn er fürchtete die durch solche Siege stets
wachsende Macht des Kaisers nicht minder als die Protestanten selber.
Er hätte gewünscht, daß die Protestanten, wenn auch nicht siegen, doch
den Krieg lange Hinhalten, den Kaiser schwächen möchten, damit Karl
nur nicht freie Hände bekäme, um jene Reformen des päpstlichen Hofes
und Systems durch das Concilium zu vollziehen, welche dem Papste
Furcht und Grauen erregten.
§. 13. Krieg wider den Kaiser. Religionsfriede.
Dem Kaiser schien Alles gelingen zu sollen. In ganz Deutsch-
land hatte er keinen Widerstand mehr zu befahren, außer in den nörd-
lichsten Gegenden, an der Weser, der ihm keiner Beachtung werth
schien. An den Reichstagen Geeiferten sich Fürsten und Prälaten, ihm
ihre Unterthänigkeit zu bezeugen. Er setzte durch, was er nur wollte,
und verbarg es keinen Augenblick, daß er die freien deutschen Fürsten
und Städte eben so vollständig sich zu unterwerfen hoffe, als seine
Grande« und Communidades in Spanien. Gegen alle Verträge
war er fortwährend von spanischem Kriegsvolk umgeben, und diese
Spanier behandelten Hoch und Niedere in Deutschland so frech und
übermüthig, mit so trotzigem Hohne, daß ein allgemeiner Haß gegen
sie sich bei den Deutschen festsetzte. Es konnte aber nicht anders sein,
dieser Haß wandte sich allmälig gegen den Kaiser selber. Sämmt-
liche deutsche Fürsten theilten ihn, es war nur eine Stimme bei Pro-
testanten und bei Katholiken über die Gefahr der Knechtschaft, mit der
Deutschland bedroht sei. Selbst Ferdinand, des Kaisers Bruder,
sonst sein ergebenster Freund und Rathgeber, wich jetzt von ihm ab.
Bei den Protestanten aber kamen noch ganz andere Gründe hinzu.
Wie drängte sie der Kaiser mit seinen kirchlichen Anordnungen, mit
seinem Interim, die doch gegen ihr Gewissen gingen. Priesterehe
und Laienkelch, eine leichte Abwandlung der Messe, und eine ziemlich
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Extrahierte Personennamen: Moritz Karl Karl Ferdinand Ferdinand Rathgeber
Extrahierte Ortsnamen: Donau Mühlberg Sachsen Bologna Spanien Deutschland Hohne Deutschland
616 Xxv. §. 9. Deutschlands Elend, Schmach und Knechtschaft.
Das deutsche Reich ward aufgelöst (1806), der Rheinbund machte das
ganze südliche und westliche Deutschland zu Frankreichs Vasallen, Oestreich
hatte Frieden schließen müssen, England war durch die Besetzung Hannovers
tödtlich beleidigt. Niemand stand für Preußen ein, da es sich zum ent-
scheidenden verderblichen Kampfe entschloß. Nur Rußland blieb sein
treuer Waffengefährte; aber es war zu weit entfernt. Ehe seine Heere
heranrücken konnten, war schon ganz Preußen über den Haufen gewor-
fen. Es war kein Krieg; es war ein Anstürmen von der einen Seite
und ein erschrockenes Auseinanderfliehen von der andern Seite. In
weniger als drei Monaten war der Kampf beendet und Napoleon
hielt seinen Einzug, wie in Berlin, so in Warschau und Königsberg.
Alles, worauf Preußen seit Friedrich's Zeiten stolz gewesen war,
sein Heer, seine Festungen, seine Finanzen, sie waren in einem Um-
sehen wie Spreu vor dem Winde zerstoben. Erst unter dem Schutze
der herbeieilenden russischen Armeen, hart an der russischen Grenze
versuchte der König noch einmal das Waffenglück. Die Schlachten
bei Eylau, bei Friedland entschieden gegen ihn; er war aufdem Punkt,
als Flüchtling sein Reich zu verlassen, und nur Rußlands Fürsprache
verschaffte ihm im Frieden zu Tilsit sein halbes Königreich wieder
(1807). Die andere Hälfte, jenseits der Elbe ward mit Hessen
und allen kleinen dazwischen liegenden Ländern zu einem Königreich
Westphalen gemacht und dem heillosen Hieronymus Napoleon
übergeben. Bald kamen auch die sämmtlichen noch übrigen Theile
des westlichen Norddeutschland unter französischen Scepter bis an die
Ostsee, und die französischen Maires, Präfecten und Gouverneurs
schalteten und walteten im größten Theil unseres Vaterlandes mit
der niederträchtigsten Gemeinheit, Geldgier und Uebermuth. Nicht
minder die französischen Marschälle, Generäle, Offiziere und Soldaten
in dem zurückgebliebenen Theil von Preußen. Denn das ganze Land
blieb so lange und länger noch von französischen Truppen besetzt, bis
die unerschwingliche Kriegssteuer herausgepreßt war. Erst Ende De-
cember 1808 verließen die französischen Truppen Berlin und die
Preußen konnten wieder einziehen. Was nur irgend an Ränken und
Kniffen, an Beleidigungen und Verhöhnungen zu erdenken war, das
that Napoleon und alle seine Helfershelfer sicherlich, um Preußen
immer tiefer zu erniedrigen, zu schwächen, und bei nächster Gelegen-
heit vollends zu vernichten. Wie ein Gefangener, Angeschmiedeter
mußte Preußen es mit ansehen, als 1809 sich Oestreich noch ein-
mal gegen Frankreich erhob, und nach kurzem, aber rühmlichem Kampf
wiederum niedergeschmettert, zertheilt und verkleinert wurde. Noch war
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Extrahierte Personennamen: Oestreich Napoleon Napoleon Napoleon Oestreich
Extrahierte Ortsnamen: Deutschlands Deutschland Frankreichs England Berlin Warschau Königsberg Friedland Hessen Norddeutschland Ostsee Berlin Frankreich
Xxv. §. 10. Deutschlands sittliche und politische Wiedergeburt. 621
den, ehe es um uns anders wird. War auch das Ziel, das zu errei-
chen sei, noch völlig unklar, so war doch schon das ein großer Gewinn,
daß man anfing, sich nach etwas Besserm zu sehnen. Und noch ein
anderer Gewinn ging damit Hand in Hand, in den sittlichen Zu-
ständen der deutschen Nation. Wie war man auch da auf der einen
Seite so gar reich und satt gewesen und glaubte nichts zu bedürfen;
und auf der andern Seite bei erkanntem Verderben so gleichgültig, lau
und träge und wollte nichts abändern lassen an den althergebrachten
verkommenen Zuständen. Welch ein Segen nun, daß man einmal
das Brod der Thränen essen mußte, daß die freche Rüuberhand den
Reichthum und die Ueppigkeit hinweggenommen hatte, mit der man
sich so schwer versündigte. Welch ein Segen, daß auch die Trägsten
einmal aufgeweckt wurden aus ihrem Schlendrian, daß die Fürsten und
Regierungen erkannten, hier handle es sich um Leben und Dasein.
Hundert ehemalige kleinere deutsche Herrscher, Grafen und Aebte, Für-
sten und Ritter waren wie mit Einem Schlage zermalmt, über jedem
Haupte hing das Damoklesschwert. Und wie stand es um die Liebe
ihrer Unterthanen? Sie harren sie fast alle verscherzt und durften bei
ihnen auf keinen Eifer zur Erhaltung ihres Thrones und Hauses rech-
nen ■— da mußte Wandel geschasst werden. Das begriss man an kei-
nem Ort so schnell und gründlich wie innerhalb des hohen und erlauch-
ten Fürstenhauses der Hohenzollern. War Preußen am tiefsten
von den Schlägen des Gewalthabers in den Staub gebeugt, so hat es
auch am ehesten erkannt, wo der Schaden liege und wie zu helfen sei.
Was ist durch die großen Staatsmänner Stein und Hardenberg
nicht alles aufgeräumt unter den unsittlichen, verkommenen, lähmenden
Einrichtungen im preußischen Staate. Vielleicht im ersten Eifer zu
viel, so daß eine spätere Zeit Manches hat wieder aufnehmen müssen.
Wie ist der Bauernstand, wie sind die Städte gepflegt und gehoben,
wie trefflich sind die Verwaltungsbehörden eingerichtet, vor allen Din-
gen welch eine Heereskraft ist in den wenigen Jahren, fast unbemerkt
vor den Argusaugen des toddrohenden Verfolgers entwickelt. Es war,
wie wenn hier und da und aller Orten eine Anzahl Pulvertonnen be-
dächtig gefüllt würden — nur ein Signal, ein Funke und allüberall
brechen unter furchtbarem Krachen die Flammen hervor und verschlin-
gen und vernichten Alles, was sich sicher und sorglos in ihrer Nähe
hielt.
§. 10. Deutschlands sittliche und politische Wieder-
geburt.
Und endlich kam die Zeit, die große, die denkwürdige Zeit, da
der Herr das Seufzen der Elenden erhörte und seine Herrlichkeit of-
fenbarte und Rechnung hielt mit dem übermüthigen Werkzeug seiner
Gerechtigkeit und es zu Boden stürzte, zerschlug und zerschmetterte. Na-
poleon's unersättliche Eroberungsgier war zu einer unheilbarenkrank-
heit bei ihm geworden. So lange er noch fremde und unabhängige Für-
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622 Xxv. §. io. Deutschlands sittliche und politische Wiedergeburt.
sten neben sich sah, konnte er seiner bisherigen Eroberungen nicht ftoh
werden. Nicht belehrt durch das Beispiel Spaniens, wo die gereizte,
bis zur Tigerwuth gesteigerte Volkskraft ihm ein Heer nach dem an-
dern vernichtete, und heute scheinbar zu Boden gestreckt, morgen desto
gefährlicher und grimmiger wieder hervorbrach, glaubte er, daß seinem
Feldherrntalent und Glücksstern nichts unmöglich sei. Was war denn
noch auf dem europäischen Festland, das ihn reizen konnte? Denn
auf dem Festlande mußte es sein; Englands Jnselreich blieb ihm
unantastbar. Der schmale Meeresarm zwischen Frankreich und Eng-
land bildete damals eine unübersteigliche eherne Mauer, die aller Wuth
und toddrohendem Verderben des Weltbezwingers spottete. Wie oft
hatte er eine Landung, einen Einbruch in England angekündigt, wie
lange und mühselig Alleö dazu vorbereitet; aber er ist nie damit zu
Stande gekommen. Das Meer war sein Element nicht. An Schiffs-
macht waren ihm die Engländer entschieden überlegen. Sie belager-
ten ihn fast in seinen Häfen, sie vernichteten den ganzen französischen
Seehandel, sie zerstörten ihm seine Flotten, sie nahmen alle französi-
schen Colonieen weg: sie reizten alle seine Feinde unaufhörlich durch
Geldsendungen und Hülfleistungen, in Spanien und Portugal hatten
sie ihre Truppen dem erbitterten Volke zu Hülfe gesandt. Was konnte
Napoleon gegen sie machen? Um ihnen einen gewaltigen Schlag bei-
zubringen, verbot er allen Staaten Europa's den Handel mit Eng-
land, englische Maaren ließ er wegnehmen und verbrennen. Der thö-
richte Mann bedachte nicht, daß er durch solches Verbot seine eignen
Unterlhanen am schwersten traf, zugleich aber einer ungeheuren und
unvermeidlichen Schmuggelei die Thüren öffnete, die am Ende doch
den Engländern Vortheil bringen mußte. Oestreich und Preußen nebst
den übrigen kleineren Staaten hatten sich diesem Machtgebot des Kai-
sers fügen müssen. Oestreich war ohnehin durch den letzten Krieg
(1809) gänzlich vom Meer abgeschnitten und Preußen war der
Willkür des stolzen und ungerechten Ueberwinders völlig preisgege-
den. Aber daß das mächtige und noch unüberwundene Rußland
sich ebenfalls zum Gehorsam gegen solch schmachvolles, den eignen
Handel zerstörendes Decret herbeiließ, mag uns billig Wunder neh-
men. Napoleon hatte sein „Continentalsystem" dem Kaiser von Ruß-
land im Frieden von Memel (1807) aufgedrungen, und Kaiser Alex-
ander hatte es bis dahin für nützlich erachtet, mit dem mächtigen
Eroberer gute Freundschaft zu halten, war auch 1808 zu einer per-
sönlichen Unterredung mit Napoleon in Erfurt zusammengekommen
— die beiden fremden Kaiser mitten in Deutschland gleich als in
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Extrahierte Personennamen: Napoleon Oestreich Oestreich Napoleon Napoleon
Extrahierte Ortsnamen: Deutschlands Spaniens Englands Frankreich England Spanien Portugal Erfurt Deutschland
Xxv. §. 10. Deutschlands sittliche und politische Wiedergeburt. 025
Kräfte, seine Person, sein Leben, sondern sein Letztes und Bestes, sein
Größtes und Schönstes gab Jeder freiwillig und freudig hin, nicht um
desto größere Belohnungen zu erwerben, nicht um den angeborenen Tha-
tendurst zu befriedigen, nicht um die auch sonst gewohnte Lebensweise
nur auf einem andern Schauplatz weiter zu führen, nicht um aus
drängenden äußeren Verhältnissen sich zu retten — nein nicht für sich,
nicht für die Seinigen — für Freiheit und Recht, für König und Va-
terland opferte ein Jeglicher auf, was er hatte oder was er hoffte.
Familienvater ihre feste Stellung, ihren ruhigen Besitz, ihr Geschäft,
ihre Verbindungen, die gewohnten Lebensgenüsse, den Umgang mit
Weib und Kind, Jünglinge ihre Aussichten, ihren eben angetretenen
Beruf, ihr höchstes Erdenglück, ihre bräutliche Liebe. Greise kamen
aus ihrem behaglichen Ruhewinkel, Knaben von ihren Schulbänken
und Spielplätzen. Da stellte sich der Regierungsbeamte neben den
Bauer und Tagelöhner, da reihte sich der gelehrte Professor dem Hand-
werker an; es war nur ein Gefühl, nur ein Gedanke in Allen, und
darin waren sie Alle gleich: hinaus, hinaus, zum Kampf für deutsche
Ehre, deutsche Freiheit, deutsche Sitte, deutsche Zucht. O wie schwol-
len da die Herzen beim Klange der kriegerischen Hörner, höher noch
beim Gesang jener urkräftigen Freiheitslieder eines Arndt, Körner,
Fol len, Schenkendorf. Da wehrte keine Mutter ihrem Sohne,
keine Braut ihrem Geliebten fortzuziehen; sie grämten sich nur, daß
sie die Themen nicht begleiten konnten. Daheim aber, was schwach
und gefesselt zu Hause bleiben mußte, das gab doch Alles, auch das
Letzte hin, den letzten Schmuck, das letzte Pferd, das letzte Kleid, daö
letzte Brod, daß es den ausziehenden Freiwilligen nicht fehle. So
ward ganz Preußen ein Waffenlager, und mehr als das, es ward
eine große, große Betkammer. Wie haben da die Alten und die
Jungen wieder beten gelernt, zu Hause und im Heere, wie war ihr
ganzes Herz dabei und drängte und stürmte das ewige Gottesherz,
daß doch endlich, endlich das Elend sich wenden und Sieg und Se-
gen wiederkehren möge. Aber derherr machte es auch hier wie er eö
immer macht. Nicht dem ersten, gleichsam versuchsweisen Bitten, Ru-
fen und Anklopfen läßt er eö sofort gelingen, sondern erst wo die Sehn-
sucht und das Verlangen zugleich mit der Erkenntniß der eignen Ohn-
macht tief unter sich gewurzelt hat und eine unwiderstehliche Macht
geworden ist, erst da öffnet er die Gnadenthür, und laßt nun erst die
Fluth seiner Segnungen Welle auf Wette Hereinbrechen.
So ging's den Preußen. Nach den ersten leichten Erfolgen gegen die
Franzosen, die nur dazu dienen sollten, die Begeisterung zu nähren, die
v. Rohden, Leitfaden. ^0
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland], T33: [Kind Vater Mutter Frau Mann Jahr Sohn Gott Haus Eltern]]
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Xxv. §. 10. Deutschlands sittliche und politische Wiedergeburt. 627
abgebrochen wurden, als Oe streich sich entschieden auf die Seite der
Verbündeten stellte, und schon zog die große Hauptarmee unter dem
Fürsten Schwarzenberg aus Böhmen über die trennenden Berge
nach Sachsen hinein, um den heiligen Kampf im Verein mit den
Brüdern zum sieghaften Ende zu bringen. Und nun folgten die Sie-
gesnachrichten Schlag auf Schlag, und die dazwischen sich mengenden
Botschaften von einzelnen Verlusten und Niederlagen wurden immer
gleich wieder von neuem Siegesjubel überwogen. Blücher, der
deutsche Heldengreis, machte den Anfang mit seinem großen und
ruhmvollen Sieg an der Katzbach; die Generäle Oftermann und
Kleist von Nollendorf vernichteten die französische Heeresabtheilung
des Vandamme in der Ebene von Culm, wohin das böhmische
Heer sich nach der Schlacht bei Dresden wieder hatte zurückziehen
müssen. Bülow aber, mit der Beterschaar des theuren Vater Jä-
nicke hinter sich, schlug die gegen Berlin heranziehenden Marschälle
Oudinot und Ney erst bei Groß-Beeren, dann beidennewitz
mit der preußischen Landwehr so vollständig, daß dieser ganze Hee-
restheil fast aufgerieben wurde. Das geschah alles in den letzten Ta-
gen des August und Anfangs September. Es waren die Vorübun-
gen zu dem großen Kampf, der noch bevorftand gegen den Schlach-
tenmeister, den Napoleon selber. Der stand noch in Dresden und
versuchte es, während des September bald in Böhmen, bald in Schle-
sien einzudringen, bald rechts, bald links sich freie Bahn zu machen,
aber vergebens. Das Netz wurde fester und fester um ihn herumge-
zogen. Die drei Armeen, die bisher in Böhmen, Schlesien und nörd-
lich an der Elbe vertheilt gewesen waren, zogen jetzt von allen Seiten
heran, um sich bei Leipzig zu vereinigen. Blücher mit seinem schle-
sischen Heere stieß zur Nordarmee, suchte den zaudernden B er nadotte
mit sich fortzureißen, erzwang durch Aork's kühne Waffenthat bei
Wartenberg den Uebergang über die Elbe, und rückte dann von Nor-
den her, gleichwie Schwarzenberg von Süden her in die Ebene
von Leipzig. Auf diesen weitgestreckten Flächen, wo schon so manche
blutige Schlacht geschlagen war, sollte auch der große Entscheidungs-
kampf geschehen, da das in zwei feindliche Hälften zerspaltene Europa
einander gegenüber stand. Der Tag des Gerichts über den Verder-
der war endlich gekommen. Er fühlte seine Schläge schon im eignen
Herzen. Von Verzweiflung zum Trotz, von Hoffnungslosigkeit zum
Uebermuth hin und her schwankend, war er selbst seiner eignen Um-
gebung fürchterlich geworden. Nur mit finsterm Widerwillen oder
bangem Zweifel gehorchten ihm noch seine Generäle ; im ganzen Heere
40*
TM Hauptwörter (50): [T28: [Schlacht Heer Feind Mann Armee Napoleon Franzose General Truppe Preußen]]
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Extrahierte Personennamen: Schwarzenberg Bülow August Napoleon Schwarzenberg
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632 Xxv. §. 10. Deutschlands sittliche und politische Wiedergeburt.
zu siegen oder mit Ehren unterzugehen. Um die Kraft und Tiefe dieser
Selbstverleugnung völlig zu verstehen, muß man sich erzählen lassen
von diesen tapferen, treuen Burschen in der Landmehr oder unter den
Freiwilligen, wie sie im Felde nur eine große engverbundene Familie
bildeten und die Hauptleute die Väter ihrer Untergebenen waren, wie
sie, weit entfernt von tollköpfiger Schwärmerei und überbrausendem
Jugendmuth, vielmehr in ernster Sammlung, todesmuthig aber still er-
geben, zur Schlacht begeistert, aber in pünktlichster Ordnung und Un-
terwerfung unter die Befehle der Oberen fest zusammenhielten. Wahr-
lich es wollte etwas sagen, unter den furchtbaren täglichen Anstren-
gungen, bei immerwährendem Mangel an Nahrung und Kleidung,
unter Regenströmen oder in grinuner Kälte mit dem Feind zu schlagen,
oder die Winternächte unbedeckt und obdachlos auf kalter, fremder Erde
durchzuwachen. Und dennoch kein Murren, keine Unzufriedenheit, ge-
schweige denn Saumseligkeit und Ausreißerei — das ganze Heer stets
heiter und zufrieden, Alle ein Herz und eine Seele, die Zeltcameraden
wie Brüder, die Officiere wie väterliche Freunde, die Prinzen des kö-
niglichen Hauses freudig jede Anstrengung, jedes Ungemach mit ihrem
Heere theilend. Da war kein wildes Geschrei, kein rohes Lärmen und
Singen abgeschmackter und schmutziger Lieder, da war keine Unzucht
und keine Berauschung unter der edlen Freiwilligenschaar, sondern ein
Geist der Zucht und der Mäßigung ging durch das ganze Heer, und
— das war das Höchste — ein Geist des Gebetes, der frommen Hin-
gebung und des Vertrauens auf den lebendigen Gott. O welche Ge-
bete sind aus den preußischen Lagern emporgestiegen, nicht etwa für die
eigne Rettung, sondern für die Rettung des Vaterlandes, für die Frei-
heit und Ehre des deutschen Heerdes, für die Angehörigen in der
Ferne, für den Sieg des Heeres, für den Triumph der gerechten Sache.
Wohl erschollen Sang und Lieder auch unter dieser frommen Streiter-
schaar, aber es waren deutsche Vaterlands- und Freiheitslieder, die das
Herz erquicken und die Seele erheben und zu großen Entschlüssen und
Thaten Hinreißen. So ging man getrost dem Schlachtendonner ent-
gegen und der letzte Seufzer des mit hervorströmenden Blutbächen
entrinnenden Lebens war ein Aufschrei zum Gott der Heerschaaren,
ein Gruß an die Lieben, ein Segenswunsch für das geliebte Vaterland.
Es ist wahr, auch in den übrigen Theilen Deutschlands, auch im
Westen und Süden, hat sich etwas von dieser Begeisterung geregt, inson-
derheit als die Leipziger Schlacht geschlagen und Deutschlands Befreiung
schon entschieden war. Wir wollen uns dieser sittlichen Erhebung
freuen, wo irgend sie sich gezeigt hat, und dankbar anerkennen, daß die
ehemaligen Rhcinbundtruppen in Frankreich tapfer und freudig gegen
Napoleon gefochten, nachdem sie vorher in Spanien, Rußland und
auch in Deutschland gezwungen und ungern für ihn gekämpft. Allein
hier treffen wir schon auf einen Punkt, der wohl geeignet ist, unsere
Freude etwas zu trüben. Bayern, der erste süddeutsche Staat, der
Oestreichs Beispiel folgte und sich noch vor der Schlacht bei Leipzig
von Napoleon lossagte, hatte den Verbündeten seine Mitwirkung
nur unter der Bedingung zugesagt, daß die von Napoleon verlie-
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Extrahierte Personennamen: Napoleon Napoleon Napoleon
Extrahierte Ortsnamen: Deutschlands Deutschlands Deutschlands Frankreich Spanien Deutschland
Xxv. §. 11. Entwicklung neuer Gegensätze. 637
scharfe und tiefgreifende Gegensätze in den Gemüthern, die bisher
noch nicht überwunden sind und schwerlich noch je wieder überwun-
den werden. Zwar jene erste Unzufriedenheit der deutschen Jugend,
namentlich der studirenden Jünglinge und ihrer Lehrer, die selbst in
den Freiheitskämpfen mitgefochten und jetzt statt eines einigen großen
und mächtigen Deutschlands in mittelalterlicher Herrlichkeit, wie sie es
gehofft und erträumt hatten, nur einen schwächlichen Staatenbund ent-
stehen sahen — die ist nachher bald und mit großer Schärfe unter-
drückt, und leider hat man dabei das Kind mit dem Bade ausgeschüt-
tet. Aber eine andere politische Unzufriedenheit und steigender Gegen-
satz gegen die Maßregeln der Regierung ließ sich nicht so schnell un-
terdrücken trotz aller von Jahr zu Jahr verschärften Unterdrückungs-
versuche. Das waren die Forderungen der sogenannten Liberalen, d. h.
der Leute, welche auch nach der Franzosenverjagung doch innerlichst
von französischen Ideen und Anschauungen geknechtet blieben und sich
keine andere Volksbeglückung denken konnten, als durch Verfassungen
nach französischem Muster. In Deutschland hatten von Alters her
die Fürsten mit den Ständen regiert, und so war denn auch auf
dem Wiener Congreß 1814 allen deutschen Staaten die Wiederher-
stellung der alten ständischen Verfassung versprochen. Das mochte
nun wohl seine Schwierigkeit haben, denn durch Willkürherrschaft
der meisten deutschen Fürsten nach Ludwig's X!V. Muster, dann
durch die Revolution und Napoleon's Alles verwirrendes Dazwi-
schenfahren waren die alten Stände in den meisten Landschaften so
gut wie verschwunden, wußten wenigstens nichts mehr von ihren alten
Rechten und Pflichten, und das Wohl des Landes schien in ihren
Händen nicht zu§t besten aufgehoben. Man machte hie und da Ver-
suche mit Wiederherstellung oder neuer Einführung der Landstände,
aber sie geriethen übel und gaben den Liberalen Vorwand und Anlaß
genug, um die französischen Einrichtungen als allein segenbringend
für daö Volk zu preisen. Und worin bestand denn eigentlich die be-
glückende französische Verfassung? Es war nichts Anderes, als ein
Abklatsch jener unglücklichen „Charte" von 1789, die der auf's Aeu-
ßerfte gedrängte Ludwig Xvi. damals den Ständen oder der Na-
tionalversammlung vorlegte, um durch freiwilliges Nachgeben ihre un-
sinnig übertriebenen Forderungen wo möglich zu dämpfen und abzu-
kaufen. Darin waren nämlich statt der Stände zwei Kammern von
unterschiedlos erwählten Abgeordneten bewilligt, die jährlich vom Kö-
nig einberufen werden mußten, nicht bloß um jedes Jahr die Befteu-
rung des Landes neu zu bestimmen, sondern auch um alle zu erlassen-
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Extrahierte Personennamen: Ludwig_Xvi Ludwig
Extrahierte Ortsnamen: Deutschlands Deutschland Ludwig's