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2. Von der nach außen gerichteten, in das große russische Tiefland allmählich übergehenden Abdachung der Karpaten gehören die Länder Galizien und die viel kleinere Bukowina zum Kaiserreich Österreich. Sie haben ähnliches Klima wie die angrenzenden Gegenden Rußlands (kontinentales Kl. mit heißen Sommern und strengen Wintern) und bieten wie diese für Ackerbau und Viehzucht günstige Bedingungen. Seit alter Zeit versorgt Galizien die Nachbarländer mit Salz. das namentlich das Steinsalzbergwerk Wieliczka [wjelitfchfa] liefert; in der Gegenwart spielt auch die Ausbeutung der Steinkohlenlager (aus dem Tarno-witzer Platean) und die Gewinnung von Petroleum eine wichtige Rolle. Das Gebiet ist Durchgaugslaud für den Verkehr Polens, Mittel- und Norddeutfchlauds nach dem Schwarzen Meere zu. Die Hauptbahn folgt nicht dem vielgewundenen Tal des Dnjestr, sondern führt über Lemberg, von dem das früher bebeuteubere Krakau überflügelt worben ist.
In Galizien wohnen Slawen nnb zwar im Weichselgebiet Polen, im Dnjestr-gebiet Ruthenert, das sinb Klemruffen (S. 52); in bert Städten bilben die Jnben einen starken Bruchteil der Einwohnerzahl. Die Bukowina (= Buchen* laub), beren Hauptstabt Czernowitz [tfchernowi^] Sitz einer bentschen Universität ist, hat stark gemischte Bevölkerung.
§16. Übersichtliche Zusammenstellung der politischen und Matiouatitäts-verhäl'tnisse des Deutschen Weiches und Hsterreich-Mngarns.
A. Das Deutsche Reich.
540 000 qkm; 65 Mill. Einwohner.
Das Deutsche Reich ist ein Buubesstaat, zu dem 25 Staaten und 1 Reichs* lanb gehören.
Die 26 Sauber nach dem Range nach anfsteigenber Zahlenfolge
An der Spitze des Reiches steht der jeweilige König von Preußeu als „Deutscher Kaiser", ihm zur Seite als gesetzgebeube Gewalten Bnnbesrat und Reichstag. Zum Buubesrat seubeu die Regierungen der einzelnen Staaten Vertreter; der Reichstag geht aus allgemeinen Wahlen hervor. Wahlberechtigt und wählbar ist jeber Deutsche, der das 25. Lebensjahr vollenbet hat. Der höchste Beamte des Reiches ist der Reichskanzler. Die Reichsbehörben befinben sich in Berlin, mit Ausnahme des höchsten Gerichtshofes, des Reichsgerichts, das seinen Sitz in Leipzig hat.
Außer von Deutschen wirb das Deutsche Reich bewohnt von Polen, etwa 32/3 Mill. in Schlesien, Posen, West- und Ostpreußen, Franzosen im Reichslanbe, Dänen in Norbschleswig, Litauern in Ostpreußen, Weubeu iu der Lausitz.
georbitet:
4 Königreiche,
6 Großherzogtümer
5 Herzogtümer,
7 Fürstentümer,
1 Reichslanb,
3 freie Städte,
4 Königreiche,
5 Herzogtümer,
georbnet:
3 freie Stabte, 1 Reichslanb,
6 Großherzogtümer,
7 Fürstentümer.
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Extrahierte Personennamen: Norbgrenze Pola
Extrahierte Ortsnamen: Tarent Syrakus Italien Eritrea Europas Ungarn Donau Italiens Europa Asien Istrien Fiume
— 34 —
Deutschlands, hat dadurch Bedeutung erlangt, daß es für Berlin der nächste Seehafen ist. Der Berlin-Stettiner Schiffahrtsverkehr benutzt den an Eberswalde vorbeiführenden Finowkanal. Große Seeschiffe gehen nicht durch das seichte pommersche Haff bis Stettin hinauf, sondern löschen ihre Ladung in Swinemünde (anf welcher Insel gelegen?). In welcher preußischen Provinz liegt die Odermündung?
2. Die Weichsel wird durch einen Ausläufer des preußischen Landrückens, durch das Kulmer Land, unterhalb der Festung Thorn nahe an das Odergebiet gedrängt, zu dem der Bromberger Kanal führt. Welche Nebenflüsse verbindet dieser? Unterhalb Graudenz hat die Weichsel durch Absetzung von Schlamm eine fruchtbare Landschaft, das Werder, geschaffen, das wiederholt von verheerenden Überschwemmungen heimgesucht worden ist, trotzdem die Delta-Arme des Stromes von starken Dämmen eingefaßt find. Die Bahn Berlin—st. Petersburg überschreitet die Weichselarme, von denen die Danziger Weichsel der wasserreichere ist, bei Dirschan und Marien bürg; letztere Stadt war im Mittelalter die Residenz der Hochmeister des Deutfchherreuordeus, der im Preußenland deutsche Herrschaft und deutsche Sitte eingeführt hat. Der Seehafen für die von der Weichsel durchflossene preußische Provinz Westpreußen ist Danzig, nächst Stettin der bedeutendste deutsche Handelsplatz an der Ostsee; zugleich gelangt über diese Stadt ein großer Teil der Erzeugnisse Polens zur Ausfuhr. Das in der Nähe der Nogat gelegene Elbing hat unbedeutenden Seeverkehr. Die Schiffbarkeit erleidet auf der Oder, Weichsel (und den ostpreußischen Flüssen) im Winter durch Eisbildung längere Unterbrechung als auf Rheiu, Weser und Elbe, da nach 0 zu die Winter länger und strenger werden.
In der Provinz Westpreußen wohnen außer Deutschen auch Polen, namentlich auf der südlichen Abdachung des pommerschen Landrückens (Tuchler Heide).
3. Von den zahlreichen Seen des preußischen Landrückens gehört der größte, der Spirdingsee, auch zum Weichselgebiet, da sein Abfluß in den durch polnisches Gebiet fließenden Narew (Nebenfluß des Bug) mündet. Ostpreußen hat unter allen deutschen Landschaften den kürzesten Sommer; die von ausgedehnten Waldungen bedeckten Landschaften um den Spirding- und den Mauerfee gehören zu den rauhesten Gegenden Deutschlands.
Ertragsreicher als die hüglige preußische Seenplatte ist die flache Niedernng. die sich bis zur Ostsee ausdehnt und von Passarge, Pregel und Memel(Njemen^)) durchflossen wird. In der Gegend von Gumbinnen züchtet man vortreffliche Pferde (Gestüt Trakehueu). Der wichtigste Handelsplatz der Provinz Ostpreußen ist das an der Grenze von Meer- und Flußschiffahrt gelegene, starkbefestigte Königsberg (an welchem Fluß?).
Die Halbinsel Samland enthält eine an Bernstein reiche Schicht, die ins Meer ausläuft; der Bernstein wird deshalb teils bergmännisch gewonnen, teils an der Küste gesammelt, teils durch Taucher oder mit Schleppnetzen vom Grunde des Meeres geholt.
Tilsit und Memel, die nördlichste Stadt Deutschlands, werden durch die Nähe der russischen Greuze am Ausblühen gehindert. Im Gebiete der Memel litauische Dörfer.
i) @o nennen die Russen den Strom; daö Wort bedeutet: Fluß der Deutschen.
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48 Wirtschaftsgeographie des Deutschen Reiches
Über all der glänzenden Entwicklung des deutschen Wirtschaftslebens ist aber
nicht zu vergessen, daß das deutsche Volk als größter Bestandteil der
germanischen Rasse in der Welt auch eine deutsche Kulturaufgabe zu
erfüllen hat. Die Pflege deutscher Art und deutschen Wesens, deutscher Sprache
und deutschen Selbstbewußtseins soll nicht Halt machen an den Grenzen des engeren
Vaterlandes; hat doch ketn Volk der Menschheit größere Kulturgüter geschenkt als
das deutsche. Darum muß es das Bestreben aller Deutschen sein, durch das Deutsch-
tum allerorten Einfluß auf die künftige Entwicklung der Welt zu üben und dem
deutschen Volke jene Stellung zu sichern, auf die es vermöge der ihm innewohnenden
Kräfte und Fähigkeiten Anspruch zu erheben berechtigt ist.
Ein Volk von so großer Zahl und so hochentwickelter Kultur wie das
deutsche, hat das Recht und die Pflicht, seine Trieb- und Lebenskraft auch
auf außereuropäischem Boden zu betätigen. „Ein Volk, das darauf verzichtet,
den eigenen Geist und die eigene Art zur Geltung zu bringen in dem viel-
farbigen Bilde menschlicher Kultur, versäumt seine Pflicht nicht nur gegen sich
selbst sondern auch gegen die Menschheit." (Dietrich Schäfer.)
Die einzelnen deutschen Landschaften.
1. Das Norddeutsche Tiefland.
Gliederung. Die Bodenbeschaffenheit des Tieflandes ist sehr verschieden. Es
lassen sich drei Zonen unterscheiden:
/f. d i e südliche, fast ebene Zone des Lehms, das Land des
Zuckerrüben- und Getreidebaues.
d i e mittlere, hügelige Zone der (jüngeren) Moränen-
l a n d s ch a f t, das Gebiet der großen Flußtäler und Seen, der Moränen,
der Moore und Heiden (f. S. 50) und endlich
ö i e Küstenzone, ein Anschwemmungsgebiet der Flüsse und des
Meeres, der M a r s ch e u s a u m, ein Gebiet der Rinderzucht, des Ge-
treide- und Gemüsebaues.
a) Die südliche Lößzone. Dieses Fruchtgebiet umfaßt das nördliche Sachsen,
Niederschlesien, Anhalt, die Gegend um den Harz bis nach Braunschweig und Hau-
nover. Am Rhein, an der Saale und Mulde, dann an der Oder dringt dieses ge-
segnete Frnchiland noch tief in die deutsche Mittelgebirgsschwelle ein und bildet die
kölnische, westfälische, Leipziger und schlesische Bucht.
Da sich hier zu dem Bodenreichtum der Landschaft noch eine äußerst gün-
stige Verkehrslaae gesellt, so sind in diesen Buchten mächtige Handels-
Plätze entstanden, im W. die Königin der Rheinlande, Köln, im Herzen Deutsch-
lands Leipzig, im O. Breslau. Eine ähnliche günstige Randlage besitzen
ferner die Städte Aachen, Münster, Osnabrück, Minden, H a n -
nover, Braun schweig, Magdeburg, Halle, Dresden und
Görlitz. ,
b) Tie mittlere Zone der Seen, der Heiden und Moore. Stellenweise
wechselt in diesem Teile der Niederung mit dem dürren Sand t o n r e i ch e r
TM Hauptwörter (50): [T4: [Reich Zeit Staat Volk Deutschland Jahrhundert Land Macht deutsch Geschichte], T13: [Stadt Elbe Hamburg Berlin Provinz Bremen Land Lübeck Hannover Weser], T38: [Boden Wald Land Wiese Wasser Berg Fluß Feld See Dorf]]
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68
Gesamtüberblick über die deutschen Kolonien.
Handel. Der Gesamthandelsverkehr der deutschen Kolonien stellt im
Außenhandel Deutschlands mit seinen 21 Milliarden Mark freilich noch eine sehr
1896: Gesamthandel 32600000 M.
Einfuhr: 21 000 000 M.
«Ml Ausfuhr: 11500 000 M.
1912: Gesamthandel 263559 000 M. Einfuhr: 142 679 000 M.
Ausfuhr: 120880000 M.
Handel.
bescheidene Summe dar; er bezifferte sich 1912 (ohne Kiautschou) auf 263 Mill. Mark,
mit Kiautschou (über 220 Mill. Mark) auf rd. y2 Milliarde Mark. Im Vergleich zu
den ersten Anfängen dieses Handels bedeutet dieser Betrag immerhin einen ansehn-
lichen Fortschritt. Das Deutsche Reich ist an dem Handel der Kolonien (ohne Kiautschou)
mit rd. 2/s beteiligt. Die Steigerung des Handels zwischen dem Mutterland und
den Kolonien zeigt sich auch im Anwachsen des Schiffsverkehrs (f. S. 67).
Geldanlage. Tie Gelder, die in den Kolonien von Einzelnen oder Gesell-
schaften angelegt sind, betragen rd. % Milliarde Mark. Leider ist hieran auslän-
disches, besonders englisches Geld ziemlich stark (Im Mill. Mark) beteiligt.
1896: 62 000 000 M.
1912: 505 000 000 M.
Geldanlagen der Erwerbsgesellschaften.
Die Gesamtentwicklung unserer afrikanischen Kolonien bewegt sich in stark auf- .
steigender Linie.
Jede Kolonie ist ein Ausstrahlungspunkt für deutsche Kultur und
deutsches Ansehen. Indem wir jungfräuliches Land urbar machen und niedrig
stehende Völker zu höherer Kultur erziehen, betätigen wir uns erst als Weltvolk
und helfen den Ruhm von deutscher Tüchtigkeit über alle Erdteile verbreiten.
Damit wächst unser Einfluß auf die Völkerschicksale, auf die Weltpolitik; denn
nur dem Tüchtigen gehört die Welt. Die Anteilnahme an der Wirtschaft-
lichen Weltherrschaft muß Deutschlands Ziel sein. Wie der Brite ruft:
Rule Britannia, rule the waves; mit dem gleichen Stolze darf das Weltvolk
der Deutschen ausrufen: „Unser Feld die Welt!"
TM Hauptwörter (50): [T4: [Reich Zeit Staat Volk Deutschland Jahrhundert Land Macht deutsch Geschichte], T29: [Handel Industrie Land Ackerbau Fabrik Stadt Deutschland Mill Viehzucht Gewerbe], T39: [Jahr Million Geld Mark Arbeiter Arbeit Zeit Summe Staat Thaler]]
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58
Prosahest Vii.
Anschluß an die orthodoxeste Formulierung der reformierten Lehre war
mehr philosophischer als theologischer Natur, nicht die Wirkung des
Religionsunterrichtes, sondern die Frucht des Grübelns und der Lektüre
von Büchern, wie Bossnets „Wandlungen der reformierten Kirche". Dann
hatte der Prinz seinen Widerruf leisten müssen. Seitdem wußte er aus
eigener Erfahrung und vergaß es nicht, was Gewissenszwang heißt.
Dort in Küstrin sollte er nach des Königs Gebot des Sonntags
dreimal die Kirche besuchen. Außerdem schickte ihm der Vater die
Predigten, die er selbst gehört hatte, in Niederschriften zur Lektüre.
Die gezwungenen Andachtsübungen riefen die entgegengesetzte Wirkung
hervor. Bald nach der Rückkehr aus Küstrin ließ sich der Kronprinz
ein unvorsichtiges Wort entfahren, das bei dem Vater vieles wieder
hätte verderben können. Er äußerte im Gespräch mit einem Berliner
Geistlichen, man dürfe den Predigern nicht einen blinden Glauben
schenken, sondern jeder müsse seines eigenen Glaubens leben. Grumbkow,
der die Strenggläubigkeit stark betonte, machte ihn bei diesem Anlaß
auf seine fortdauernd sehr prekäre Lage aufmerksam, und Friedrich
antwortete (27. April 1732): „Ich werde Ihren Rat befolgen und es
mir gesagt sein lassen, daß es ziemlich tollkühn von mir war, über
Religion zu sprechen."
Wenn er nun jedes Wort genau abwägen mußte und wenn das
wenige, was er äußerte, meist auf einen bestimmten Zweck berechnet
war, so wird jede dieser Äußerungen, ehe man Schlüsse daraus ziehen
mag, der genauesten Prüfung bedürfen. Selbst in den anscheinend
vertraulichsten Briefen an Grumbkow glaubte der durch seine traurigen
Erfahrungen Gewitzigte mitunter Versteck spielen zu müssen. Von
heiligen Dingen spricht er bisweilen, gleichsam plötzlich, mit einer
Salbung, die Grumbkow kaum als ans dem Herzen kommend betrachtet
haben wird.
Das ist gewiß, daß sich Friedrich den Katholischen gegenüber sehr
lebhaft als Protestant und den Lutheranern gegenüber als Reformierter
fühlte. Wenn er in Küstrin in der Verzweiflung daran gedacht hat,
durch den Verzicht auf die Erbfolge und die Verheiratung mit einer
Erzherzogin sich die Freiheit zu erkaufen, so machte er die Beibehaltung
seines Glaubens unter allen Umstünden zur Bedingung. So wenig
wie von dem römischen wollte er -von einem lutherischen Papsttum
etwas wissen, uiib seine lutherische Braut hätte er gern zur reformierten
Lehre übertreten sehen. Aber mit den armen flüchtenden Lutheranern
aus dem Salzburgischen möchte er 1732 Hab und Gut bis aufs Hemd
teilen. Als er zwei Jahre darauf nach Heidelberg kommt, blutet ihm das
Herz, daß er die Stadt, „die vordem ganz zu unserer Religion gehörte",
mit Jesuitenseminaren und katholischen Klöstern übersät sieht; er hätte
nicht übel Lust, diese Verräter, welche Unschuldige verfolgen, gründlich
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Extrahierte Personennamen: Bossnets Grumbkow Friedrich Friedrich Grumbkow Friedrich Friedrich
72
Prosaheft Vii.
Das epische Gedicht erzählt uns daher keine vereinzelte Tat, sondern die
Bewegung, die Züge und Kämpfe nationaler Massen; in ihm herrscht
nicht eine einzelne Empfindung oder Leidenschaft oder eine begrenzte
Herzens- und Lebenssituation, wie im lyrischen Gedicht oder im Drama,
sondern es umschließt die volle Totalität einer Nation und einer Zeit.
Dadurch nun wird auch das Epos zum Hauptbuche, zur allgemeinen
Quelle der Erziehung und Bildung oder, wie Hegel treffend sagt, zur
Bibel des Volkes. So blieb Homer für immer der heilige Lehrer der
Griechen, dessen Aussprüche wie Entscheidungen eines Gottes galten,
auf den sich jeder berief, der das Fundament wurde, ans welches sich
die gesamte poetische, religiöse und sittliche Bildung der Griechen auf-
baute. Homer schuf nach Herodot den Griechen ihre Götter, die
Tragiker entnahmen ihm die Fabel ihrer Stücke, die Philosophen maßen
ihre Ansichten an ihm, Grenzstreitigkeiten wurden nach seinen Aus-
sprüchen geschlichtet; Lykurg legte ihn der altdorischen Ordnung, die er
befestigte, zugrunde; in Athen war Homer das Erziehungsbuch der
Jugend. Eine ähnliche epische Bibel hat fast jede bedeutende Nation
in einem gewissen Stadium ihrer Geschichte hervorgebracht; die Inder
haben ihre großen Epen wie die Griechen ihren Homer; so erzeugten
die Italiener gleichfalls am Anfangsgrunde ihres nationalen Werdens
ihren Dante, für dessen Erklärung sogar eigene Lehrstühle an den Uni-
versitäten errichtet wurden; so die Portugiesen ihren Camoens, der eben-
falls in einer Periode des Aufschwungs der portugiesischen Volksmacht
lebte und diesen Aufschwung, nämlich die Entdeckungsfahrten nach Indien,
in seine Lusiaden aufnahm; und nicht anders wurde im deutschen Mittel-
alter Wolfram von Eschenbachs Parzival der treue und vollständige
Spiegel des damals herrschenden mystischen Rittertums und wurde da-
her auch das am allgemeinsten verbreitete Buch, Genuß und Vorbildung
für alle. Manchen Bibeln fehlt die epische Form, z. B. dem Alten
Testament, wo auch niedergelegt ist, was das jüdische Volk an Sage
und Geschichte, an Poesie und Nachdenken besaß, obgleich im Alten
Testament das Religiöse zu sehr vorherrscht, als daß wir es für ein
wirkliches Epos erklären könnten. Ebenso verhält es sich mit den
religiösen Grundbüchern der Perser und Araber, dem Zendavesta und dem
Koran. Eben aber weil das Epos auf diese Weise den ganzen geistigen
Schatz eines Volkes in sich schließt, rührt es in seiner reinsten Gestalt
auch uicht von einem einzelnen Dichter her, sondern ist aus Rhapsodien,
Volksgesängen, epischen Bruchstücken aller Art zusammengesiossen. Wie
Homer sind auch die Nibelungen und Gudrun, auch das finnische Epos
auf diese Weise entstanden.
Hegel widersetzt sich zwar mit Nachdruck der Wölfischen Hypo-
these, wonach die Ilias und Odyssee aus gesonderten Teilen erst später
zusammengesetzt worden seien, aber er tut dies nicht aus Gründen
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T1: [Geschichte Dichter Zeit Buch Werk Jahr Gedicht Nr. Bild Geographie]]
TM Hauptwörter (100): [T35: [Dichter Zeit Gedicht Lied Dichtung Schiller Poesie Werk Goethe Sprache], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T43: [Zeit Volk Jahrhundert Geschichte Reich Staat Leben Kultur Deutschland Mittelalter], T25: [Wissenschaft Kunst Zeit Sprache Geschichte Schrift Buch Werk Jahrhundert Erfindung], T45: [Kind Lehrer Wort Schüler Buch Unterricht Schule Frage Buchstabe Zeit]]
TM Hauptwörter (200): [T136: [Leben Mensch Geist Natur Zeit Volk Welt Kunst Sinn Wesen], T172: [Dichter Zeit Gedicht Schiller Werk Goethe Maler Dichtung Lied Hans], T173: [Sprache Wort Name Schrift Zeit Buch Form Kunst Art Werk], T74: [Zeit Wissenschaft Philosophie Geschichte Philosoph Werk Lehrer Schrift Sokrat Schüler], T127: [Volk Sprache Land Zeit Sitte Kultur Bildung Geschichte Bewohner Stamm]]
188
Prosaheft Vil
Drang", Guelfo in den „Zwillingen" wollen gleichfalls Einsiedler
werden; Erwin in Goethes Singspiel nimmt wenigstens die Maske des
Einsiedlers vor. Der Einsiedler gehört zum Apparat des Ritterdramas.
In Goethes „Satyros" wird er verherrlicht, Klinger deckt im „Faust"
auch in einer solchen Menschenseele die verborgene Schlechtigkeit ans.
Das Leben als Land- oder Gartenbebauer, als Schäfer gilt für
ein Ideal. Davon schwärmen La Feu und Katharine in „Sturm und
Drang", Strephon und Seraphine in Lenzens „Die Freunde machen
den Philosophen." Die letzte Szene in Klingers „Leidendem Weib"
zeigt uns den Gesandten auf einem Acker grabend, zwei Kinder in der
Furche spielend, Franz einen Baum pfropfend; es ist ihnen wohl; eine
Last ist ihnen abgenommen worden, da man ihnen Vermögen und Ehren-
stellen nahm; sie sind glücklich, sich leben zu dürfen. Julius von Tarent
verlangt ein Feld für sein Fürstentum und einen rauschenden Bach für
sein jauchzendes Volk! Einen Psiug für sich und einen Ball für
seine Kinder; Blanea schwärmt: „Ha — jetzt sind wir da — in dem
entferntesten Winkel der Erde! — Diese Hütte ist klein; Raum genug
zu einer Umarmung. — Dies Feldchen ist enge — Raun: genug für
Küchenkräuter und zwei Gräber; und dann, Julius, die Ewigkeit; —
Raum genug für die Liebe!" und der Dichter des Stückes malt sich in
einem Briefe ein ähnliches „poetisches Schüferleben" mit einer Freundin
und deren Manne aus. Der unglückliche Sprickmann schreibt: „Alles
ist verdreht und nirgends Genuß für den ganzen Menschen, wenn nicht
in Amerika Friede mit Freiheit kömmt — freier Bürger auf eigenem
Acker, das ist das Einzige! Da ist Beschäftigung für Körper, für Ge-
fühl und Verstand zugleich — alles andere, Wissenschaft und Ehre und,
was wir sonst noch für schöne Raritäten haben, ist alles einseitig und
barer Quark.
Hier fließt schon anderes mit ein. Kehrte man zur Natur zurück,
so mußte mit dem Unterschied der Stände, mit den Vorschriften der
Mode und Konvenienz, mit der Bildung im engeren Sinne und weiter-
hin auch mit der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung gebrochen
werden.
Der Mensch wurde in echter angeborener Schönheit und Würde
wieder hergestellt, die durch den Unterschied der Stünde, durch die Kon-
venienz und Mode verdunkelt worden waren. Der Mensch wurde
dem Bürger, dem Freunde, dem Christen, dem Untertanen, dem Fürsten
gegenübergestellt. Nicht Mensch sein zu dürfen scheint Bruder Martin
in Goethes Götz das Beschwerlichste; König Philipp gibt dem Marquis
Posa als höchsten Beweis seiner Gunst die Erlaubnis, Mensch zu sein.
Die Würde der Menschheit wurde feierlich verkündet, der Mensch als
ein freies Individuum von jedem Zwang und Druck befreit.
Gegen alles Konventionelle eröffneten die Stürmer und Dränger
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland]]
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Extrahierte Personennamen: Erwin Goethes Goethes Klinger Katharine Franz Franz Julius_von_Tarent Julius Martin
in_Goethes_Götz Philipp Philipp Marquis
Posa
Extrahierte Ortsnamen: La_Feu „Sturm Lenzens Klingers_„Leidendem_Weib" Amerika
114
Prosaheft Vii.
sehen, so werden wir durch den Dichter selbst auf die damals üppig
entwickelte Literatur unseres westlichen Nachbarlandes, aus Frankreich,
geführt. Frankreich, in dem das Rittertum zuerst sich entfaltet hatte,
entwickelte auch am frühesten die Blüte mittelalterlicher Kunstdichtung.
Durch den häufigen Verkehr der Nationen, der eine Folge der Kreuzzüge
war, wurde diese Literatur auch in Deutschland bekannt und verbreitet.
Es ist ein alter Zug des germanischen Wesens, dem fremdländischen
nur zu leicht sich anzuschließen. Die germanischen Völker haben, als
sie romanisches Gebiet einnahmen, sehr rasch ihre eigene Sprache auf-
gegeben und die der Besiegten angenommen. Freilich war es zunächst
nur das Abstreifeu eines Gewandes, das Anlegen eines fremden Kleides,
aber doch im Laufe der Jahrhunderte nicht ohne Einfluß auf die
Denkart.
Diese Nachgiebigkeit des deutschen Geistes, und nicht allein dem
französischen gegenüber, zeigt auch die Entwickelung unserer Literatur.
Es hat wenig Epochen gegeben, in denen der deutsche Genius ganz
sich selbst folgend sich entfaltet hat. Bis ins zwölfte Jahrhundert hat die
deutsche Poesie, wenn wir von der durch das Christentum vermittelten
antiken Welt absehen, sich frei von ausländischem Einflüsse gehalten:
die nationale Sage, auf alten Traditionen beruhend und durch neue
Stoffe wechselnd und sich erweiternd, bildet den Grundstock der, wenn
auch nicht geschriebenen, so doch gesungenen Poesie.
Die französische Literatur unterbrach und durchbrach diese gesunde
und natürliche Entwickelung; nicht zum Vorteil unserer Dichtung, denn
weder waren die Dichterstoffe, die aus Frankreich eindrangen, großartig
und bedeutend, noch war ihre dichterische Gestaltung von schöpferischer
und belebender Wirkung.
Hier aber zeigt sich recht neben der Schattenseite, die in der leichten
Aneignung des Fremden vorliegt, die Glanzseite des deutschen Geistes,
seine ungleich tiefere, wir möchten sagen philosophische Anlage, die den
rohen Stoff zum Gefäße tiefer und bedeutender Gedanken macht. Den
fremden Dichtungen verstanden, wie Wilhelm Grimm es schön ausdrückt,
unsere Dichter die deutsche Seele einzuhauchen, sie verstanden sie umzu-
bilden und zu vergeistigen, die, Charaktere zu vertiefen, selbst die Platt-
heiten, so gut es ging, zu heben und zu beseitigen.
Auch die Franzosen sind nicht die Erfinder jener Stoffe, die aus
Frankreich nach Deutschland verpflanzt wurden: die eigentliche Heimat
jener Erzählungen ist die Bretagne, sie gehören dem keltischen Volks-
stamme an, dessen Reste auf den britischen Inseln fortlebten und von
denen ein Teil nach der Bretagne zurückgewandert war. Es sind
keltische Märchen und Sagen, die aus der Bretagne nach Frankreich
kamen und hier von französischen Dichtern die Gestaltung erhielten, in
welcher sie Deutschland überkam.
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T4: [Reich Zeit Staat Volk Deutschland Jahrhundert Land Macht deutsch Geschichte]]
TM Hauptwörter (100): [T43: [Zeit Volk Jahrhundert Geschichte Reich Staat Leben Kultur Deutschland Mittelalter], T35: [Dichter Zeit Gedicht Lied Dichtung Schiller Poesie Werk Goethe Sprache], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T3: [Lage Karte Land Europa Geographie Klima Größe Verhältnis Grenze Gliederung], T99: [Frankreich Loire Stadt Rhone Gebirge Pyrenäen Paris Meer Garonne Lyon]]
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Extrahierte Personennamen: Wilhelm_Grimm Wilhelm
Extrahierte Ortsnamen: Frankreich Frankreich Deutschland Frankreich Frankreich Deutschland Frankreich Deutschland
200
Prosaheft Vii
elender geworden wären. Darauf konnte niemand bessere Auskunft geben
als Götz von Berlichingen.
In diese Zeit nationaler Verwirrung und dennoch allgemeiner Blüte
sieht Goethe fremde Anschauungen Hineinbrechen und Zwiespalte im Herzen
des deutschen Volkes hervortreten, an denen, Goethes Ansicht nach, die
besten Männer zugrunde gehen. Sein Held, ein Deutscher vom reinsten
Gehalt und reinsten Gepräge, aus eigener edler Natur daran gewöhnt,
sich schuldlos auf deutschem Boden zu bewegen, so lange rein vater-
ländische Quellen ihn tränken, sieht plötzlich die verräterischen welschen
Gewässer zu uns herüberfließen und, von ihnen herausgelockt und ge-
nährt, eine giftige Saat rings um sich her aufsprießen.
Es wächst ihm über den Kopf. Seine Begriffe verwirren sich, er
wird zum Rebellen ohne es zu wollen und zum Verbrecher ohne zu wissen.
Was kümmerte sich das neue römische Recht um jene alte deutsche Ge-
setzgebung, in der jedes Dorf, womöglich jedes Haus seine eigenen
natürlichen Gesetze hatte, jedes vom anderen doch ebenso verschieden, als
der Horizont selber immer als ein anderer jedem, der vor die Türe trat,
vor Augen stand. Es geht einem durch Mark und Bein, wenn Götz
vor den Augsburger Bürgern im Gerichtssaal vor allen Dingen wissen
will, was aus seinen Knechten geworden sei. Götz weiß nicht mehr aus
und ein diesem Rechte gegenüber, das keinen Unterschied der Verhält-
nisse kennt. Weislingen wiederum geht zugrunde an einem Hofe, in den
welsche Feinheit und Verlogenheit eindringt.
Alles schließlich unterliegt den Ränken und den Reizen Adelheids,
der das deutsche Blut verderbt worden ist und die Goethe so ver-
führerisch schilderte, daß er, wie in Dichtung und Wahrheit erzählt wird,
sich am Ende selber in sie verliebt hatte. Überall scheint Redlichkeit
verloren Spiel zu haben gegen macchiavellistische Klugheit, und die roma-
nische unpersönliche Formel wird Herr über die individuellen Gedanken
des deutschen Rechtes. Aus der Einsamkeit des Lebens mit der Natur
drängt sich der deutsche Ritter, der eigentliche Repräsentant des Volkes
in Goethes Sinne, in die Städte und an die Höfe. Daher Goethes
Motto für sein Drama: Das Herz des Volkes ist in den Kot getreten
und keiner edlen Begierde mehr fähig.
Wie stellen wir uns zu diesen Anschauungen?
Wir sehen Goethe befangen in unvollkommener Kenntnis unserer
Geschichte. Wir wissen heute den Wert dessen, was wir fremden Nationen
schulden, anders zu schätzen. Wir haben die Gedanken autochthoner
Kunst, Dichtung und Sprache im Sinne früherer Generationen auf-
gegeben. Wir sehen die große, allgemeine Bewegung der Völker um
uns her und empfinden, daß die Deutschlands mit ihr aufs innigste
verbunden sei. Unsere Reformation verdanken wir dem Studium der
Griechen und Römer, unseren heutigen deutschen Stil dem Einflüsse der
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