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erweckt werden, das haben wir Älteren ja selbst vor Jahren gesehen, —
wie griff die Melodie des Mantelliedes mit einem Male so allgemein und
so mächtig durch, und es war dies die aus dem 16. Jahrhundert stammende
Volksmelodie eines Volksliedes, dessen Anfang lautet: „Es wareneinmal
drei Grasen gefangen".
Andere Volkslieder sind Wein- und Gesellschaftslieder, voll
echter, ungekünstelter Lust, voll Witz und Humor, voll aufsprudelnder
Fröhlichkeit, voll heiterer Unbesorgtheit: „Der liebste Buhle, den ich han,
der liegt beim Wirt im Keller, der hat ein hölzin Röcklein an und heißt
der Muskateller"; oder: „Wo soll ich mich hinkehren, ich dummes Brüder-
lein? wie soll ich mich ernähren? mein Gut ist allzu klein", — sämtlich
ebenso wahr, so naturgetreu und einfach wie die Liebes-, Abschieds- und
Naturlieder.
Manchen dieser Lieder fehlt es nicht an scharfen Ecken und derben
Natürlichkeiten, wie das kaum anders sein kann; aber roh ist, zumal
unter den ältern Volksliedern, wohl kein einziges. Der Umstand ist
dagegen schon öfters geltend gemacht worden, daß diese Lieder das be-
wegte, unruhige, wanderlustige Leben des 15. und 16. Jahrhunderts, den
bewegten Sinn und die sorglose Unabhängigkeit der nnstäten Gesellen
jener Zeit abspiegeln, — und es war jene Zeit, ganz besonders die Re-
formationszeit, eine so unruhige, so wanderlustige, so unstäte, wie sie bei
uns nur werden kann, wenn Hunderte von Eisenbahnen die Kreuz und
Quer durch Deutschland werden gezogen sein. Endlich ist diese Volks-
poesie fast ganz und gar eine Männerpoesie, während die vorangehende
Kunstlyrik, der Minnegesang, vorzugsweise eine Frauenpoesie war.
Verlangen wir für diese in ihrer Milde und Stille, in ihrer Verschämt-
heit und ihrem ruhigen, allmählichen Entfalten der Herzensempfindungen,
mit einem Worte: in ihrer Frauenhaftigkeit Anerkennung, so werden
wir jener Poesie, auch in ihrer Raschheit und Kräftigkeit, in ihren starken
Tönen, ja, in ihrer Heftigkeit, Keckheit und Derbheit, also in ihrer Männer-
haftigkeit, gleiche Anerkennung nicht versagen können.
67. Hans Sachs.
Für Hans Sachs, der alle seine dichtenden Zeitgenossen an Frucht-
barkeit und Kunst übertraf, gab es kein Stoffgebiet, in das er nicht
hineingegriffen, kein Interesse der Zeit, das nicht bei ihm wiedergeklungen
hätte. Nur im Versbau wahrte er hartnäckig die schlechtesten Überliefe-
rungen des späten Mittelalters, und daß es ein bestimmtes Verhältnis
zwischen Stoff und Form gebe, davon wußte er nichts. An keinem
Dichter des 16. Jahrhunderts läßt sich die ästhetische Unbildung jenes
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T1: [Geschichte Dichter Zeit Buch Werk Jahr Gedicht Nr. Bild Geographie], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand]]
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176
Zeitraumes so mit Händen greifen wie an Hans Sachs. Er ist durchaus
nicht unfähig seinen Stoff kunstvoll zu gestalten, er mag vielmehr
das größte rein poetische Talent gewesen sein, das seit den Minnesängern
bei uns auftauchte. Er hatte, obgleich Protestant, nicht das kriegerische
Temperament eines Hutten, Murner oder Manuel, das von Kampf zu
Kampf eilte. Ihm weckte nicht der Zorn die poetische Stimmung. Seine
Seele blieb rein von Haß. Er wußte sich iu seinem Innern einen
Tempel des Friedens zu erbauen, wohin die Stürme des Tags nicht
drangen, und wo ihn die Muse besuchte. Aus dem Frieden der Seele
floß ihm die Kraft des behaglichen Bildens. Er sah die Welt mit reinem
Blick und mit selbstloser Versenkung; und was er beobachtet hatte,
das wußte er auch iu Worte zu kleiden. Aber er versuchte vieles dar-
zustellen, was er durchaus nicht beobachtet hatte, und er mutete jeder
Dichtungsgattung jeden Inhalt zu: zahlreiche Stoffe behandelte er sowohl
in gesungenen Strophen als auch in epischen Reimpaaren und drama-
tisch, d. h. in dialogisierten Reimpaaren, leider nicht auch in Prosa, denn
die Prosa seiner reformatorischen Flugschriften zeigt den gewandtesten Stil.
Alle Formen hat er benutzt, um mannigfaltige Kenntnisse in weitere
Kreise zu bringen. Er war insofern ein Lehrer seines Volks, und seine
Lehre kam tröstend und versöhnend aus einem milden Gemüte. Dar-
stellung und Betrachtung gehen bei ihm stets Hand in Hand: die erstere
bringt er manchmal vorzüglich heraus, die letztere verfällt häufig ins
Triviale. Seine eigentliche Kunst besteht im Schildern, und die wendet
er überall an. Er schildert alles, was äußerlich wahrgenommen werden
kann. Er schildert leblose Dinge, Beschäftigungen, Affekte. Er schildert
in der Erzählung und im Drama. Nicht bloß er selbst beschreibt den
Zorn eines Weibes, was sie dabei tut und wie sie aussieht, sondern auch
im Fastnachtspiele sagt der Nachbar zum Manne des bösen Weibes, das auf
der Bühne zornig vor uns steht: „Schau, wie ihr die Augen glitzern, wie sich
ihr Angesicht verzerrt, wie sie mit den Zähnen knirscht, mit den Händen bebt,
mit den Füßen stampft!" Lebhaft sieht Hans Sachs die Szenen vor sich, die
seiner Einbildungskraft überhaupt zugänglich sind. Bei der Geschichte von
dem schlafenden Krämer im Walde, dem die Affen seine Waren plündern,
seine Stiefel ausziehen, seine Sachen beschmutzen, hat er sich in alle
Zustände hineingefühlt und alles deutlich hingestellt: die Hitze, den
schleppenden Krämer, die Waldesstimmung, den Schatten, die kühle Quelle,
die zur Ruhe lockt, den Traum des Krämers, der ihm eine Dorfkirch-
weih und reichen Erlös vorgaukelt, die- Verwüstung, welche die Affen
anrichten, und den genauen Inhalt des Warenkorbes, den sie ausschütten.
Es fällt ihm nicht ein, etwa nach der Manier der beschreibenden Dich-
tung von vornherein zu sagen, was der Krämer auf dem Rücken trage,
sondern das erfahren wir erst, sobald die Dinge wirklich zu Tage kommen:
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd], T7: [Erde Luft Sonne Wasser Himmel Berg Tag Licht Wolke Nacht]]
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Extrahierte Personennamen: Hans_Sachs Manuel Hans_Sachs
220
äußeren Lösung, welche die antike Bühne gestattete, jene innere suchte, die
wir verlangen. Er konnte keinen 6eu3 ex machina brauchen, der den heil-
los verwirrten Menschen das vernünftige Gesetz diktiert; er bildete daher die
Menschen um, milderte den Gegensatz zwischen Hellenen und Barbaren und
hielt den König der Tauner so edel, daß man ihm eine versöhnliche Wendung
zutrauen und den friedlichen Schluß begreifen kann. Er veränderte den Sinn
des Orakelspruchs, welcher den Orcst und Pyladcs nach Tauricn bringt;
machte die Znrückführnng Iphigeniens neben der Genesung des Orest zu dem
Angelpunkte des Stückes; zeigte die Furien, die den Orest verfolgen, in seiner
Seele wirksam; und entlehnte dem sophokleischen Philoktct ein feines psycho-
logisches Motiv, wenn Iphigenie sich bereden läßt an einer Lüge teilzu-
nehmen, aber die übernommene Rolle nicht durchführen kann, die Wahrheit
redet, wo es am gefährlichsten ist, und eben hierdurch das Gemüt des wider-
strebenden Königs gewinnt. Der düstere Orest und die klare Iphigenie sind
in dieser Wahrhaftigkeit und Geradheit einig, während der weltkundige, ebenso
kühne wie besonnene Pylades, ein aufopfernder Freund voll frischer Heldcn-
tatkraft, sich den Ulysses zum Muster genommen hat, den Weg der List und
Klugheit vorzieht und so für beide Geschwister den Gegenspieler abgibt....
Orest ist ein Kranker wie Werther. Aber nicht eingebildete Schmerzen
treiben ihn um, nicht tatcnscheue Empfindung verzehrt seine Kraft; furcht-
bare Schuld lastet aus ihm, und ein schuldbeladenes Haus scheint in ihm zu
vergehen. Wie schwere Wolken sich allmählich und immer drohender sammeln,
so steigen die Greuel des tantalischen Hauses immer schrecklicher vor uns auf.
Iphigenie enthüllt dem König Thoas, was sie weiß: des Ahnherrn Glück
und Überhebnng, die begehrliche Wut des Sohnes und der Enkel und ihr
eigenes Schicksal, Opferung durch den Vater, Rettung durch die Göttin.
Pylades sodann berichtet ihr des Vaters Tod, der Mutter Schuld; und Orest
muß es vollenden, die entsetzliche Tat, den Muttermord, er selbst bekennen.
Sie fassen ihn noch einmal an, die Qualen der Erinnerung, der Rene, des
Abscheus vor sich selbst. Sein Geist scheint ganz verfinstert; der Wahnsinn
rast durch seine Sinne; die Liebe seiner Schwester, die ihn umarmen will,
hält er für bacchische Wut; die sanften Worte, mit denen sie ihn beschwichtigen
möchte, rufen nur neue Gespenster herbei ; er wühlt in der Vorstellung, wie
sie ihn opfern werde; und die Todcssehnsucht, die ihn umschattet, schwillt
nächtlich furchtbar über ihn ans. Aber nicht wie Werther legt er Hand an sich
selbst; und die Gewalt einer gepeinigten Phantasie, die ihn insjenseits entrückt,
wird seine Rettung. Der Tod, auch nur im Wahn erfaßt, ist ein Versöhner.
Atreus und Thyest, die feindlichen Brüder, glaubt er im Elysium vereint zu
sehen; da wandelt Agamemnon Hand in Hand mit Klytämncstra ... Dieser
Traumblick in die stille Welt der Abgeschiedenen kühlt die Ströme, die in
seinem Busen sieden; und in schwesterlichen Armen findet der Schuldbeladene,
Grainzerrissene sich genesen wieder. Das Gewitter ist vorüber: „Die Erde
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178
alles mit zu großer Schnelligkeit vor uns vorübergeht und weder die
Handlungen, noch die Personen, noch deren Leidenschaften, zur anschau-
lichen Entwickelung gelangen. So geschieht es in seinen ersten Tragödien,
der Lucretia und der Virginia, wie in den biblischen Dramen und den
romantischen Stoffen, die er später dramatisierte.
Man hat oft darüber gelächelt, daß der ehrliche Meister uns in
seinen Personen immer wieder Nürnberger Bürger vorführt, mag er nun
Stoffe aus dem Orient, aus dem griechischen und römischen Altertum
oder aus dem vielgestaltigen Erzählungsschatze des Mittelalters behandeln.
Dies ist es aber keineswegs, was seine dramatischen Leistungen herab-
setzen könnte; hat doch selbst Shakespeare römische Bürger zu Londoner
Pflastertretern gemacht, und haben doch die großen Maler des 15. und
16. Jahrhunderts die Männer und Frauen der Bibel in die Tracht ihrer
Zeit gekleidet. Aber nichtsdestoweniger sind Shakespeare und Lukas
Kranach große Künstler, weil sie unter dem Kostüme ihrer Zeit das all-
gemein Menschliche in höchster Wahrheit und Lebendigkeit hervortreten
ließen, weil sie jede Person, die sie zeichneten, in ihrer eigentümlichen
Natur, in der ganzen Fülle ihres Lebens und ihrer Leidenschaften dar-
stellten. Wenn wie die Marien am Kreuze Christi sehen, wenn wir die
ganze Tiefe und Innigkeit des edlen Schmerzes sehen, der sich in jedem
Zuge des Gesichts, in der Haltung und Stellung des Körpers, ja selbst
in den Falten der Gewänder, mit aller Wahrheit ausspricht, so vergessen
wir bald, daß sie einen Nürnberger Kopsputz tragen, und wir erblicken
in ihnen die wahren Marien der biblischen Erzählung, d. h. die von
innigem, seelenvollem Schmerze erfüllten Frauen, denen durch den Tod
des Erlösers alle Lebensfreude geraubt ist. Ähnlich ist es auch mit den
Personen des Hans Sachs. Allerdings tragen sie Nürnberger Gewand,
aber dabei lassen sie auch scharfausgcprägte Eigenart ihres Wesens er-
kennen, die den Verhältnissen des Stückes durchaus entspricht.
Hans Sachs hat von 1514 bis 1569 gedichtet. Er hat nach seiner
eignen Berechnung im Jahre 1567 schon 4275 Meistergesänge, 208 Schau-
spiele, 1558 Schwänke, Fabeln, Historien, Figuren, Komparationen, Alle-
gorien, Träume, Visionen, Klagreden, Kampsgespräche, Zeitungen, Psalmen
und geistliche Gesänge, dazu 7 prosaische Dialoge, im ganzen also 6048
Werke und Merkchen verfaßt. 1576 ist er in seinem 81. Lebensjahre ge-
storben. Vor wenig Jahren hat man die vierhnndertste Wiederkehr seines
Geburtstags in Deutschland gefeiert, und seine Vaterstadt hat dem
fleißigen „Schuhmacher und Poet dazu" ein schönes Denkmal errichtet. Das
schönste Denkmal hatte ihm schon längst kein Geringerer als Altmeister
Goethe gestiftet, der in der sinnigen Dichtung „Hans Sachsens poetische
Sendung" sein feines Verständnis und seine gerechte Würdigung jeder mensch-
lichen Erscheinung auch an dem ehrwürdigen Meistersänger bewährt hat.
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222
Goethe mit den Fragmenten seines Stückes. Anch Racine begünstigte die
innere Welt, zarte Gefühle beherrschen seine Dramen; aber fast immer bildet
Liebe den Hebel, durch welchen äußere Verwicklungen und leidenschaftliche
Konflikte in Bewegung gesetzt werden. Bei Goethe spielt die Liebe nur eine
geringe Rolle: Thoas, der König der Taurier, wirbt um Iphigenie; aber,
was so nahe lag, Pylades entbrennt nicht in Liebe zu ihr. Das selbstsüchtige
Begehren hat hier keinen Raum; und in Thoas tritt es nur auf, um der
Entsagung zu weichen. Nicht minder sind die früher beliebten Großmuts-
konflikte verbannt: Orestes und Pylades erhalten keine Gelegenheit sich wett-
eifernd zum Tode zu drängen. Äußere Handlung fehlt beinahe ganz, und der
routinierte Thenterpraktiker weiß nichts mit dem Stück anzufangen. Alles ist
innere Begebenheit natürlicher, aber sittlich hochstehender Menschen. Sie
kämpfen nicht mit der Schlechtigkeit, nicht mit der Gemeinheit, sondern nur
mit den Wünschen, Regungen, Erschütterungen des eigenen Herzens, um die
siegreiche Kraft der Selbstverleugnung, der Selbstüberwindung zu bewähren.
Goethe hat mit der „Iphigenie" eine neue Gattung des Schauspiels
geschaffen, die man Seelendrnma nennen könnte und die einer Epoche der
Dichtkunst besonders wohl ansteht, worin weniger das Drama als die Lyrik
blüht und worin Deutschland, das seit der Reformation und dem Pietismus
so stark nach innen gezogen wurde, seine Eigentümlichkeit zur Geltung bringt.
80. Schillers „Wallenstein".
Als Schiller nach langer Abkehr von der Poesie, nach Jahren der
Sammlung, der Forschung, des Denkens bereichert und vertieft zum Drama
zurückkehrte, gelang cs ihm, der schwersten Kunstforderung zu genügen und
Sclbstcntänßerung zu üben, insbesondere im „Wallenstein", dessen hauptsäch-
lichste Figuren mit Ausnahme von Max und Thekla ihn so kalt ließen, daß
er sie mit völliger Objektivität zu behandeln vermochte. Er nahm seinen
Helden als den Typus des praktischen Realisten, wie er ihn in einer seiner
wissenschaftlichen Abhandlungen geschildert hatte. Überall ist Wallenstein
durch äußere Ursachen und äußere Zwecke bestimmt; zur Erde zieht ihn die
Begierde; nur im Wirken findet er Befriedigung; kann er nicht wirken, so will
er nicht leben; Macht und Größe sind für ihn die höchsten Güter. Je mehr
eine solche Charakterform Schillers eigenem Gefühle widerstrebte, je mehr er
seinem Publikum idealistische Gesinnung zutraute und je mehr er diese Gesin-
nung befördern wollte: desto notwendiger schien es ihm, „des Glückes aben-
teuerlichen Sohn", den er in den Mittelpunkt seines dramatischen Gedichtes
stellte, den Herzen der Zuschauer näher zu bringen. Er suchte ihm so viel mo-
ralische Würde zu geben, als er dem Realisten überhaupt zusprechen konnte...
Er verlieh ihm nicht nur eine außerordentliche Kraft, ein ungewöhnliches
Hcrrschertalent, das jeden an der richtigen Stelle zu gebrauchen weiß, ein
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
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Extrahierte Personennamen: Goethe Goethe Goethe Schillers Schiller Max Max Thekla
180
bezeugen, vielseitiges Talent, ausgebreitete Gelehrsamkeit und scharf
ausgeprägte Eigenart des Charakters. Er war nicht nur belesen
wie Hans Sachs, sondern fast in allen Wissenschaften wohl bewandert
und beherrschte den außerordentlichen Reichtum seiner Kenntnisse mit der
größten Leichtigkeit und Sicherheit. In lateinischer Sprache schrieb er
ein Buch über die älteste Geschichte Straßburgs, seinem Berufe nach war
er Rechtsgelehrter, und mustern wir seine polemischen Schriften, so tritt
uns eine solche Fülle theologischer Kenntnisse entgegen, daß man meinen
könnte, er sei von Haus aus Theologe gewesen. All dieses Wissen stellt
er aber nicht in den Dienst der forschenden Wissenschaft; sein Streben
ging vielmehr dahin, auf die breiten Massen des Volkes zu wirken und
sie durch seine Schriften in den Kampf hineinzuziehen, den er sein
ganzes Leben hindurch kämpfte für die Freiheit des Menschen in religiöser
wie in politischer Beziehung, wie er es selbst sagt: „Freiheitblum ist die
schönste Blum: Gott lasse diese werte Blum in Deutschland blühen um
und um, so wächst denn Fried, Freud, Ruh und Ruhm." Sein poetisches
Talent, die ihm angeborne heitere Laune, sein unerschöpflicher Witz, der
ihn das Schlechte zugleich von seiner lächerlichen Seite sehen ließ,
führten ihn von selbst auf die Satire als auf die Form, die er nach
seinem innersten Wesen für seine Bestrebungen wählen mußte, und die
er in hoher Meisterschaft handhabte. Er fand in dem französischen Buche
des lustigen Ours von Mendon, in dem Gargantua des Rabelais, das
Vorbild, welches ihm für seine eignen Produkte den Stofs und die
Anregung bot. In seinen: Gargantua hat er das erste Buch des
berühmten Rabelaisschen Romans nicht so sehr übersetzt als aufgeschwellt,
indem er Rabelais' eigne Manier überbot und dadurch allerdings das
epische Interesse stark abschwächte, aber das satirische im höchsten Grade
befriedigte, wenn man die erdrückende Masse von komischen Anspielungen,
Zwischenstücken, Wortspielen, Reimklängen, Wortverdrehnngen, eine Menge
von Sprichwörtern, volkstümlichen Redensarten, Anführungen aus
Volksliedern, gehäuften Bezeichnungen gleicher oder ähnlicher Bedeutung
für jedes Ding und jeden Begriff, Notizen über Spiele, Speisen,
Getränke, Sitten, Zustände, Anekdoten — wenn man diese ganze Masse,
worin die schon bei Luther beliebte rhetorische Form der Häufung beinahe
zum eiuzigen und zum durchgehenden künstlerischen Grundsatz erhoben
worden ist, noch Satire nennen will. Es ist im Unterschiede von der
Form der älteren Satiriker wie Braut und Murner ein Beispiel der
grotesken Satire, die von Fischart zum erstenmal in größerem Umfang
in die deutsche Literatur eingeführt wird. Das Wort bedarf der
Erklärung; es verdankt seinen Ursprung den Ausgrabungen in den Bädern
des Diokletian in Rom, in den Grotten, wie diese großartigen Gewölbe
von den damaligen Römern genannt wurden. Dort stellten sich dem
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224
finster, schien über ihn gekommen. Die Ruhe floh ihn. Das alte Vertrauen
auf das Glück und ans die eigene Kraft kehrte nicht wieder. Den inneren
Halt, den er verloren hatte, suchte er durch einen äußeren zu ersetzen. Er
ergab sich der Astrologie. Das Schicksal der Welt und seines suchte er ans
den Sternen abzulesen. Von ihnen erwartete er Rat, wo er selber schwankte.
Die Rückbernfung zum Oberbefehl machte nichts besser. Sic erfolgte nicht
ans Neigung, nicht ans gutem Willen, sondern ans Not: der Kaiser bedurfte
seiner, und er verhehlte nicht, daß er nur sich selbst gehorchen und sich das
Gesetz des Hofes nicht mehr auferlegen lassen wolle. Er fühlt sich von nun
an nicht mehr als Diener der kaiserlichen Politik; er bedient sich des kaiser-
lichen Amtes, um seine eigene Politik zu machen. Er schont die Schweden, er
mißachtet kaiserliche Befehle; er unterhandelt mit den Feinden, zunächst nur
in der Absicht, die Macht, die in seiner Hand ruht, zu verstärken, immer noch
mehr Menschen zu seinen Werkzeugen herabzudrücken, sich alle Wege offen zu
halten und schließlich so oder so mit dem Frieden eine Königskrone zu erlangen.
Er spielt mit dem Gedanken einer ungeheuren Tat ohne den ernsten Willen
sie zu tun. Aber schon der böse Gedanke schafft gespannte Verhältnisse, die
auf ihn zurückwirken und seine Wahlfreiheit beeinträchtigen. Er ist zu stolz,
um die kühn umgreifende Gemütsart zu verbergen. Er braucht Vermittler,
Unterhändler, ergebene Diener. Die Jllo und Terzky drängen ihn zum Ab-
fall, weil sie ihren eigenen, niederen Vorteil dabei sehen. Dem Octnvio
Piccolomini vertraut er, einem lügenhaften Traumorakel folgend, unbedingt;
und eben dieser Octavio meldet jede unmutige Äußerung, jeden verwegenen
Schritt des Feldherrn nach Wien. Auch sonst ist er von Spionen umstellt.
Der Hof hält ihn für einen Hochverräter, lang eh er es wirklich ist. Seine
Frau empfindet die veränderte Stimmung bei der Durchreise durch Wien.
Man will sein Heer schwächen; man bereitet eine neue Absetzung vor; durch
wiederholte Anforderungen erregt man von neuem seinen Zorn und provoziert
von neuem seinen Ungehorsam. Wallensteins Unterhändler wird von den
Kaiserlichen gefangen; jetzt erst liegen Beweise gegen ihn vor; zugleich werden
die Schweden ungeduldig, ein Bevollmächtigter findet sich ein: Wallenstcin
muß sich entscheiden. Die Sterne scheinen ihm günstig. Aber noch ist die
Treue in ihm mächtig, noch scheut er den Verrat, noch halten die sittlichen
Bande, die ihn an die Pflicht fesseln. Er hat einen bösen Genius in seiner
Schwägerin, der Gräfin Terzky, und einen guten in dem jungen Max
Piccolomini zur Seite. Um wenige Minuten kommt die Schwägerin dem
warnenden Freunde zuvor; und diese wenigen Minuten entscheiden sein
Schicksal. Er läßt den Schweden rufen. Er schließt den Vertrag. Er zer-
reißt die Fesseln der Pflicht.
Alles aber wird erst verständlich, wenn wir anschauend erkennen, welche
ungeheure Macht Wallenstein in seiner Hand vereinigt, wie sehr diese Macht
seine persönliche Schöpfung ist und wie dadurch die Versuchung für ihn ge-
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
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Extrahierte Personennamen: Octnvio
Piccolomini Octavio Max
Piccolomini Max
Extrahierte Ortsnamen: Schweden Wien Wien Schweden
182
\
gedichtet. Als nämlich im Jahre 1576 die Straßburger ein großes
Schießen gaben, fuhr eine Anzahl Zürcher Schützen auf der Limmat
und dem Rhein in einem Tage nach Straßburg. Schon 100 Jahre
früher war eine ähnliche Fahrt von Zürich aus unternommen worden;
als es sich damals um ein Bündnis zwischen beiden Städten handelte
und die Straßburger wegen der großen Entfernung der künftigen
Bundesgenossen mit dem Abschluß zögerten, brachten die Zürcher einen
Hirsebrei, den sie daheim bereitet hatten, noch warm in die elsässische
Stadt, um zu beweisen, daß bei entschiedenem Willen auch die größte
Entfernung überwunden werden kann. Die erste Fahrt schwebte dem
Dichter vor, als er die zweite besang und an dem Beispiel der wackern
Zürcher zeigte, was Willenskraft und unverdrossenes Streben vermag.
Sehr schön stellte er daher gleich am Anfang dem unvernünftigen Treiben
des Xerxes, der das Meer geißeln ließ, die rührige Tätigkeit entgegen,
durch die die Zürcher das Element in ihren Dienst zwangen. In raschem
Gange begleitet das Gedicht die Fahrt. Die Ufer der Limmat, der
Aare, des Rheins ziehen an uns vorüber, nicht etwa in eintöniger
Schilderung, nein, alles lebt und webt, das Schiff, die Sonne, die
Limmat, der Rhein, sie reden und handeln mit in dem Gedichte. Der
Rhein begrüßt die wackern Eidgenossen und mahnt sie an die Voreltern:
„Die Arbeit trägt davon den Sieg und macht, daß man hoch daher
flieg"; und die Sonne erschrickt, als sie die Schiffsleute so eilen sieht,
in Besorgnis, sie möchten ihr zuvorkommen. Eilig setzt sie ihren Weg
fort und bewegt so die Ruderer zu neuen Anstrengungen, so daß sie
kurz nach Sonnenuntergang in Straßburg ankommen. — Wir entbehren
gern die Beschreibung der Straßburger Festlichkeiten neben dem reizvollen
und anmutigen, von hoher poetischer Gestaltungskraft getragenen Bilde
der Fahrt.
69. Die Anfänge des Dramas.
Das deutsche Drama wurzelt in der mittelhochdeutschen Periode, und
wieder führt uns die Sage an den Fuß der Wartburg, um uns in einem
lebensvollen Bilde zu zeigen, wie das Schauspiel damals die Seelen
erschütterte.
.Wir besitzen ein Drama, welches die neutcstamentliche Parabel von
den klugen und törichten Jungfrauen behandelt. Die törichten sind
Weltkinder, sie spielen und vergnügen sich und denken noch zeitig genug
zum Gastmahl zu kommen. Aber der Herr weist sie ab, und selbst
Marias Fürbitte bewegt ihn nicht: sie werden von den Teufeln geholt
und brechen in herzzerreißende Klagen aus.
TM Hauptwörter (50): [T1: [Geschichte Dichter Zeit Buch Werk Jahr Gedicht Nr. Bild Geographie], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd]]
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183
Das Stück soll 1322 zu Eisenach in Gegenwart des Landgrafen
Friedrich des Freidigen von Thüringen aufgeführt worden sein; und als
selbst Marias Bemühungen den Sündigen nicht helfen konnte, da siel
er in Zweifel, ward zornig und sprach: „Was ist denn der Christen-
glaube? Will Gott sich nicht über uns erbarmen um der Bitte Marias
und aller Heiligen willen?" Und er ging zur Wartburg und war
fassungslos wohl fünf Tage lang, und danach rührte ihn der Schlag,
daß er drei Jahr zu Bette lag und im Alter von 55 Jahren starb.
Das Schauspiel brachte einen so tiefen Eindruck hervor, wie es die
Predigt nimmermehr konnte. Das wußten die Geistlichen wohl, und
darum pflegten sie das geistliche Drama, bis es eine selbständige Macht
wurde, die ihnen über den Kopf wuchs und mehr zur Unterhaltung als
zur sittlichen Besserung diente. — Einfach und schmucklos waren die äußern
Zurüstungen. In der Kirche oder auf freiem Platze ward das Gerüst
aufgeschlagen, das mehrere Stockwerke übereinander zeigte, Himmel, Erde
und Hölle darstellend. Auf Leitern stiegen die Engel zur Erde herab,
die Teufel aus der Hölle herauf. Davor drängte sich die schaulustige
Menge und sah in tiefem Ernste den Darstellungen aus der heiligen
Geschichte und der Legende zu. Im Mittelpunkte stand immer der dra-
matische Schmuck der kirchlichen Feste. Alte einfache Zeremonien wurden
zu ausführlichen Darstellungen erweitert. Eine Krippe hinter dem Altar,
ein Knabe, der als Engel die Geburt Christi verkündete, andere Knaben,
die als Hirten zur Krippe zogen, um anzubeten: das waren die Keime
des Weihnachtspieles, das sich in späterer Ausführung von den messia-
nischen Weissagungen des Alten Bundes bis zum bethlehemitischen Kinder-
mord und ergreifenden Klagen der Mütter erstreckte. Aus den in der
Karwoche vorgelesenen Berichten der Evangelien über das Leiden Christi,
deren Reden und Gespräche an verschiedene Personen verteilt wurden,
entwickeln sich Passionsspiele, die mit der Grablegung zu schließen
pflegten. Aus der kirchlichen Osterfeier ergaben sich Auferstehungsspiele.
Getreulich ist an manchen Orten unseres Vaterlandes die ehrwürdige
Überlieferung gepflegt und weitergeführt worden, so in Oberammergau,
wo ländliche Darsteller in frommer Einfalt die erschütternden Vorgänge
der Osterzeit vor einer aus allen Ländern zusammenströmenden Menge
mit mächtiger Wirkung zur Anschauung bringen.
Die edelsten poetischen Motive, welche den biblischen Berichten im
Drama hinzugefügt wurden, stammen aus dem 12. und 13. Jahrhundert:
dieser Zeitraum, welcher der Empfindung so große Rechte einräumte, hat
ihnen seinen Stempel aufgedrückt. Für die Gestalt von Christi Mutter
sind erschütternde Züge gefunden worden. Judas hat kaum die dreißig
Silberlinge eingestrichen, so begegnet ihm Maria, nennt ihn ihren liebsten
Freund und empfiehlt ahnungslos ihr Kind seinem Schutze. Auf dem
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Extrahierte Personennamen: Friedrich Friedrich Marias Marias Maria Maria
Extrahierte Ortsnamen: Eisenach Marias Marias Wartburg Christi Christi Oberammergau Christi
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frühen Tod getrieben hat. Nicht wie Arndt und Schenkendorf hat er
das Glück erlebt Preußen befreit zu sehen; nicht wie Theodor Körner ist
er im offenen Felde fürs Vaterland gefallen. Das allgemeine Verderben
hat ihn mit in den Strudel gezogen, und auch sein Dichterwort wurde
unter dem Drucke der Zeit kaum vernommen. Verzweifelt schrieb Kleist
auf die erste Seite seines gewaltigen Vaterlandsdramas von der Hermanns-
schlacht die Verse:
Wehe, mein Vaterland, Dir! Die Leier zum Ruhm Dir zu schlagen
Ist, getreu Dir im Schoß, mir, deinem Dichter, verwehrt.
. . . Wer einen Dichter wie Heinrich v. Kleist verdammen kann,
weil er zu stolz war, um zu betteln, zu beharrlich vom Unstern verfolgt,
um noch an ein würdiges Leben zu glauben, der beweist seine Unfähig-
keit zum Verständnis großer Naturen. Und wer Kleists Tod gar
„knabenhaft" schilt, der hat gar keine Ahnung von den Zusammenhangen
zwischen Männercharakter und Dichtergeist; denn er hält es für möglich,
daß ein knabenhafter Mensch die wuchtigen Mannesdramen, die Hermanns-
schlacht und den Prinzen von Homburg, schaffen kann. Die Besten seiner
Zeitgenossen haben nur Trauer über seinen Tod empfunden und nicht
pharisäisch an Kleist gemäkelt ....
Kleist ist nicht nur einer unserer klassischen Novellendichter; er darf
auch unbeschadet des Verdienstes Goethes und Schillers um die künstle-
rische Erzählung als der wahre Begründer der nendeutschen Novelle ge-
priesen werden. Einen uralten Stammbaum, der seine Äste über Asien
und ganz Europa ausbreitet, hat die deutsche Novelle. Ihren Auf-
schwung zum Kunstwerk gleichen Wertes mit allen anderen dichterischen
Gattungen nahm die europäische Novelle durch Boecaccio; ihm folgten
im 17. Jahrhundert die spanischen Erzähler, allen voran Cervantes mit
seinen Novelas ejemplares (1613). Frankreich nahm die Anregung mit
ererbter Begabung auf: Lafontaine, dem Dichter der Contes (1665),
folgte Frau von Lasayette, die die Gattung bis zum kleinen Kunstroman
steigerte, durch ihre „Prinzessin von Cleve" (1678), und Prévost d'exiles
schuf das Meisterwerk des älteren französischen Romans in seiner Manon
Lescaut (1731). Auf deutschem Boden sind die Versuche von Sturz,
Merck, Haken, I. I. Engel usw. in der Novelle zu erwähnen, auch
Goethe hat bekanntlich rühmlichen Anteil an der Gattung. Tiecks
Märchennovellen können nicht als ein Fortschritt in der Knnstform an-
gesehen werden, und die einzige künstlerisch wertvolle Novelle der
Romantiker, Brentanos Erzählung vom braven Kasperl und dem schönen
Annerl, liegt zeitlich nach Entstehung und Veröffentlichung später als
Kleists Novellen. Schon Goethe hat sich wiederholt mit der Erklärung
des Wesens der Novelle befaßt; in den Unterhaltungen deutscher Ausge-
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