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1. Teil 5 - S. 175

1910 - Straßburg : Bull
175 erweckt werden, das haben wir Älteren ja selbst vor Jahren gesehen, — wie griff die Melodie des Mantelliedes mit einem Male so allgemein und so mächtig durch, und es war dies die aus dem 16. Jahrhundert stammende Volksmelodie eines Volksliedes, dessen Anfang lautet: „Es wareneinmal drei Grasen gefangen". Andere Volkslieder sind Wein- und Gesellschaftslieder, voll echter, ungekünstelter Lust, voll Witz und Humor, voll aufsprudelnder Fröhlichkeit, voll heiterer Unbesorgtheit: „Der liebste Buhle, den ich han, der liegt beim Wirt im Keller, der hat ein hölzin Röcklein an und heißt der Muskateller"; oder: „Wo soll ich mich hinkehren, ich dummes Brüder- lein? wie soll ich mich ernähren? mein Gut ist allzu klein", — sämtlich ebenso wahr, so naturgetreu und einfach wie die Liebes-, Abschieds- und Naturlieder. Manchen dieser Lieder fehlt es nicht an scharfen Ecken und derben Natürlichkeiten, wie das kaum anders sein kann; aber roh ist, zumal unter den ältern Volksliedern, wohl kein einziges. Der Umstand ist dagegen schon öfters geltend gemacht worden, daß diese Lieder das be- wegte, unruhige, wanderlustige Leben des 15. und 16. Jahrhunderts, den bewegten Sinn und die sorglose Unabhängigkeit der nnstäten Gesellen jener Zeit abspiegeln, — und es war jene Zeit, ganz besonders die Re- formationszeit, eine so unruhige, so wanderlustige, so unstäte, wie sie bei uns nur werden kann, wenn Hunderte von Eisenbahnen die Kreuz und Quer durch Deutschland werden gezogen sein. Endlich ist diese Volks- poesie fast ganz und gar eine Männerpoesie, während die vorangehende Kunstlyrik, der Minnegesang, vorzugsweise eine Frauenpoesie war. Verlangen wir für diese in ihrer Milde und Stille, in ihrer Verschämt- heit und ihrem ruhigen, allmählichen Entfalten der Herzensempfindungen, mit einem Worte: in ihrer Frauenhaftigkeit Anerkennung, so werden wir jener Poesie, auch in ihrer Raschheit und Kräftigkeit, in ihren starken Tönen, ja, in ihrer Heftigkeit, Keckheit und Derbheit, also in ihrer Männer- haftigkeit, gleiche Anerkennung nicht versagen können. 67. Hans Sachs. Für Hans Sachs, der alle seine dichtenden Zeitgenossen an Frucht- barkeit und Kunst übertraf, gab es kein Stoffgebiet, in das er nicht hineingegriffen, kein Interesse der Zeit, das nicht bei ihm wiedergeklungen hätte. Nur im Versbau wahrte er hartnäckig die schlechtesten Überliefe- rungen des späten Mittelalters, und daß es ein bestimmtes Verhältnis zwischen Stoff und Form gebe, davon wußte er nichts. An keinem Dichter des 16. Jahrhunderts läßt sich die ästhetische Unbildung jenes

2. Teil 5 - S. 176

1910 - Straßburg : Bull
176 Zeitraumes so mit Händen greifen wie an Hans Sachs. Er ist durchaus nicht unfähig seinen Stoff kunstvoll zu gestalten, er mag vielmehr das größte rein poetische Talent gewesen sein, das seit den Minnesängern bei uns auftauchte. Er hatte, obgleich Protestant, nicht das kriegerische Temperament eines Hutten, Murner oder Manuel, das von Kampf zu Kampf eilte. Ihm weckte nicht der Zorn die poetische Stimmung. Seine Seele blieb rein von Haß. Er wußte sich iu seinem Innern einen Tempel des Friedens zu erbauen, wohin die Stürme des Tags nicht drangen, und wo ihn die Muse besuchte. Aus dem Frieden der Seele floß ihm die Kraft des behaglichen Bildens. Er sah die Welt mit reinem Blick und mit selbstloser Versenkung; und was er beobachtet hatte, das wußte er auch iu Worte zu kleiden. Aber er versuchte vieles dar- zustellen, was er durchaus nicht beobachtet hatte, und er mutete jeder Dichtungsgattung jeden Inhalt zu: zahlreiche Stoffe behandelte er sowohl in gesungenen Strophen als auch in epischen Reimpaaren und drama- tisch, d. h. in dialogisierten Reimpaaren, leider nicht auch in Prosa, denn die Prosa seiner reformatorischen Flugschriften zeigt den gewandtesten Stil. Alle Formen hat er benutzt, um mannigfaltige Kenntnisse in weitere Kreise zu bringen. Er war insofern ein Lehrer seines Volks, und seine Lehre kam tröstend und versöhnend aus einem milden Gemüte. Dar- stellung und Betrachtung gehen bei ihm stets Hand in Hand: die erstere bringt er manchmal vorzüglich heraus, die letztere verfällt häufig ins Triviale. Seine eigentliche Kunst besteht im Schildern, und die wendet er überall an. Er schildert alles, was äußerlich wahrgenommen werden kann. Er schildert leblose Dinge, Beschäftigungen, Affekte. Er schildert in der Erzählung und im Drama. Nicht bloß er selbst beschreibt den Zorn eines Weibes, was sie dabei tut und wie sie aussieht, sondern auch im Fastnachtspiele sagt der Nachbar zum Manne des bösen Weibes, das auf der Bühne zornig vor uns steht: „Schau, wie ihr die Augen glitzern, wie sich ihr Angesicht verzerrt, wie sie mit den Zähnen knirscht, mit den Händen bebt, mit den Füßen stampft!" Lebhaft sieht Hans Sachs die Szenen vor sich, die seiner Einbildungskraft überhaupt zugänglich sind. Bei der Geschichte von dem schlafenden Krämer im Walde, dem die Affen seine Waren plündern, seine Stiefel ausziehen, seine Sachen beschmutzen, hat er sich in alle Zustände hineingefühlt und alles deutlich hingestellt: die Hitze, den schleppenden Krämer, die Waldesstimmung, den Schatten, die kühle Quelle, die zur Ruhe lockt, den Traum des Krämers, der ihm eine Dorfkirch- weih und reichen Erlös vorgaukelt, die- Verwüstung, welche die Affen anrichten, und den genauen Inhalt des Warenkorbes, den sie ausschütten. Es fällt ihm nicht ein, etwa nach der Manier der beschreibenden Dich- tung von vornherein zu sagen, was der Krämer auf dem Rücken trage, sondern das erfahren wir erst, sobald die Dinge wirklich zu Tage kommen:

3. Teil 5 - S. 220

1910 - Straßburg : Bull
220 äußeren Lösung, welche die antike Bühne gestattete, jene innere suchte, die wir verlangen. Er konnte keinen 6eu3 ex machina brauchen, der den heil- los verwirrten Menschen das vernünftige Gesetz diktiert; er bildete daher die Menschen um, milderte den Gegensatz zwischen Hellenen und Barbaren und hielt den König der Tauner so edel, daß man ihm eine versöhnliche Wendung zutrauen und den friedlichen Schluß begreifen kann. Er veränderte den Sinn des Orakelspruchs, welcher den Orcst und Pyladcs nach Tauricn bringt; machte die Znrückführnng Iphigeniens neben der Genesung des Orest zu dem Angelpunkte des Stückes; zeigte die Furien, die den Orest verfolgen, in seiner Seele wirksam; und entlehnte dem sophokleischen Philoktct ein feines psycho- logisches Motiv, wenn Iphigenie sich bereden läßt an einer Lüge teilzu- nehmen, aber die übernommene Rolle nicht durchführen kann, die Wahrheit redet, wo es am gefährlichsten ist, und eben hierdurch das Gemüt des wider- strebenden Königs gewinnt. Der düstere Orest und die klare Iphigenie sind in dieser Wahrhaftigkeit und Geradheit einig, während der weltkundige, ebenso kühne wie besonnene Pylades, ein aufopfernder Freund voll frischer Heldcn- tatkraft, sich den Ulysses zum Muster genommen hat, den Weg der List und Klugheit vorzieht und so für beide Geschwister den Gegenspieler abgibt.... Orest ist ein Kranker wie Werther. Aber nicht eingebildete Schmerzen treiben ihn um, nicht tatcnscheue Empfindung verzehrt seine Kraft; furcht- bare Schuld lastet aus ihm, und ein schuldbeladenes Haus scheint in ihm zu vergehen. Wie schwere Wolken sich allmählich und immer drohender sammeln, so steigen die Greuel des tantalischen Hauses immer schrecklicher vor uns auf. Iphigenie enthüllt dem König Thoas, was sie weiß: des Ahnherrn Glück und Überhebnng, die begehrliche Wut des Sohnes und der Enkel und ihr eigenes Schicksal, Opferung durch den Vater, Rettung durch die Göttin. Pylades sodann berichtet ihr des Vaters Tod, der Mutter Schuld; und Orest muß es vollenden, die entsetzliche Tat, den Muttermord, er selbst bekennen. Sie fassen ihn noch einmal an, die Qualen der Erinnerung, der Rene, des Abscheus vor sich selbst. Sein Geist scheint ganz verfinstert; der Wahnsinn rast durch seine Sinne; die Liebe seiner Schwester, die ihn umarmen will, hält er für bacchische Wut; die sanften Worte, mit denen sie ihn beschwichtigen möchte, rufen nur neue Gespenster herbei ; er wühlt in der Vorstellung, wie sie ihn opfern werde; und die Todcssehnsucht, die ihn umschattet, schwillt nächtlich furchtbar über ihn ans. Aber nicht wie Werther legt er Hand an sich selbst; und die Gewalt einer gepeinigten Phantasie, die ihn insjenseits entrückt, wird seine Rettung. Der Tod, auch nur im Wahn erfaßt, ist ein Versöhner. Atreus und Thyest, die feindlichen Brüder, glaubt er im Elysium vereint zu sehen; da wandelt Agamemnon Hand in Hand mit Klytämncstra ... Dieser Traumblick in die stille Welt der Abgeschiedenen kühlt die Ströme, die in seinem Busen sieden; und in schwesterlichen Armen findet der Schuldbeladene, Grainzerrissene sich genesen wieder. Das Gewitter ist vorüber: „Die Erde

4. Teil 5 - S. 178

1910 - Straßburg : Bull
178 alles mit zu großer Schnelligkeit vor uns vorübergeht und weder die Handlungen, noch die Personen, noch deren Leidenschaften, zur anschau- lichen Entwickelung gelangen. So geschieht es in seinen ersten Tragödien, der Lucretia und der Virginia, wie in den biblischen Dramen und den romantischen Stoffen, die er später dramatisierte. Man hat oft darüber gelächelt, daß der ehrliche Meister uns in seinen Personen immer wieder Nürnberger Bürger vorführt, mag er nun Stoffe aus dem Orient, aus dem griechischen und römischen Altertum oder aus dem vielgestaltigen Erzählungsschatze des Mittelalters behandeln. Dies ist es aber keineswegs, was seine dramatischen Leistungen herab- setzen könnte; hat doch selbst Shakespeare römische Bürger zu Londoner Pflastertretern gemacht, und haben doch die großen Maler des 15. und 16. Jahrhunderts die Männer und Frauen der Bibel in die Tracht ihrer Zeit gekleidet. Aber nichtsdestoweniger sind Shakespeare und Lukas Kranach große Künstler, weil sie unter dem Kostüme ihrer Zeit das all- gemein Menschliche in höchster Wahrheit und Lebendigkeit hervortreten ließen, weil sie jede Person, die sie zeichneten, in ihrer eigentümlichen Natur, in der ganzen Fülle ihres Lebens und ihrer Leidenschaften dar- stellten. Wenn wie die Marien am Kreuze Christi sehen, wenn wir die ganze Tiefe und Innigkeit des edlen Schmerzes sehen, der sich in jedem Zuge des Gesichts, in der Haltung und Stellung des Körpers, ja selbst in den Falten der Gewänder, mit aller Wahrheit ausspricht, so vergessen wir bald, daß sie einen Nürnberger Kopsputz tragen, und wir erblicken in ihnen die wahren Marien der biblischen Erzählung, d. h. die von innigem, seelenvollem Schmerze erfüllten Frauen, denen durch den Tod des Erlösers alle Lebensfreude geraubt ist. Ähnlich ist es auch mit den Personen des Hans Sachs. Allerdings tragen sie Nürnberger Gewand, aber dabei lassen sie auch scharfausgcprägte Eigenart ihres Wesens er- kennen, die den Verhältnissen des Stückes durchaus entspricht. Hans Sachs hat von 1514 bis 1569 gedichtet. Er hat nach seiner eignen Berechnung im Jahre 1567 schon 4275 Meistergesänge, 208 Schau- spiele, 1558 Schwänke, Fabeln, Historien, Figuren, Komparationen, Alle- gorien, Träume, Visionen, Klagreden, Kampsgespräche, Zeitungen, Psalmen und geistliche Gesänge, dazu 7 prosaische Dialoge, im ganzen also 6048 Werke und Merkchen verfaßt. 1576 ist er in seinem 81. Lebensjahre ge- storben. Vor wenig Jahren hat man die vierhnndertste Wiederkehr seines Geburtstags in Deutschland gefeiert, und seine Vaterstadt hat dem fleißigen „Schuhmacher und Poet dazu" ein schönes Denkmal errichtet. Das schönste Denkmal hatte ihm schon längst kein Geringerer als Altmeister Goethe gestiftet, der in der sinnigen Dichtung „Hans Sachsens poetische Sendung" sein feines Verständnis und seine gerechte Würdigung jeder mensch- lichen Erscheinung auch an dem ehrwürdigen Meistersänger bewährt hat.

5. Teil 5 - S. 222

1910 - Straßburg : Bull
222 Goethe mit den Fragmenten seines Stückes. Anch Racine begünstigte die innere Welt, zarte Gefühle beherrschen seine Dramen; aber fast immer bildet Liebe den Hebel, durch welchen äußere Verwicklungen und leidenschaftliche Konflikte in Bewegung gesetzt werden. Bei Goethe spielt die Liebe nur eine geringe Rolle: Thoas, der König der Taurier, wirbt um Iphigenie; aber, was so nahe lag, Pylades entbrennt nicht in Liebe zu ihr. Das selbstsüchtige Begehren hat hier keinen Raum; und in Thoas tritt es nur auf, um der Entsagung zu weichen. Nicht minder sind die früher beliebten Großmuts- konflikte verbannt: Orestes und Pylades erhalten keine Gelegenheit sich wett- eifernd zum Tode zu drängen. Äußere Handlung fehlt beinahe ganz, und der routinierte Thenterpraktiker weiß nichts mit dem Stück anzufangen. Alles ist innere Begebenheit natürlicher, aber sittlich hochstehender Menschen. Sie kämpfen nicht mit der Schlechtigkeit, nicht mit der Gemeinheit, sondern nur mit den Wünschen, Regungen, Erschütterungen des eigenen Herzens, um die siegreiche Kraft der Selbstverleugnung, der Selbstüberwindung zu bewähren. Goethe hat mit der „Iphigenie" eine neue Gattung des Schauspiels geschaffen, die man Seelendrnma nennen könnte und die einer Epoche der Dichtkunst besonders wohl ansteht, worin weniger das Drama als die Lyrik blüht und worin Deutschland, das seit der Reformation und dem Pietismus so stark nach innen gezogen wurde, seine Eigentümlichkeit zur Geltung bringt. 80. Schillers „Wallenstein". Als Schiller nach langer Abkehr von der Poesie, nach Jahren der Sammlung, der Forschung, des Denkens bereichert und vertieft zum Drama zurückkehrte, gelang cs ihm, der schwersten Kunstforderung zu genügen und Sclbstcntänßerung zu üben, insbesondere im „Wallenstein", dessen hauptsäch- lichste Figuren mit Ausnahme von Max und Thekla ihn so kalt ließen, daß er sie mit völliger Objektivität zu behandeln vermochte. Er nahm seinen Helden als den Typus des praktischen Realisten, wie er ihn in einer seiner wissenschaftlichen Abhandlungen geschildert hatte. Überall ist Wallenstein durch äußere Ursachen und äußere Zwecke bestimmt; zur Erde zieht ihn die Begierde; nur im Wirken findet er Befriedigung; kann er nicht wirken, so will er nicht leben; Macht und Größe sind für ihn die höchsten Güter. Je mehr eine solche Charakterform Schillers eigenem Gefühle widerstrebte, je mehr er seinem Publikum idealistische Gesinnung zutraute und je mehr er diese Gesin- nung befördern wollte: desto notwendiger schien es ihm, „des Glückes aben- teuerlichen Sohn", den er in den Mittelpunkt seines dramatischen Gedichtes stellte, den Herzen der Zuschauer näher zu bringen. Er suchte ihm so viel mo- ralische Würde zu geben, als er dem Realisten überhaupt zusprechen konnte... Er verlieh ihm nicht nur eine außerordentliche Kraft, ein ungewöhnliches Hcrrschertalent, das jeden an der richtigen Stelle zu gebrauchen weiß, ein

6. Teil 5 - S. 180

1910 - Straßburg : Bull
180 bezeugen, vielseitiges Talent, ausgebreitete Gelehrsamkeit und scharf ausgeprägte Eigenart des Charakters. Er war nicht nur belesen wie Hans Sachs, sondern fast in allen Wissenschaften wohl bewandert und beherrschte den außerordentlichen Reichtum seiner Kenntnisse mit der größten Leichtigkeit und Sicherheit. In lateinischer Sprache schrieb er ein Buch über die älteste Geschichte Straßburgs, seinem Berufe nach war er Rechtsgelehrter, und mustern wir seine polemischen Schriften, so tritt uns eine solche Fülle theologischer Kenntnisse entgegen, daß man meinen könnte, er sei von Haus aus Theologe gewesen. All dieses Wissen stellt er aber nicht in den Dienst der forschenden Wissenschaft; sein Streben ging vielmehr dahin, auf die breiten Massen des Volkes zu wirken und sie durch seine Schriften in den Kampf hineinzuziehen, den er sein ganzes Leben hindurch kämpfte für die Freiheit des Menschen in religiöser wie in politischer Beziehung, wie er es selbst sagt: „Freiheitblum ist die schönste Blum: Gott lasse diese werte Blum in Deutschland blühen um und um, so wächst denn Fried, Freud, Ruh und Ruhm." Sein poetisches Talent, die ihm angeborne heitere Laune, sein unerschöpflicher Witz, der ihn das Schlechte zugleich von seiner lächerlichen Seite sehen ließ, führten ihn von selbst auf die Satire als auf die Form, die er nach seinem innersten Wesen für seine Bestrebungen wählen mußte, und die er in hoher Meisterschaft handhabte. Er fand in dem französischen Buche des lustigen Ours von Mendon, in dem Gargantua des Rabelais, das Vorbild, welches ihm für seine eignen Produkte den Stofs und die Anregung bot. In seinen: Gargantua hat er das erste Buch des berühmten Rabelaisschen Romans nicht so sehr übersetzt als aufgeschwellt, indem er Rabelais' eigne Manier überbot und dadurch allerdings das epische Interesse stark abschwächte, aber das satirische im höchsten Grade befriedigte, wenn man die erdrückende Masse von komischen Anspielungen, Zwischenstücken, Wortspielen, Reimklängen, Wortverdrehnngen, eine Menge von Sprichwörtern, volkstümlichen Redensarten, Anführungen aus Volksliedern, gehäuften Bezeichnungen gleicher oder ähnlicher Bedeutung für jedes Ding und jeden Begriff, Notizen über Spiele, Speisen, Getränke, Sitten, Zustände, Anekdoten — wenn man diese ganze Masse, worin die schon bei Luther beliebte rhetorische Form der Häufung beinahe zum eiuzigen und zum durchgehenden künstlerischen Grundsatz erhoben worden ist, noch Satire nennen will. Es ist im Unterschiede von der Form der älteren Satiriker wie Braut und Murner ein Beispiel der grotesken Satire, die von Fischart zum erstenmal in größerem Umfang in die deutsche Literatur eingeführt wird. Das Wort bedarf der Erklärung; es verdankt seinen Ursprung den Ausgrabungen in den Bädern des Diokletian in Rom, in den Grotten, wie diese großartigen Gewölbe von den damaligen Römern genannt wurden. Dort stellten sich dem

7. Teil 5 - S. 224

1910 - Straßburg : Bull
224 finster, schien über ihn gekommen. Die Ruhe floh ihn. Das alte Vertrauen auf das Glück und ans die eigene Kraft kehrte nicht wieder. Den inneren Halt, den er verloren hatte, suchte er durch einen äußeren zu ersetzen. Er ergab sich der Astrologie. Das Schicksal der Welt und seines suchte er ans den Sternen abzulesen. Von ihnen erwartete er Rat, wo er selber schwankte. Die Rückbernfung zum Oberbefehl machte nichts besser. Sic erfolgte nicht ans Neigung, nicht ans gutem Willen, sondern ans Not: der Kaiser bedurfte seiner, und er verhehlte nicht, daß er nur sich selbst gehorchen und sich das Gesetz des Hofes nicht mehr auferlegen lassen wolle. Er fühlt sich von nun an nicht mehr als Diener der kaiserlichen Politik; er bedient sich des kaiser- lichen Amtes, um seine eigene Politik zu machen. Er schont die Schweden, er mißachtet kaiserliche Befehle; er unterhandelt mit den Feinden, zunächst nur in der Absicht, die Macht, die in seiner Hand ruht, zu verstärken, immer noch mehr Menschen zu seinen Werkzeugen herabzudrücken, sich alle Wege offen zu halten und schließlich so oder so mit dem Frieden eine Königskrone zu erlangen. Er spielt mit dem Gedanken einer ungeheuren Tat ohne den ernsten Willen sie zu tun. Aber schon der böse Gedanke schafft gespannte Verhältnisse, die auf ihn zurückwirken und seine Wahlfreiheit beeinträchtigen. Er ist zu stolz, um die kühn umgreifende Gemütsart zu verbergen. Er braucht Vermittler, Unterhändler, ergebene Diener. Die Jllo und Terzky drängen ihn zum Ab- fall, weil sie ihren eigenen, niederen Vorteil dabei sehen. Dem Octnvio Piccolomini vertraut er, einem lügenhaften Traumorakel folgend, unbedingt; und eben dieser Octavio meldet jede unmutige Äußerung, jeden verwegenen Schritt des Feldherrn nach Wien. Auch sonst ist er von Spionen umstellt. Der Hof hält ihn für einen Hochverräter, lang eh er es wirklich ist. Seine Frau empfindet die veränderte Stimmung bei der Durchreise durch Wien. Man will sein Heer schwächen; man bereitet eine neue Absetzung vor; durch wiederholte Anforderungen erregt man von neuem seinen Zorn und provoziert von neuem seinen Ungehorsam. Wallensteins Unterhändler wird von den Kaiserlichen gefangen; jetzt erst liegen Beweise gegen ihn vor; zugleich werden die Schweden ungeduldig, ein Bevollmächtigter findet sich ein: Wallenstcin muß sich entscheiden. Die Sterne scheinen ihm günstig. Aber noch ist die Treue in ihm mächtig, noch scheut er den Verrat, noch halten die sittlichen Bande, die ihn an die Pflicht fesseln. Er hat einen bösen Genius in seiner Schwägerin, der Gräfin Terzky, und einen guten in dem jungen Max Piccolomini zur Seite. Um wenige Minuten kommt die Schwägerin dem warnenden Freunde zuvor; und diese wenigen Minuten entscheiden sein Schicksal. Er läßt den Schweden rufen. Er schließt den Vertrag. Er zer- reißt die Fesseln der Pflicht. Alles aber wird erst verständlich, wenn wir anschauend erkennen, welche ungeheure Macht Wallenstein in seiner Hand vereinigt, wie sehr diese Macht seine persönliche Schöpfung ist und wie dadurch die Versuchung für ihn ge-

8. Teil 5 - S. 182

1910 - Straßburg : Bull
182 \ gedichtet. Als nämlich im Jahre 1576 die Straßburger ein großes Schießen gaben, fuhr eine Anzahl Zürcher Schützen auf der Limmat und dem Rhein in einem Tage nach Straßburg. Schon 100 Jahre früher war eine ähnliche Fahrt von Zürich aus unternommen worden; als es sich damals um ein Bündnis zwischen beiden Städten handelte und die Straßburger wegen der großen Entfernung der künftigen Bundesgenossen mit dem Abschluß zögerten, brachten die Zürcher einen Hirsebrei, den sie daheim bereitet hatten, noch warm in die elsässische Stadt, um zu beweisen, daß bei entschiedenem Willen auch die größte Entfernung überwunden werden kann. Die erste Fahrt schwebte dem Dichter vor, als er die zweite besang und an dem Beispiel der wackern Zürcher zeigte, was Willenskraft und unverdrossenes Streben vermag. Sehr schön stellte er daher gleich am Anfang dem unvernünftigen Treiben des Xerxes, der das Meer geißeln ließ, die rührige Tätigkeit entgegen, durch die die Zürcher das Element in ihren Dienst zwangen. In raschem Gange begleitet das Gedicht die Fahrt. Die Ufer der Limmat, der Aare, des Rheins ziehen an uns vorüber, nicht etwa in eintöniger Schilderung, nein, alles lebt und webt, das Schiff, die Sonne, die Limmat, der Rhein, sie reden und handeln mit in dem Gedichte. Der Rhein begrüßt die wackern Eidgenossen und mahnt sie an die Voreltern: „Die Arbeit trägt davon den Sieg und macht, daß man hoch daher flieg"; und die Sonne erschrickt, als sie die Schiffsleute so eilen sieht, in Besorgnis, sie möchten ihr zuvorkommen. Eilig setzt sie ihren Weg fort und bewegt so die Ruderer zu neuen Anstrengungen, so daß sie kurz nach Sonnenuntergang in Straßburg ankommen. — Wir entbehren gern die Beschreibung der Straßburger Festlichkeiten neben dem reizvollen und anmutigen, von hoher poetischer Gestaltungskraft getragenen Bilde der Fahrt. 69. Die Anfänge des Dramas. Das deutsche Drama wurzelt in der mittelhochdeutschen Periode, und wieder führt uns die Sage an den Fuß der Wartburg, um uns in einem lebensvollen Bilde zu zeigen, wie das Schauspiel damals die Seelen erschütterte. .Wir besitzen ein Drama, welches die neutcstamentliche Parabel von den klugen und törichten Jungfrauen behandelt. Die törichten sind Weltkinder, sie spielen und vergnügen sich und denken noch zeitig genug zum Gastmahl zu kommen. Aber der Herr weist sie ab, und selbst Marias Fürbitte bewegt ihn nicht: sie werden von den Teufeln geholt und brechen in herzzerreißende Klagen aus.

9. Teil 5 - S. 183

1910 - Straßburg : Bull
183 Das Stück soll 1322 zu Eisenach in Gegenwart des Landgrafen Friedrich des Freidigen von Thüringen aufgeführt worden sein; und als selbst Marias Bemühungen den Sündigen nicht helfen konnte, da siel er in Zweifel, ward zornig und sprach: „Was ist denn der Christen- glaube? Will Gott sich nicht über uns erbarmen um der Bitte Marias und aller Heiligen willen?" Und er ging zur Wartburg und war fassungslos wohl fünf Tage lang, und danach rührte ihn der Schlag, daß er drei Jahr zu Bette lag und im Alter von 55 Jahren starb. Das Schauspiel brachte einen so tiefen Eindruck hervor, wie es die Predigt nimmermehr konnte. Das wußten die Geistlichen wohl, und darum pflegten sie das geistliche Drama, bis es eine selbständige Macht wurde, die ihnen über den Kopf wuchs und mehr zur Unterhaltung als zur sittlichen Besserung diente. — Einfach und schmucklos waren die äußern Zurüstungen. In der Kirche oder auf freiem Platze ward das Gerüst aufgeschlagen, das mehrere Stockwerke übereinander zeigte, Himmel, Erde und Hölle darstellend. Auf Leitern stiegen die Engel zur Erde herab, die Teufel aus der Hölle herauf. Davor drängte sich die schaulustige Menge und sah in tiefem Ernste den Darstellungen aus der heiligen Geschichte und der Legende zu. Im Mittelpunkte stand immer der dra- matische Schmuck der kirchlichen Feste. Alte einfache Zeremonien wurden zu ausführlichen Darstellungen erweitert. Eine Krippe hinter dem Altar, ein Knabe, der als Engel die Geburt Christi verkündete, andere Knaben, die als Hirten zur Krippe zogen, um anzubeten: das waren die Keime des Weihnachtspieles, das sich in späterer Ausführung von den messia- nischen Weissagungen des Alten Bundes bis zum bethlehemitischen Kinder- mord und ergreifenden Klagen der Mütter erstreckte. Aus den in der Karwoche vorgelesenen Berichten der Evangelien über das Leiden Christi, deren Reden und Gespräche an verschiedene Personen verteilt wurden, entwickeln sich Passionsspiele, die mit der Grablegung zu schließen pflegten. Aus der kirchlichen Osterfeier ergaben sich Auferstehungsspiele. Getreulich ist an manchen Orten unseres Vaterlandes die ehrwürdige Überlieferung gepflegt und weitergeführt worden, so in Oberammergau, wo ländliche Darsteller in frommer Einfalt die erschütternden Vorgänge der Osterzeit vor einer aus allen Ländern zusammenströmenden Menge mit mächtiger Wirkung zur Anschauung bringen. Die edelsten poetischen Motive, welche den biblischen Berichten im Drama hinzugefügt wurden, stammen aus dem 12. und 13. Jahrhundert: dieser Zeitraum, welcher der Empfindung so große Rechte einräumte, hat ihnen seinen Stempel aufgedrückt. Für die Gestalt von Christi Mutter sind erschütternde Züge gefunden worden. Judas hat kaum die dreißig Silberlinge eingestrichen, so begegnet ihm Maria, nennt ihn ihren liebsten Freund und empfiehlt ahnungslos ihr Kind seinem Schutze. Auf dem

10. Teil 5 - S. 227

1910 - Straßburg : Bull
227 frühen Tod getrieben hat. Nicht wie Arndt und Schenkendorf hat er das Glück erlebt Preußen befreit zu sehen; nicht wie Theodor Körner ist er im offenen Felde fürs Vaterland gefallen. Das allgemeine Verderben hat ihn mit in den Strudel gezogen, und auch sein Dichterwort wurde unter dem Drucke der Zeit kaum vernommen. Verzweifelt schrieb Kleist auf die erste Seite seines gewaltigen Vaterlandsdramas von der Hermanns- schlacht die Verse: Wehe, mein Vaterland, Dir! Die Leier zum Ruhm Dir zu schlagen Ist, getreu Dir im Schoß, mir, deinem Dichter, verwehrt. . . . Wer einen Dichter wie Heinrich v. Kleist verdammen kann, weil er zu stolz war, um zu betteln, zu beharrlich vom Unstern verfolgt, um noch an ein würdiges Leben zu glauben, der beweist seine Unfähig- keit zum Verständnis großer Naturen. Und wer Kleists Tod gar „knabenhaft" schilt, der hat gar keine Ahnung von den Zusammenhangen zwischen Männercharakter und Dichtergeist; denn er hält es für möglich, daß ein knabenhafter Mensch die wuchtigen Mannesdramen, die Hermanns- schlacht und den Prinzen von Homburg, schaffen kann. Die Besten seiner Zeitgenossen haben nur Trauer über seinen Tod empfunden und nicht pharisäisch an Kleist gemäkelt .... Kleist ist nicht nur einer unserer klassischen Novellendichter; er darf auch unbeschadet des Verdienstes Goethes und Schillers um die künstle- rische Erzählung als der wahre Begründer der nendeutschen Novelle ge- priesen werden. Einen uralten Stammbaum, der seine Äste über Asien und ganz Europa ausbreitet, hat die deutsche Novelle. Ihren Auf- schwung zum Kunstwerk gleichen Wertes mit allen anderen dichterischen Gattungen nahm die europäische Novelle durch Boecaccio; ihm folgten im 17. Jahrhundert die spanischen Erzähler, allen voran Cervantes mit seinen Novelas ejemplares (1613). Frankreich nahm die Anregung mit ererbter Begabung auf: Lafontaine, dem Dichter der Contes (1665), folgte Frau von Lasayette, die die Gattung bis zum kleinen Kunstroman steigerte, durch ihre „Prinzessin von Cleve" (1678), und Prévost d'exiles schuf das Meisterwerk des älteren französischen Romans in seiner Manon Lescaut (1731). Auf deutschem Boden sind die Versuche von Sturz, Merck, Haken, I. I. Engel usw. in der Novelle zu erwähnen, auch Goethe hat bekanntlich rühmlichen Anteil an der Gattung. Tiecks Märchennovellen können nicht als ein Fortschritt in der Knnstform an- gesehen werden, und die einzige künstlerisch wertvolle Novelle der Romantiker, Brentanos Erzählung vom braven Kasperl und dem schönen Annerl, liegt zeitlich nach Entstehung und Veröffentlichung später als Kleists Novellen. Schon Goethe hat sich wiederholt mit der Erklärung des Wesens der Novelle befaßt; in den Unterhaltungen deutscher Ausge-
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