Vorbemerkung.
In den Ministerialbestimmungen über das Mädchenschulwesen vom 31. Mai 1894 werden als geschichtlicher Lehrstoff für die Klassen Y und Iv einer neunklassigen, also die Klassen Vi und Y einer zehnklassigen höheren Mädchenschule neben Lebensbildern aus der vaterländischen Geschichte „deutsche Sagen“ festgesetzt. Wenngleich in den „Bestimmungen“ die „Lebensbilder“ voranstehen, so wird es doch wohl erlaubt sein, mit den Sagen zu beginnen und, den Anforderungen der neueren Methodik gemäss, den historischen Unterricht durch einen Vorkursus von Sagen einzuleiten. Es ist vielleicht angemessen, das erste Tertial des fünften Schuljahres * zu diesem Sagenunterricht zu verwenden.
Welche Sagen sollen nun hier den Kindern erzählt werden ?
Da die „Bestimmungen“ deutsche Sagen verlangen, so sind von vornherein alle fremdländischen Stoffe, auch die griechischen, ausgeschlossen. Es ist jedoch in den „Bestimmungen“ Sorge getragen, dass die Schülerinnen wenigstens nicht ohne alle und jede Kenntnis der griechischen Sagenwelt die Schule verlassen, indem nämlich als deutscher Lektürestoff für die Klasse Iii unter anderm ,,die Odyssee nach einer guten metrischen Übersetzung“ vorgeschrieben ist.
Welche deutsche Sagen den Schülerinnen erzählt werden sollen, darüber sagen die „Bestimmungen“ nichts.
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Was den zweiten Teil dieser Aufgabe anbelangt, so glaubte ich ebensowohl die schwülstige, poetisierende Sprache mancher älteren Sagensammlungen, wie auch die zerhackten, allzukurzen Sätze des sogenannten Kinderstubenstils vermeiden zu müssen.
Viel schwieriger war die Auswahl der Sagen. Zunächst schien die überreiche Fülle des Materials eine „Verlegenheit des Reichtums“ hervorzurufen; bei genauerer Prüfung aber ergab sich, dass die Zahl der für die Schule wirklich brauchbaren Sagen sehr gering ist. Die im Unterricht zu behandelnden Sagen müssen meines Erachtens folgenden Anforderungen genügen:
a. Sie dürfen nicht bloss den Sagenforschern bekannt sein, sondern müssen noch im Volke leben.
b. Sie müssen interessant und bedeutend sein und sich an hervorragende Gregenden und Orte anschliessen.
c. Ihr Inhalt darf den allgemeinen ethischen Zielen der Schulerziehung nicht zuwiderlaufen.
d. Die Lebensverhältnisse in den Sagen müssen für Kinder des fünften Schuljahres verständlich sein oder ihnen durch den Unterricht leicht verständlich gemacht werden können.
Von den nachfolgenden dreizehn Sagen glaube ich, dass sie diesen Anforderungen entsprechen. Sie werden auch als Lehrstoff für ein Tertial völlig ausreichen. Ein blosses Lesen oder Erzählen und Wiedererzählen kann eben nicht genügen; es muss eine eingehende Besprechung des Inhaltes, bei der auch das innere (psychologische) Triebwerk der Handlungen blossgelegt und beurteilt wird, hinzukommen. Mit besonderer Sorgfalt ist das kulturhistorische Material
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zu bearbeiten und zu sammeln. Vielfach wird die engere Heimat Anschauungsstoffe bieten : sie sind aufs eifrigste zu benutzen. Dass die Karte der Rheinprovinz nicht entbehrt werden kann, ist selbstverständlich.
Es wird wohl niemand befremden, dass das Siebengebirge durch drei Sagen ausgezeichnet worden ist. Die Stadt Köln. Rheinlands Metropole, hat eine gleiche Bevorzugung erfahren. Die Sage von den Heinzelmännchen konnte nicht anmutiger erzählt werden, als es Kopisch gethan hat. In ,,Jan un Griet“ erhalten die Kinder eine ergötzliche Probe der Kölner Volksmundart.
Möge das Sagenbüchlein den Lehrenden und den Lernenden Freude bereiten.*)
Elberfeld, am 28. Februar 1898.
Hermann Wendfc.
*) Benutzt wurden:
Karl G-eib, Die Sagen und G-eschichten des Eheinlandes.
Frankfurt am Main 1880, Karl Dünzel.
J. G. Th. G r ä s s e , Sagenbuch des preussischen Staates.
Glogau, Karl Flemming.
Jakob und Wilhelm Grimm, Deutsche Sagen. 2. Aufl.
Berlin 1865—1866, Nicolai.
Dr. Leibing, Sagen und Märchen des bergischen Landes.
Elberfeld 1868, Sam. Lucas.
Montanus. Die Vorzeit der Länder Cleve-Mark, Jülich-Berg und Westfalen. In wissenschaftlicher Umarbeitung neu herausgegeben von Wilhelm von Waldbrühl. Elberfeld 1870, Sam. Lucas.
Alfred fieumont, Rheinlands Sagen, Geschichten und Legenden. 2. Aufl. Köln und Aachen 1844, Ludw. Kohnen. Otto Schell, Bergische Sagen. Elberfeld 1896, Martini & Grüttefien.
Karl Simrock, ’Rheinsagen aus dem Munde des Volkes und deutscher Dichter. 8. Aufl. Bonn 1879, Eduard Weber.
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Extrahierte Personennamen: Hermann_Wendfc Karl_G-eib Karl Karl_Dünzel Karl Karl_Flemming Karl Jakob Wilhelm_Grimm Wilhelm Nicolai Wilhelm_von_Waldbrühl Wilhelm Alfred Kohnen Otto_Schell Otto Martini Karl_Simrock Karl Eduard_Weber Eduard
Die Lurleijungfrau.
alten Zeiten liess sich manchmal um die Abend-dämmerung und beim Mondenschein auf der Lurlei eine Jungfrau sehen, die sang mit so anmutiger Stimme, dass alle, die es hörten, davon bezaubert wurden. Viele, die vorüberschifften, gingen am Felsenriff oder im Strudel zu Grunde, weil sie nicht mehr auf den Lauf ihres Fahrzeuges achteten, sondern durch die himmlischen Töne der wunderbaren Jungfrau gleichsam aus dem irdischen Leben hinweggelockt wurden. Niemand hatte die Jungfrau in der Nähe geschaut als einige junge Fischer; zu diesen gesellte sie sich bisweilen im letzten Abendrot und zeigte ihnen die Stellen, wo> sie ihre Netze auswerfen sollten, und jedesmal, wenn sie dem Rate der Jungfrau folgten, thaten sie einen reichlichen Fang. Die Jünglinge erzählten nun, wohin sie kamen, von der Huld und Schönheit der Unbekannten,, imd die Geschichte verbreitete sich im ganzen Lande.
Ein Sohn des Pfalzgrafen, der damals in der' Gegend sein Hoflager hatte, hörte die wundervolle Mär, und es ergriff ihn eine innige Zuneigung zu der Jungfrau. Unter dem Yorwande, auf die Jagd zu gehen, nahm er den Weg nach Oberwesel, setzte sich dort in einen Nachen und liess sich stromabwärts fahren. Die Sonne -war eben untergegangen, und die ersten Sterne traten am Himmel hervor, als sich das Fahrzeug der Lurlei näherte. „Seht ihr sie dort, die verwünschte-
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Zauberin?“ riefen die Schiffer. Der Jüngling hatte sie aber bereits erblickt, wie sie am Abhange des Felsenberges sass und einen Kranz für ihre goldenen Locken band. Jetzt vernahm er auch den Klang ihrer Stimme. Er nötigte die Schiffer, an das felsige Ufer zu fahren; dann sprang er aus dem Nachen, um zu der Jungfrau hinaufzueilen. Aber er hatte den Sprung zu kurz genommen und versank in dem Strome, dessen schäumende Wogen schauerlich über ihm zusammenschlugen.
Die Nachricht von dieser traurigen Begebenheit kam schnell zu den Ohren des Pfalzgrafen. Schmerz und Wut zerrissen die Seele des armen Vaters. Er erteilte auf der Stelle den strengen Befehl, ihm die Unholdin tot oder lebendig zu überliefern. Einer seiner Hauptleute übernahm es, den Willen des Pfalzgrafen zu vollziehen. Doch bat er es sich aus, dass er die Hexe ohne weiteres in den Rhein stürzen dürfe, damit sie sich nicht vielleicht durch lose Künste wieder aus Kerker und Banden befreie. Der Pfalzgraf war damit zufrieden. Nun zog der Hauptmann gegen Abend aus und umstellte mit seinen Reisigen den Berg. Er selbst nahm drei der Beherztesten aus seiner Schar und stieg die Lurlei hinan. Die Jungfrau sass oben auf der Spitze und hielt eine Schnur von Bernstein in ihrer lilienweissen Hand. Sie sah die Männer herankommen und rief ihnen zu, was sie hier suchten. „Dich, Zauberin!“ antwortete der Hauptmann, „du sollst einen Sprung in den Rhein hinunter machen.“ „Eiu, sagte die Jungfrau lachend, „der Rhein mag mich holen!“ Bei diesen Worten wart sie die Bern-
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steinschnur in den Strom hinab und sang mit schauerlichem Ton:
„Vater, Vater, geschwind, geschwind,
Die weissen Rosse schick deinem Kind,
Es will reiten mit Wogen und Wind.“ Urplötzlich rauschte ein Sturm daher; der Rhein erbrauste, dass weitum Ufer und Höhen mit weissem Gischt bedeckt wurden. Zwei "Wellen, die fast die Gestalt von zwei weissen Rossen hatten, stiegen mit Blitzesschnelle aus der Tiefe zur Kuppe des Felsens empor und trugen die Jungfrau hinab in den Strom, wo sie verschwand.
Jetzt erst erkannten der Hauptmann und seine Knechte, dass die Jungfrau eine Undine sei, der menschliche Gewalt nichts anhaben könne. Sie kehrten betrübten Sinnes zu dem Pfalzgrafen zurück; dort aber fanden sie zu ihrem grossen Erstaunen den totgeglaubten Sohn, den ein Wellenspiel aus dem Strome gehoben und sanft ans Ufer getragen hatte.
Die Lurleijungfrau liess sich von der Zeit an nicht wieder bücken. Doch wohnt sie noch immer auf dem Felsen und neckt die vorüberfahrenden Schiffer, indem sie ihre Reden nachäfft.
Sage vom Laacher See.
Vor vielen, vielen Jahren befand sich in der Mitte des Laacher Sees eine Felseninsel, auf der eine Burg stand. Hier hauste ein gottloser Ritter. Einst trieb diesen das böse Gewissen zu einem Einsiedler, der nahe bei der Kapelle am Ufer des Sees wohnte. Er beichtete seine Sünden, und der Einsiedler legte
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ihm eine schwere Busse auf. Da entbrannte der wilde Zorn des gottlosen Ritters; er fluchte dem Einsiedler und stiess ihm sein Schwert ins Herz. Sterbend sprach der Gottesmann: „Du wirst der Hand des Herrn nicht entrinnen!u
Dies Wort erfüllte den Mörder mit Entsetzen. Er eilte zu seinem Kahne und fuhr schnell nach der Bure;. Hier trank er hastig einen Becher Weins nach dem ändern; aber seine Seelenangst wurde immer grösser. Der Abend kam, und es zogen drohende Gewitterwolken herauf. Der Himmel wurde schwarz, ein Sturm erhob sich. Der Donner rollte, die Blitze zuckten, und der See schäumte und kochte. Die Wellen des Sees wurden immer wilder, und die Felsen, auf denen die Burg stand, begannen zu zittern. Plötzlich leuchtete es hell auf wie glänzendes Sonnenlicht,: ein greller Blitzstrahl traf die Burg, dass sie krachend in die Tiefe des Sees hinunterfuhr, mit ihr der fluchbeladene Ritter und seine Gesellen.
Die Gründung der Stadt Aachen.
Kaiser Karl der Grosse liebte sehr das edle Weidwerk, er pflegte sich damit von seinen schweren Staatsgeschäften zu erholen. Nun waren in der Gegend, wo jetzt die Stadt Aachen liegt, dichte Wälder von grossem Umfange, die mit Sümpfen und Heiden abwechselten. Wilde Tiere gab es hier in Menge. Es war daher nicht zu verwundern, dass der Kaiser, wenn er diese Gegend besuchte, jedesmal auch in den weiten Wäldern jagte. Einst aber hatte er sich, als
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er einen Hirsch verfolgte, weit von seinen Begleitern entfernt. Im Walde umherirrend kam er zu einer in Trümmern liegenden Burg. Als er sie nun näher in Augenschein nehmen wollte, sank plötzlich sein Ross mit den Vorderfüssen in einen Morast. Der Kaiser stieg ab und wollte dem Tiere helfen; da sah er an der Stelle, wo die Füsse des Pferdes den Boden durchbrochen hatten, heisse Dämpfe aufwallen und gleich darauf einen Wasserstrahl aufspritzen. Der fromme Kaiser sank auf die Kniee und dankte Gott für diese Entdeckung ; er erkannte sofort, dass hier eine heilbringende Quelle sei. Er gelobte auch, der Jungfrau Maria hier einen Tempel zu errichten; an dem Orte der Burg-trümmer aber wollte er eine Pfalz bauen lassen. Und so sind die ersten Anfänge zu der Liebfrauenkirche und zu dem Kaiserpalaste in Aachen entstanden.
Siegfried und Mimer.
An einem frischen Morgen zog Jung Siegfried, dem es in der väterlichen Burg zu Xanten nicht mehr behagte, fort in die Feme. Er wanderte rheinaufwärts und kam zum Siebengebirge. In den wilden Bergschluchten und Felsklüften gefiel es ihm gar wohl; denn Furcht kannte Jung Siegfried nicht. Als er munter voranschritt, sah er an einer Stelle lustigen Rauch emporwirbeln. Er ging darauf zu und stand bald vor einer Schmiede, in deren Esse ein mächtiges Feuer loderte.
Hier wohnte Mimer, ein gewandter und berühmter Waffenschmied, aber auch ein sehr arger Mann. Sieg-
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Extrahierte Personennamen: Maria Maria Siegfried Siegfried Siegfried Siegfried Siegfried Siegfried
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fried trat ein und sagte, er wolle auch ein Schmied werden. Da lachten die Gesellen, als sie den jungen Fant sahen. Siegfried, darüber erzürnt, fuhr mit seinem Stecken drein, dass die Burschen bald gegen die Wände und in die Ecken flogen. Nun erschrak Mimer und nahm Siegfried in seine Schmiede auf. Als dieser aber zum Amboss trat und den schweren Hammer in die Hand nahm, schlug er mit einem Streiche die schwerste Eisenstange entzwei, und der mächtige Amboss fuhr tief in den Grund.
Von nun an fürchteten Mimer und seine Gesellen den gewaltigen Jüngling sehr, und sie sannen auf ein Mittel, ihn los zu werden. Darum sprach der arglistige Mimer eines Tages zu Siegfried: „Die Kohlen sind uns zu Ende gegangen; du musst heute nach der hohen Wand am Rheine ausziehen und Kohlen brennen.u Siegfried that, wie ihm geheissen war. Bald war er an der Stelle, die ihm Mimer bezeichnet hatte; er riss eine junge Eiche aus, um sie als Schürbaum zu gebrauchen. Dann schichtete er den Meiler und zündete ihn an. Als er nun so im Schatten einer Linde lag, um ein wenig zu ruhen, da schoss ein greulicher Lindwurm auf ihn zu. Siegfried, nicht faul, wehrte sich tapfer mit seinem Schürbaum, so dass er das Untier zuletzt erschlug. Da riefen ihm die Vögel von den Wipfeln zu: „Bade dich in seinem Blut und Fett, Jung Siegfried, so wirst du hörnen sein!“ Siegfried that, wie ihm geheissen war; aber indem er badete, fiel ihm ein Lindenblatt auf die linke Schulter; darum wurde er an dieser Stelle nicht hörnen. Als er mit dem Baden fertig war, riss er dem Ungetüm das Haupt ab und
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