1900 -
Essen
: Bädeker
- Autor: Windmöller, Friedrich, Schürmann, Franz
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1881
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Berufsbildung
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Erste Abteilung
A. Aus dem religiös-sittlichen -Leben im allgemeinen
und dem Familien- und Lerufsleben im besonderen.
1. Aer Waler an seinen Sohn.
(Bei der Übergabe einer Uhr.)
1. Deine Tag' und Stunden flössen,
Nicht gemessen, nur genossen,
Nicht gezählt nach Schlag und Uhr,
Wie ein Bach durch Wiesenflur.
2. Aber ernster wird das Leben,
Und ich will die Uhr dir geben;
Trage sie, wie ich sie trug,
Unzerbrochen lang genug!
3. Daß sie dir mit keinem Schlage
Von verlornen Stunden sage!
Unersetzlich ist Verlust
Des Geschäfts und auch der Lust.
4. Sohn! der Tag hat Stunden viele,
So zur Arbeit, wie zum Spiele;
Gieb das Seine jedem nur,
Und du frenest dich der Uhr.
5. Selber hab' ich mit den Stunden
Mich so weit nun abgefunden,
Daß ich ohne Glockenschlag
Sie nach Notdurft ordneil mag.
6. Zähle du für mich die Stunden!
Und auch jene, die geschwunden,
Kehren schöner mir zurück,
Wie du sie dir zählst zum Glück.
Rückert.
2. Des Vaters Vermächtnis.
Motto: Gold und Silber habe ich nicht;
was ich aber habe, gebe ich dir
Lieber Johannes!
Die Zeit kommt allgemach heran, dass ich den "Weg gehen muss,
den man nicht wieder kommt. Ich kann Dich nicht mitnehmen und lasse
Dich in einer Welt zurück, wo guter Rat nicht überflüssig ist. Niemand
ist weise von Kindheit an, Zeit und Erfahrung lehren hier und fegen
die Tenne. Ich habe die Welt länger gesehen, als Du. Es ist nicht alles
Gold, lieber Sohn, was glänzt; ich habe manchen Stern vom Himmel
fallen und manchen Stab, auf den man sich verliess, brechen sehen;
darum will ich Dir einigen Rat geben und Dir sagen, was ich gefunden
habe und was die Zeit mich gelehrt hat.
Der Mensch ist hier nicht zu Hause. Diese Welt ist für ihn zu
wenig und die unsichtbare sieht er nicht und kennt sie nicht. Es ist
nicht gleichgültig, ob er rechts oder links gehe. Doch lass Dir nicht
weiss machen, dass er sich raten könne und selbst seinen Weg wisse.
Halte Dich zu gut, Böses zu thun. Hänge Dein Herz an kein ver-
gänglich Ding. Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns lieber Sohn,
sondern wir müssen uns nach ihr richten. Was Du sehen kannst, das
siehe und brauche Deine Augen, über das Unsichtbare und Ewige halte
Dich an Gottes Wort.
Schürmann u. Wlndmöller, Lehr-u. Leseb. f. Fortbildurigs-u. Gewerbesch I. A. 1
1900 -
Essen
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- Autor: Windmöller, Friedrich, Schürmann, Franz
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1881
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Berufsbildung
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Wwwwwwww
|
— 2 —
Scheue niemand so viel, als Dich selbst. Inwendig in uns wohnet
der Richter, der nicht trügt, und an dessen Stimme uns mehr gelegen sein
muss, als an dem Beifall der ganzen Welt. Nimm Dir vor, mein
Sohn, nichts wider seine Stimme zu thun; und was Du sinnest und vor-
hast, frag ihn zuvor um Rat. Er spricht anfangs nur leise und stammelt
wie ein unschuldiges Kind; doch wenn Du seine Unschuld ehrest, löset
er gemach seine Zunge und wird Dir vernehmlicher sprechen.
Lerne gern von andern, und wo von Weisheit, Menschenglück, Licht,
Freiheit, Tugend u. dgl. geredet wird, da höre fleifsig zu. Doch traue
nicht flugs und unbedingt, denn die Wolken haben nicht alle Wasser.
Manche meinen, sie haben die Sache, wenn sie davon reden können und
davon reden. Worte sind nur Worte, und wo sie gar leicht und behende
dahin fahren, da sei auf Deiner Hut. Denn die Pferde, die den Wagen
mit Gütern hinter sich haben, gehen langsameren Schrittes.
Wenn Dich jemand Weisheit lehren will, so siehe in sein Angesicht.
Dünket er sich hoch und sei er noch so gelehrt und noch so berühmt,
laß ihn und seine Kundschaft. Was einer nicht hat, das kann er auch
nicht geben. Der ist nicht frei, der da will thun können, was er
will; sondern der ist frei, der da wollen kann, was er thun soll. Wenn
es Dir um Weisheit zu thun ist, so suche sie und nicht das Deine,
brich Deinen Willen und erwarte geduldig die Folgen.
Denk oft an heilige Dinge und sei gewiss, dass es nicht ohne Vor-
teil für Dich abgeht und der Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert.
Verachte keine Religion, denn Du weifst nicht, ob der Träger nicht
ein Gott liebendes Herz im Busen und thätige, christliche Nächstenliebe
in den Fingern sitzen hat.
Lehre nicht andere, bis Du selber gelehrt bist. Nimm Dich der
Wahrheit an, wenn Du kannst, und lass Dich gern ihretwegen hassen.
Thue das Gute still für Dich hin und bekümmere Dich nicht, was
daraus wird. Wolle nur einerlei und das wolle von Herzen!
Sorge für Deinen Leib, doch nicht so, als wenn er deine Seele wäre.
Gehorche der Obrigkeit und lass die andern über sie streiten.
Sei rechtschaffen gegen jedermann, doch vertraue Dich nicht jeder-
mann. Mische Dich nicht in fremde Dinge, aber die Deinigen thue mit
Fleiss. Ehre einen jeden nach seinem Stande und lass ihn sich schämen,
wenn er’s nicht verdient.
Werde niemand etwas schuldig, doch sei zuvorkommend, als ob sie
alle Deine Gläubiger wären. Wolle nicht immer großmütig sein, aber
gerecht sei immer. Mache niemand graue Haare; doch wenn Du recht
thust, hast Du um die Haare nicht zu sorgen. Hilf und gieb gern, wenn
Du hast, und dünke Dich darum nicht mehr; aber wenn Du nicht hast,
so habe den Trunk kalten Wassers zur Hand und dünke Dich darum
nicht weniger.
Hänge Dich an keinen Grossen. Sitze nicht, wo die Spötter sitzen,
denn sie sind die elendesten aller Kreaturen. Nicht die frömmelnden,
aber die frommen Menschen achte und gehe ihnen nach. Ein Mensch,
der wahre Gottesfurcht im Herzen hat, ist wie die Sonne, die da scheinet
und wärmet, wenn sie auch nicht redet. Thu’ was des Lohnes wert
ist, aber halte nicht nach jeder That die Hand auf. Wenn Du Not hast,
so klage sie Gott. Habe immer etwas Gutes im Sinne.
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- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
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4. Durch Schaden wird man klug.
Ein Landmann hatte durch Fleiss und Sparsamkeit sich ein recht
artiges Vermögen erworben und gedachte nun, seine alten Tage in Ruhe
zu verleben. Da kam eines Tages ein Bekannter zu ihm, mit dem er
früher öfters kleine Geschäfte gemacht hatte und sagte zu ihm: „Guter
Freund, ich bin in grosser Verlegenheit; aber wenn Ihr wolltet, könntet
Ihr mir wohl helfen. Ich muss eine kleine Summe Geldes bezahlen, die
ich augenblicklich nicht habe. Ihr braucht mir aber nicht etwa das Geld
zu geben; wolltet Ihr nur diesen Zettel unterschreiben, so brächtet Ihr
mich aus aller Sorge." Der gutmütige Bauer, welcher in seiner Jugend
nicht genug gelernt hatte und nicht wusste, was der Zettel zu bedeuten
hatte, unterschrieb denselben ohne zu überlegen und freute sich, dass er
seinem Bekannten auf so leichte Art hatte aus der Not helfen können.
Er sollte seine Unvorsichtigkeit und Unwissenheit schwer hülsen. Nicht
lange nachher wurde er von einem Kaufmanne, der in einer benach-
barten Stadt wohnte, aufgefordert, eine grosse Geldsumme zu bezahlen.
„Ich bin ja niemandem etwas schuldig," antwortete er. „Ihr habt aber einen
Wechsel für einen guten Bekannten unterschrieben," erwiderte man ihm;
„den müsst Ihr jetzt einlösen, Ihr mögt wollen oder nicht." Voller Angst
zog nun der Landmann einen Rechtsgelehrten zu rate. Dieser konnte ihm
aber nicht helfen; denn die einmal gegebene Unterschrift hatte Gültigkeit.
Der Landmann musste bezahlen und fast sein ganzes Vermögen aufopfern.
Jetzt sah er ein, wie thöricht er gehandelt hatte; aber seine Reue kam
zu spät. Unwissenheit und Unklugheit hatten ihm grossen Schaden, ja
Kummer und Not gebracht. Oft warnte er nun Freunde und Nachbarq
davor, unbedacht ihre Unterschrift herzugeben; oft ermahnte er die
Kinder, in der Schule steissig zu lernen, damit sie nicht später Betrügern
in die Hände fielen, und damit ihre Unwissenheit ihnen nicht Schaden
und Verdruss bringe. Elsässer Lesebuch.
5. Lerne was, so kannst du was!
Man Hält es öfter für unrecht, wenn man tnehr lernt, als man in
Zukunft zu brauchen meint, und die meisten wollen nur so viel lernen, als
sie dereinst nötig zu haben glauben. Wenn aber einer nicht niehr Rettich-
körner stecken wollte, als er künftig Rettiche bekommen will, so würde es ihm
gewiß fehlen, da eben nicht alles aufgeht, was man in die Erde legt. So
geht es auch beim Lernen; denn es bleibt nicht alles, was man lernt. Daher
muß man so viel in seiner Jugend lernen, daß auch etwas davon verloren
gehen kann. Zitdem kann man nicht wissen, was man in Zukunft brauchen
wird. Man wird auch keinen gescheiten Menschen klagen hören, daß er zu
viel gelernt habe, sondern vielmehr, daß es ihn reue, nicht mehr gelernt zu
haben. Bettelleute haben zu ihrer Haushaltung nicht viel nötig; wenn man
aber eine rechte Haushaltung führen will, so wird viel dazu erfordert.
F tätlich.
6. Erklärung einiger Sprichwörter.
1. Wo nichts ist, kommt nichts hin. Was nicht ist, das kann werden.
Von zwei unbemittelten Brüdern hatte der eine keine Lilst und keinen
Mut, etwas zu erwerben, weil ihm das Geld nicht zu den Fenstern herein-
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er seinem Kameraden noch für einen Liebesdienst zu verdanken habe. Der
Schneider musste dann seine Erlebnisse auch erzählen und die Gäste gewannen
ihn so lieb, dass sie durchaus darauf bestanden, er solle sich in diesem
Dorfe niederlassen und ihr Schneider werden. Der Schmied jauchzte
darüber laut und versprach, ihn mit Geld zu unterstützen, so viel er
könne. Er hielt auch Wort; der Schneider fand sein reichliches Brot
im Dorfe, verheiratete sich mit einer braven Frau und lebte froh und
glücklich. Oldenbuger Volkskalender.
8. I>ie Würgschaft.
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Möros, den Dolch im Gewände;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche? sprich I"
Entgegnet ihm finster der Wüterich —
„Die Stadt vom Tyrannen befreien!" —
„Das sollst du am Kreuze bereuen."
„Ich bin," spricht jener, „zu sterben bereit
Und bitte nicht um mein Leben;
Doch willst du Gnade mir geben,
Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
Ich lasse den Freund dir als Bürgen;
Ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen."
Da lächelt der König mit arger List
Und spricht nach kurzem Bedenken:
„Drei Tage will ich dir schenken;
Doch wisse I wenn sie verstrichen die Frist,
Eh' du zurück mir gegeben bist,
So muß er statt deiner erblassen;
Doch dir ist die Strafe erlassen."
Und er kommt zum Freunde: „Der König
gebeut,
Daß ich am Kreuz mit dem Leben
Bezahle das frevelnde Streben;
Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
So bleib' du dem König zum Pfande,
Bis ich komme, zu lösen die Bande."
Und schweigend umarmt ihnder treuefreund
Und liefert sich aus dem Tyrannen;
Der andere ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester
vereint,
Eilt heim mit sorgender Seele,
Damit er die Frist nicht verfehle.
Da gießt unendlicher Regen herab,
Von den Bergen stürzen die Duellen,
Und die Bäche, die Ströme schwellen;
Und er kommt ans User mit wanderndem Stab,
Da reißt die Brücke der Strudel hinab,
Und donnernd sprengen die Wogen
Des Gewölbes krachenden Bogen.
Und trostlos irrt er au Ufers Rand;
Wie weit er auch spähet und blicket
Und die Stimme, die rufende, schicket:
Da stößet kein Nachen vom sichern Strand,
Der ihn setze an das gewünschte Land;
Kein Schiffer lenket die Fähre,
Und der wilde Strom wird zum Meere.
Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht,
Die Hände zum Zeus erhoben:
„O hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag steht
Die Sonne, und wenn sie niedergeht,
Und ich kann die Stadt nicht erreichen,
So muß der Freund mir erbleichen."
Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut,
Und Welle auf Welle zerrinnet,
Und Stunde um Stunde entrinnet;
Da treibt ihn die Angst, da faßt er sich Mut
Und wirft sich hinein in die brausende Flut
Und teilt mit gewaltigen Armen
Ten Strom, — und ein Gott hat Erbarmen —
Und gewinnt das Ufer und eilet fort
Und danket dem rettenden Gotte.
Da stürzet die raubende Rotte
Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort,
Den Pfad ihn sperrend, und schnaubet Mord
Und hemmet des Wanderers Eile
Mit drohend geschwungener Keule.
„Was wollt ihr?" ruft er vor Schrecken bleich,
„Ich habe nichts als mein Leben,
Das muß ich dem Könige geben!"
Und entreißt die Keule dem nächsten gleich:
„Um des Freundes willen erbarmet euch!"
Und drei mit gewaltigen Streichen
Erlegt er, die andern entweichen.
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Und die Sonne versendet glühenden Brand,
Und von der unendlichen Mühe
Ermattet, sinken die Kniee.
„£>, hast du mich gnädig aus Räubershand,
Aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land,
Und soll hier verschmachtend verderben,
Und der Freund mir, der liebende, sterben!"
Und horch! da sprudelt es silberhell,
Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen,
Und stille hält er, zu lauschen;
Und sieh, aus dem Felsen geschwätzig, schnell
Springt murmelnd hervor ein lebendigerl)uell,
Und freudig bückt er sich nieder
Und erfrischet die brennenden Glieder.
Und die Sonne blickt durch derzweige Grün
Und malt auf den glänzenden Matten
Der Bäume gigantische Schatten;
Und zwei Wanderer sieht er die Straße ziehn,
Will eilenden Laufes vorüber fliehn,
Da hört er die Worte sie sagen:
„Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen "
Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß,
Ihn jagen der Sorgen Dualen!
Da schimmern in Abendrots Strahlen
Von ferne die Zinnen von Syrakus,
Und entgegen kommt ihm Philostratus,
Des Hauses redlicher Hüter,
Ter erkennet entsetzt den Gebieter:
„Zurück! du rettest den Freund nicht mehr,
So rette das eigene Leben!
Den Tod erleidet er eben.
Von Stunde zu Stunde gewartet' er
Mit hoffender Seele der Wiederkehr;
Ihn konnte den mutigen Glauben
Ter Hohn des Tyrannen nicht rauben." —
„Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht
Ein Retter willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen!
Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht,
Daß der Freund dem Freunde gebrochen die
Pflicht;
Er schlachte der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue!"
Und die Sonne geht unter, — da steht
er am Thor
Und sieht das Kreuz schon erhöhet,
Das die Menge gaffend umstehet;
Andemseileschonziehtmandenfreund empor;
Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
„Mich, Henker!" ruft er, „erwürget!
Da bin ich, für den er gebürget!"
Und Erstaunen ergreift das Volk umher,
In den Armen liegen sich beide
Und weinen vor Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge thränenleer,
Und zum Könige bringt man die Wundermär;
Der fühlt ein menschliches Rühren,
Läßt schnell vor den Thron sie führen —
Und blickt sie lange verwundert an.
Draus spricht er: „Es ist euch gelungen,
Ihr habt das Herz mir bezwungen;
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn;
So nehmet auch mich zum Genossen an:
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der drittel" Schiller.
9. I>er Lieöe Aauer.
O lieb', so lang' du lieben kannst!
O lieb', so lang' du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst!
Und sorge, daß dein Herze glüht
Und Liebe hegt und Liebe trägt,
So lang' ihm noch ein ander Herz
In Liebe warm entgegenschlägt.
Und wer dir seine Brust erschließt,
O thu' ihm, was du kannst, zu lieb'!
Und mach' ihm jede Stunde froh,
Und mach' ihm keine Stunde trüb'.
Und hüte deine Zunge woht,
Bald ist ein böses Wort gesagt!
O Gott, es war nicht bös gemeint, —
Der andre aber geht und klagt.
O lieb', so lang' du lieben kannst!
O lieb', so lang' du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst.
Dann kniest du nieder an der Gruft
Und birgst die Augen, trüb und naß,
Sie seh'n den andern nimmermehr —
Ins lange, feuchte Kirchhofsgras.
Und sprichst: „O schau' auf mich herab,
Der hier an deinem Grabe weint!
Vergieb, daß ich gekränkt dich hab'!
O Gott, es war nicht bös gemeint!"
Er aber sieht und hört dich mcht,
Kommt nicht, daß du ihn froh umfängst;
Der Mund, der oft dich küßte, spricht
Nie wieder: „Ich vergab dir längst!"
Freiligrath.
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wissen," sagte ein Freund,„warum du gerade dieser: Krraben, der doch keinen
einzigen Empfehlungsbrief hatte, bevorzugtest?" — „Du irrst", lautete die
Antwort; „dieser Knabe hat viele Empfehlungen. Er putzte seine Füße ab,
ehe er ins Zimmer trat, und machte die Thür zu; er ist daher sorgfältig.
Er gab ohne Besinnen seinen Stuhl jenem alten lahmen Mamre, was seine
Herzensgüte und Aufmerksamkeit zeigt. Er nahm seine Mütze ab, als er
herein kam, und antwortete auf meine Frage schnell und sicher; er ist also
höflich und hat Lebensart. Er hob das Buch auf, welches ich absichtlich auf
deu Boden gelegt hatte, während alle übrigen dasselbe zur Seite stießen oder
darüber stolperten. Er wartete ruhig und drängte sich nicht heran, — ein
gutes Zeugnis für sein anständiges Beirehmen. Ich bemerkte ferner, daß
sein Rock gut ausgebürstet und seine Hände und fein Gesicht rein waren.
Nennst du dies alles keinen Enrpfehlungsbrief? Ich gebe mehr darauf, was
ich von einem Menschen weiß, nachdem ich ihn zehn Minuten lang gesehen,
als auf das, was in schön klingenden Empfehlungsbriefen geschrieben steht."
Magdeb. Ztg.
13. vor Eintritt; in das Geschäft.
Anton trat mit klopfendem Herzen in den Hausflur und lockerte den
Brief seines Vaters in der Brusttasche. Er war sehr kleinmütig geworden,
und sein Kopf war so schwer, dass er sich am liebsten einen Augenblick
hingesetzt hätte, um auszuruhen. Aber wie Ruhe sah es in dem Hause
nicht aus. Vor der Thür stand ein grosser Frachtwagen, in dem Hause
standen mächtige Fässer und Ballen, und riesengrofse, breitschultrige Männer
mit Lederschürzen und kurzen Haken im Gürtel trugen Leiterbäume, klirrten
mit Ketten, rollten die Fässer und schnürten dicke Stricke durch künst-
liche Knoten zusammen. Dazwischen eilten Ilandlungsgehülfen, die Feder
hinter dem Ohr, Papier in der Hand, ab und zu, und Fuhrleute in blauen
Kitteln nahmen die Papiere, die Ballen und die Fässer in Empfang mit
der geschäftlichen Würde, welche die Thätigkeit aller verantwortlichen
Menschen zu bezeichnen pflegt. Hier war kein Ort der Ruhe, Anton
Stiels an einen Ballen, siel beinahe über einen Hebebaum und wurde durch
das „Vorgesehen!“, welches ihm zwei Männer mit Lederschürzen zuriefen,
noch mit Mühe vor dem Schicksale bewahrt, unter einer grossen Öltonne
plattgedrückt zu werden.
Im Mittelpunkte der Bewegung, gleichsam als Sonne, um welche sich
die Fässer, die Arbeiter und Fuhrleute herumdrehten, stand ein junger
Herr aus dem Geschäft, ein Herr mit entschlossener Miene und kurzen
Worten, welcher als Zeichen seiner Herrschaft einen grossen schwarzen
Pinsel in der Hand hielt, mit dem er bald riesige Hieroglyphen auf die
Ballen malte, bald den Aufladern ihre Bewegungen vorschrieb. Diesen
Herrn fragte Anton mit klangloser Stimme nach dem Herrn des Geschäfts
und wurde durch eine kurze Bewegung des Pinselstiels in den hinteren
Teil des Hausflurs nach dem Kontor gewiesen. Zögernd trat Anton an
die Thür, es kostete ihn einen grossen Entschluss, den Griff mit der Hand
zu drehen, und als die Thür geräuschlos aufging und er in das Dämmer-
licht der grossen Arbeitsstube sah, da wurde ihm so angst, dass er kaum
über die Schwelle schreiten konnte. Sein Eintritt machte wenig Aufsehen.
Ein halbes Dutzend Schreiber fuhren hastig mit den Federn über die
blauen Briefbogen, um noch die letzten Züge vor dem Schlüsse des Geschäfts
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guten Freundes von ihm, der aus dem Geschäft geschieden sei und sich
selbständig gemacht habe. Es war ein sehr kleines Zimmer, die Möbel
einfach und nicht neu, aber alles war sauber und freundlich.
Herr Jordan eilte in das Geschäftszimmer zurück, in welchem er der
erste und letzte sein musste, weil ihm ein Teil der Schlüssel anvertraut
war. Anton blieb allein und benutzte die Zeit, seine Kleider etwas zu
ordnen, und er war eben damit fertig, als zahlreiche Tritte auf der Treppe
verkündigten, dass seine Mitarbeiter aus dem Geschäft in ihre Zimmer eilten.
Wieder erschien der grüne Herr und forderte nun Anton auf, mit
ihm seinen zukünftigen Mitarbeitern einen Besuch abzustatten. Bald
darauf stiegen beide die Treppe hinunter.
Anton stand unter der gemeinsamen Oberhoheit der Herren Jordan
und Pix und entdeckte bald, dass er die Ehre hatte, kleiner Untergebener
eines grossen Staatskörpers zu sein. Was die unerfahrene Aufsenwelt
höchst oberflächlich unter dem Namen Handlungsgehülfe zusammenfasst,
das waren für ihn, den Eingeweihten, sehr verschiedene, zum Teil Ehrfurcht
gebietende Ämter und Würden. Der Buchhalter, Herr Liebold, thronte
als geheimer Minister des Hauses an einem Fenster des zweiten Zimmers
in einsamer Majestät und geheimnisvoller Thätigkeit. Unaufhörlich schrieb
er Zahlen in ein grosses Buch und sah nur selten von seinen Ziffern auf,
wenn sich ein Sperling auf die Gitterstäbe des Fensters setzte, oder wenn
ein Sonnenstrahl die eine Fensterecke mit gelbem Glanze überzog.
Gegen die Ruhe seiner Ecke stach die ewige Rührigkeit in der
entgegengesetzten ab. Dort waltete in besonderem Verschlage der zweite
Würdenträger, der Kassenwart Purzel, umgeben von eisernen Geldkästen,
schweren Geldschränken und einem grossen Tisch mit einer Steinplatte.
Auf diesem Tisch klangen die Thaler, klirrte das goldene Blech der Dukaten,
flatterte geräuschlos das graue Papiergeld vom Morgen bis zum Abend.
Wer die Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit als sinnbildliche Figur in
Öl malen wollte, der müsste ohne Widerrede Herrn Purzel abmalen.
Alles hat in der Seele des Herrn Purzel eine eisenfeste unveränderliche
Stellung, unser Herrgott, die Firma, der grosse Geldkasten, der Wachs-
stock, das Petschaft. Jeden Morgen, wenn der Kassenwart in seinen
Verschlag getreten war, begann er seine Amtsthätigkeit damit, dass er
die Feder ergriff und einen Punkt auf den Tisch malte, um der Kreide
die Stelle bezeichnen, wo sie sich den Tag über aufzuhalten habe.
Er stand nicht allein in seiner wichtigen Amtsthätigkeit. Ein alter
Hausdiener war sein Bote, der als Ausläufer mit Geldsäcken und Papier-
geld den Tag über nach allen Richtungen der Stadt trabte und mit der
grössten Gewissenhaftigkeit sich seiner Aufträge entledigte.
In dem vorderen Kontor war Herr Jordan die erste Person. Er war der
erste Handlungsgehülfe des Hauses, hatte die Geschäftsvollmacht (Prokura)
und wurde von dem Herrn zuweilen um seine Ansicht befragt. Er blieb
für Anton, was er ihm schon am ersten Tage gewesen war, ein treuer
Ratgeber, ein Muster von Thätigkeit, der gesunde Menschenverstand
in Person.
Von den Berichterstattern des Geschäfts, welche unter Anführung
des Herrn Jordan Briefe schrieben und Bücher führten, war für Anton
am anziehendsten Herr Baumann, ein sehr guter Rechner. Er war
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untrüglich in allen Umrechnungen von Mass und Gewicht, warf die
Preise der Waren aus und besorgte die Kostenüberrechnung des Geschäfts.
Er wusste mit Bestimmtheit anzugeben, nach welchem Münzsusse die
Mohrenfürsten an der Goldküste rechneten, und wie hoch der Kurs eines
preussischen Thalers auf den Sandwichinseln stand.
Herr Baumann war Antons Stubennachbar und fühlte sich durch die
gute Art unseres Helden so angezogen, dass er ihm in kurzer Zeit seine
Neigung zuwandte und in den Abendstunden zuweilen seinen Besuch gönnte.
Auch ausserhalb des Hauses hatte die Firma noch einige Würden-
träger. Da war Herr Birnbaum, der Zollgehülfe, welcher nur selten im
Geschäftszimmer sichtbar wurde und nur des Sonntags am Tische des
Herrn erschien, ein pünktlicher Mann, der draussen auf dem Packhofe
herrschte. Er hatte die Vollmacht zur Erledigung des Zolls für die
Geschäfte nach dem Auslande, das wichtige Recht, den Namen T. 0.
Schröter unter die Begleitscheine des Hauses zu setzen. Wenn einer von
den Herren der Handlung den Namen eines Beamten verdiente, so war
es dieser Herr.
Ferner war da der Lagerverwalter des Geschäfts, der die Überwachung
der verschiedenen Lagerräume in der Stadt hatte, die Versicherungen
besorgte und auf dem Markte die grossen Einkäufe in Landeserzeugnissen
machte. Herr Baibus war durchaus kein feiner Mann, er war von Haus
aus sehr arm, und seine Schulbildung war mangelhaft, aber der Herr des
Geschäfts behandelte ihn mit grosser Achtung. Anton erfuhr, dass er
seine Mutter und eine kranke Schwester durch sein Gehalt erhielt.
Aber die grösste Thätigkeit unter allen entwickelte Herr Pix, erster
Geschäftsführer des Provinzialgeschäfts. An der Thür des vorderen Geschäfts-
zimmers begann seine Herrschaft und erstreckte sich durch das ganze
Haus, bis weit hinaus auf die Strasse. Er war der Gott aller Klein-
krämer au« der Provinz, die ihre laufenden Rechnungen hatten, galt bei
ihnen für den Herrn des Hauses und erwies ihnen dafür die Ehre, sich
um ihre Frauen und Kinder zu bekümmern. Er hatte die ganze Ver-
sendung der Handlung unter sich, befehligte ein halbes Dutzend Haus-
knechte und ebenso viele Auflader, schalt die Fuhrleute, kannte und
wusste alles, war immer auf dem Platze und verstand es, in demselben
Augenblicke einer Krämersfrau zur Hochzeit ihrer Tochter Glück zu
wünschen, einen Bettler gröblich anzufahren, einem Hausknecht Befehl zu
geben und das Zünglein an der grossen Wage zu beobachten. Wie alle
hohen Herren, konnte auch er keinen Widerspruch vertragen und verfocht
seine Ansicht selbst gegen den Herrn mit einer Hartnäckigkeit, die bei
unserem Anton einigemal Entsetzen erregte. Ausserdem besass Herr Pix
als Geschäftsmann zwei Eigenschaften von wahrhaft wissenschaftlicher
Bedeutung: er konnte von jedem Häufchen Kaffeebohnen angeben, in
welchem Lande sie gewachsen waren, und vermochte leere Räume im
Hause und dessen Umgegend ebensowenig zu vertragen, wie die Luft.
Wo ein Winkel, eine kleine Kammer, ein Treppenverschlag, ein Kellerloch
aufzuspüren war, da siedelte sich Herr Pix mit Tonnen, Leiterbäumen,
Stricken und allen erdenklichen Stoffen an, und wo er und seine Bande,
die Riesen, sich einmal festgesetzt hatten, vermochte sie keine Gewalt
der Erde zu vertreiben, selbst der Herr des Geschäfts nicht.
Hach Gustav Freytag. (Aus „Soll und Haben“)
1900 -
Essen
: Bädeker
- Autor: Windmöller, Friedrich, Schürmann, Franz
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1881
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Berufsbildung
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Da sah er zwei Frauen von hoher Gestalt auf sich zukommen. Die
eine war^ schön itub edel, Reinheit war ihres Leibes, Schamhaftigkeit ihrer
Augen, Sittsamkeit ihrer Haltung Schmuck; ihre Kleidung war weiß. Die
andere war üppig und die Farbe geschminkt; die Augen hatte sie weit offen;
wiederholt sah sie sich selbst an, aber auch um, ob sie auch ein anderer beschaue;
oft sah sie auch nach ihrem eigenen Schatten. Als beide an Herkules heran-
gekommen waren, ging die zuerst Genannte ruhig in ihrem Schritte weiter,
die andere aber, um zuvorzukommen, lief auf Herkules zu und sagte:
„Ich sehe, Herkules, daß du unschlüssig bist, welchen Lebensweg du ein-
schlagen sollst; wenn du nun mich zur Freundin nimmst, dann werde ich dich
den angenehmsten und bequemsten Weg führen; keine Lust soll dir verloren
gehen und von Beschwerden sollst du verschont bleiben."
Als Herkules dies hörte, fragte er: „Wie heißt du, Weib?" Sie ant-
wortete: „Meine Freunde nennen mich Glückseligkeit, meine Feinde dagegen
Lasterhaftigkeit."
Inzwischen war auch die andere Frau herangekommen und sagte: „Wenn
du den Weg zu mir einschlägst, so wirst du gewiß ein tüchtiger Vollbringer
edler und erhabener Thaten werden. Ich will dich aber nicht durch Vor-
gaukeln von Genüssen täuschen, sondern dir das Leben, wie es die Götter
angeordnet haben, der Wahrheit gemäß schildern. Von dem Guten und wahrhaft
Schönen geben die Götter den Menschen nichts ohne Mühe und Fleiß. Willst
du, daß die Götter dir gnädig seien, so mußt du sie ehren; willst du von deinen
Freunden geliebt werden, so mußt du ihnen Gutes erweisen; willst du vom
Staate geehrt werden, so mußt du dem Staate nützlich werden; möchtest du
auch körperlich kräftig sein, so mußt du deinen Körper gewöhnen, dem Geiste
zu gehorchen und unter Anstrengungen und Schweiß ihn abhärten."
Hier fiel ihr die Lasterhaftigkeit ins Wort und sagte: „Merkst du nun
wohl, Herkules, was für einen schweren und langen Weg zum Lebensgenüsse
dich dies Weib da führen will? Ich dagegen werde dich einen bequemen
und kurzen Weg zur Glückseligkeit führen."
Darauf sagte die Tugend: „Du Elende, was hast du denn Gutes, oder
was kennst du Angenehmes, wenn du dich nicht entschließen kannst, etwas
dafür zu thun? Wartest du doch nicht einmal das Verlangen nach dem
Genuß ab; du ißt, ehe dich hungert, trinkst, ehe dich dürstet. Damit das
Essen dir schmecke, hast du die Hülfe von Köchen nötig; um mit Lust zu
trinken, schaffst du dir kostbare Weine an, und um sauft schlafen zu können,
hast du noch nicht an den reichen Decken genug, sondern du schaffst dir auch
weiche Betten und Schaukelbettstellen an, denn nicht weil du arbeitest, sondern
weil du nichts zu thun hast, verlangst du nach dem Schlafe.
Das Alleraugeuehmste, was man hören kann, dein eigenes Lob, bekommst
du nicht zu hören, und das Alleraugeuehmste, was man sehen Faun, bekommst
du nicht zu sehen, denn du hast noch nie eine von dir selbst rühmlich voll-
brachte That gesehen. Wer möchte, wenn du etwas sagst, dir glauben?
Wer, wenn du es nötig hast, dir helfen? Welcher Verständige könnte es
über sich gewinnen, in die Gesellschaft deiner Verehrer zu treten, die in
ihrer Jugend körperlich schwach, im Alter blöde sind? ,
Ich dagegen verkehre mit guten Menschen. Keine rühmliche That wird ohne
mich vollführt; man ehrt mich über alles bei allen Menschen, denen Ehre zur
Zierde gereicht. Ich bin eine beliebte Mitarbeiterin den Künstlern, eine treue
1900 -
Essen
: Bädeker
- Autor: Windmöller, Friedrich, Schürmann, Franz
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1881
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Berufsbildung
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Wächterin des Hauses, eine gute Gehülfin an den Geschäften des Friedens, eine
zuverlässige Mitkämpferin im Kriege und die beste Genossin in der Freundschaft."
Diese Worte ergriffen das Herz des Herkules; er fühlte, daß er Ehren-
volles ans Erden vollbringen müsse. So entschloß er sich schnell; er stieß
die zudringliche Wollust zurück und reichte der Tugend die Hand. Diese
führte ihn rauhe Pfade, in zwölffacher Arbeit prüfte sie seinen Willen und
seine Kraft, aber sie machte ihn auch zum Wohlthäter des Menschengeschlechtes,
zum ersten Helden seines Volkes, von dem alle Dichter sangen.
(Aus Tenophons Erinnerungen an Sokrates.)
17. Are Ueujahrsriacht eines Unglücklichen.
Ein alter Mann stand in der Neujahrsmitternacht am Fenster und schaute
mit dem Blicke einer bangen Verzweiflung auf zum unbeweglichen, ewig
glühenden Himmel und herab auf die stille, reine, weiße Erde, worauf jetzt
niemand so freuden- und schlaflos war, als er. Denn sein Grab stand nahe
bei ihm; es war bloß vom Schnee des Alters, nicht vom Grün der Jugend
verdeckt, und er brachte ans den: ganzen reichen Leben nichts mit als Jrrtünwr,
Sünden und Krankheiten, einen verheerten Körper, eine verödete Seele, die
Brust voll Gift und ein Alter voll Reue. Seine schönen Jugendtage wandten
sich heute als Gespenster um, und zogen ihn wieder vor den holden Morgen
hin, wo ihn sein Vater zuerst auf den Scheideweg des Lebens gestellt hatte,
der rechts auf die Sonnenbahn der Tugend in ein weites, ruhiges Land,
voll Licht und Ernten und voll Engel, bringt, und welcher links in die
Maulwurfsgänge des Lasters hinabzieht, in eine schwarze Höhle voll herunter-
tröpfelnden Giftes, voll zischelnder Schlangen und finsterer, schwüler Dämpfe. —
Ach, die Schlangen hingen un: seine Brust, und die Gifttropfen auf seiner
Zunge, und er wußte nun, wo er war. Sinnlos und mit unaussprechlichem
Grame rief er zum Himmel hinauf: „Gieb mir meine Jugend wieder! O Vater,
stelle mich auf den Scheideweg wieder, damit ich anders wähle!" Aber sein
Vater und seine Jugend waren längst dahin. Er sah Irrlichter auf Sümpfen
tanzen und auf den: Gottesacker erlöschen, und er sagte: „Es sind dies meine
thörichten Tage!" — Er sah einen Stern aus den: Himmel fliehen und im
Falle schimmern und auf der Erde zerrinnen. „Das bin ich," sagte sein
blutendes Herz, und die Schlangenzähne der Reue gruben darin in den Wunden
weiter. Die lodernde Einbildung zeigte ihm schleichende Nachtwandler aus
den Dächern, und die Windmühle hob drohend ihre Arme zum Zerschlagen
auf, und eine im Totenhause zurück gebliebeue Larve nahm allmählich seine
Züge an. Mitten in dem Kampfe floß plötzlich die Musik für das Neujahr
von: Turme hernieder, wie ferner Kirchengesang. Er wurde sanfter bewegt.
Er schaute um den Gesichtskreis herum und über die weite Erde, und er
dachte an seine Jugendfreunde, die nun glücklicher und besser, als er, Väter
glücklicher Kinder und gesegnete Menschen waren, und er sagte: „O, ich könnte
auch, wie ihr, diese erste Nacht mit trocknen Augen verschlummern, wenn ich
gewollt hätte! Ach, ich könnte glücklich sein, ihr teuern Eltern, wenn ich eure
Neujahrswünsche und Lehren erfüllt hätte!" Im fieberhaften Erinnern au
seine Jugendzeit kam es ihm vor, als richte sich die Larve :nit seinen Zügen
im Totenhause auf; endlich wurde sie durch Aberglauben, der in der Neujahrs-
nacht Geister und Zukunft erblickt, zu einem lebendigen Jünglinge, der sich
einen Dorn auszieht, und seine vorige blühende Gestalt wurde ihm bitter
vorgegaukelt. Er konnte es nicht inehr sehen, er verhüllte das Auge, tausend
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