509
Ditmarse und fuhr den Bittenden so an: „Was meint er wohl? ich sollte einem
mir ganz fremden Menschen meinen Hof überlassen? Wie kann er glauben, darauf
fortzukommen, da er nichts in Vermögen hat? Was? Wie? sage er mir das doch?"
„Durch Fleiß und Gottes Hülfe", sagte Parren. „Ja, das haben mir schon viele
versprochen, aber nicht gehalten", erwiderte Boje. „Nein! daraus wird nichts."
„Nun so Gott befohlen, Herr Boje", sagte Parren und ging.
Doch bald wurde Boje anderen Sinnes; er ließ ihn zurückrufen und sagte:
„Ich habe mich bedacht; er mag sogleich denhof beziehen; allein er muß auch sein
Versprechen halten."
Parren trat denhof an und wirthschaftete gut. Allein das Land war zu ver-
wildert und sein Vermögen zu gering, um es in Ordnung zu bringen, die Jahre
so unfruchtbar und seine Ernte so geringe, daß er Boje nichts bringen konnte. Um
das Vieh in der Fenne (Koppel) zu halten, hatte er den Befriedigungsgraben kleien
(d. h. Marschthon ausgraben) lassen müssen, wobei durch Zufall ein Spat aus
dem Boden über die Fenne geworfen war. Auf dieser Stelle wuchs hernach der
Hafer so stark, daß Parren nach der Ursache forschte und sie in der Erdart fand.
Allein, was half es ihm, er hatte kein Geld dazu, um die Erdart in großer Menge
herauskleien zu lassen. Er ging zu Boje und sagte traurigen Angesichts, daß er
ihm den Hof wieder überlassen müsse, weil er nichts darauf gebaut habe. Doch
hätte er ein Mittel entdeckt, das Land wieder in Ordnung zu bringen. In einer
gewissen Tiefe befinde sich eine Art Kleie, womit sich dem Acker eine Fruchtbarkeit
ohnegleichen mittheilen lasse. Hätte er nur das Geld dazu, sie herauszugraben,
würde er den Hof gerne behalten; aber er schäme sich es dem Herrn Boje zuzu-
muthen, ihm zu diesem Zwecke 200 Thaler zu leihen. „So sieht er doch selbst ein",
sagte Boje, „daß dieses eine unbescheidene Zumuthung ist. Daherthut er denn auch
besser, daß er sich fortmacht und an einen anderen wendet, der ein solches Unter-
nehmen, als er mir da vormacht, besser beurtheilen kann." Parren ging; aber
Boje ließ sich die Sache durch den Kopf gehen und entschloß sich, es noch einmal
mit dem Drews zu wagen. Er rief ihn und sagte: „Da ist das Geld, was er ver-
langt. Seine Handschrift verlange ich nicht, denn er hat doch nichts weiter zu ver-
schreiben, als seine Ehrlichkeit." Parren aber wollte zuerst nur 100 Thaler leihen
und ließ die anderen liegen. Er fing nun sogleich an auf einer seiner Fennen zu
pütten (tiefgraben); alle Nachbarn konnten nicht begreifen, was er beginnen wollte,
und schüttelten die Köpfe. Er fuhr ungestört fort und besäete seine Fenne mit
Weizen. So schönen Weizen hatten die Nachbarn noch nicht gesehen und bekamen
fast schon Lust zur Nachahmung; doch es blieb dabei. Parren verfuhr nun mit
einer anderen Fenne auf gleiche Weise und löste aus dem Ertrage so viel, daß er
nicht nur seine Wirthschaft verbesiern, sondern auch die geliehenen 100 Thaler dem
Boje zurückgeben konnte. Freudig ging er mit dem Gelde und den Zinsen zu ihm,
reichte ihm sogleich beide Beutel dar und sagte mit Freudenthränen in den Augen,
„Gott ist mit meinem Vorhaben gewesen, Herr Boje. Hier in diesem Beutel ist
das Kapital, in diesem sind die Zinsen, den schuldigen Dank lassen Sie in meinem
Herzen wohl aufbewahrt bleiben." Hier traten beiden Freudenthränen in die Augen,
und sie sahen sich stillschweigend einer den andern an. Zuletzt drückte Boje den Beutel
mit den Zinsen dem Parren wieder in die Hand und sagte: „Nein, mein Freund!
TM Hauptwörter (50): [T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd], T39: [Jahr Million Geld Mark Arbeiter Arbeit Zeit Summe Staat Thaler], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand]]
TM Hauptwörter (100): [T94: [Herr Tag Haus Kind Brot Geld Leute Mensch Hund Mann], T54: [Haus Feld Bauer Dorf Pferd Stadt Vieh Land Wald Mensch], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele]]
TM Hauptwörter (200): [T50: [Haus Pferd Bauer Herr Wagen Mann Tag Kind Weg Leute], T100: [Gott Herr Herz Wort Leben Hand Himmel Vater Kind Mensch], T39: [Million Mark Geld Jahr Summe Steuer Thaler Staat Ausgabe Einnahme], T177: [Volk Recht Gesetz Freiheit Land Strafe Mensch Gewalt Leben Staat], T41: [König Siegfried Held Hagen Mann Günther Frau Gudrun Kriemhild Tod]]
61
109. Dornröschen.
(Märchen.)
Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag:
„Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!" und krigten immer keins. Endlich
aber bekamen sie ein so schönes Mädchen, daß der König vor Freude sich
nicht zu lassen wußte und ein großes Fest anstellte. Er lud nicht bloß
seine Verwandten, Freunde und Bekannten, sondern auch die weisen Frauen
dazu ein, damit sie dem Kinde hold und gewogen würden. Es waren ihrer
dreizehn in seinem Reiche; weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte,
von welchen sie essen sollten, konnte er eine nicht einladen. Die geladen
waren, kamen, und nachdem das Fest gehalten war, beschenkten sie das Kind
mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit,
die dritte mit Reichthum, und so mit allem, was Herrliches auf der Welt
ist. Als elf ihre Wünsche eben gethan hatten, kam die dreizehnte herein,
die nicht eingeladen war und sich dafür rächen wollte. Sic rief: „Die
Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahre an einer Spindel stechen
und todt hinfallen." Da trat die zwölfte hervor, die noch einen Wunsch
übrig hatte; zwar konnte sie den bösen Ausspruch nicht aufheben, aber sie
konnte ihn doch mildern und sprach: „Es soll aber kein Tod sein, sondern
ein hundertjähriger, tiefer Schlaf, in den die Königstochter fällt."
Der König hoffte, sein liebes Kind noch vor dem Ausspruch zu be-
wahren, und ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen König-
reich sollten abgeschafft werden. An dem Mädchen aber wurden alle Gaben
der weisen Frauen erfüllt, denn cs war so schön, sittsam, freundlich und
verständig, daß es jedermann, der es ansah, lieb haben mußte. Es ge-
schah, daß an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahre alt war, der König
und die Königin nicht zu Haus waren und das Fräulein ganz allein im
Schlosse zurück blieb. Da ging es aller Orten herum, besah Stuben und
Kammern, wie cs Lust hatte, und kam endlich auch an einen alten Thurm.
Es stieg eine enge Treppe hinauf und gelangte zu einer kleinen Thür. In
dem Schlosse steckte ein gelber Schlüssel, und als sie umdrehte, sprang die
Thür auf und saß da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau und spann
emsig ihren Flachs. „Ei, du altes Mütterchen", sprach die Königstochter,
„was machst du da?" „Ich spinne", sagte die Alte und nickte mit dem
Kopfe. „Wie das Ding herumspringt!" sprach das Fräulein und nahm
die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie die Spindel an-
gerührt, so ging die Verwünschung des Zauberweibes in Erfüllung, und sie
stach sich damit.
In dem Augenblicke aber, wo sie sich gestochen hatte, fiel sie auch
nieder in einen tiefen Schlaf. Und der König und die Königin, die eben
zurückgekommen waren, fingen an mit dem ganzen Hofstaat einzuschlafen.
Da schliefen die Pferde im Stalle ein, die Hunde im Hofe, die Tauben auf
dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das aus dem Herde
TM Hauptwörter (50): [T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd], T33: [Kind Vater Mutter Frau Mann Jahr Sohn Gott Haus Eltern], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand]]
TM Hauptwörter (100): [T87: [Tag Tisch Haus Frau König Mann Gast Herr Hand Abend], T94: [Herr Tag Haus Kind Brot Geld Leute Mensch Hund Mann], T39: [Kind Vater Mutter Frau Mann Haus Jahr Eltern Sohn Knabe], T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel], T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume]]
TM Hauptwörter (200): [T43: [Haus Frau Kind Mann Arbeit Wohnung Familie Zeit Zimmer Kleidung], T81: [Herz Himmel Gott Welt Lied Leben Auge Erde Land Nacht], T196: [Tisch Tag König Hand Wein Herr Haus Gast Abend Frau], T41: [König Siegfried Held Hagen Mann Günther Frau Gudrun Kriemhild Tod], T59: [Tod Leben Volk Herz Freund Mann Wort König Tag Feind]]
140
208. Der Schwanritter.
(Sage.)
Herzog Gottfried von Brabant war gestorben, ohne männliche Erben
zu hinterlassen; er hatte aber in einer Urkunde gestiftet, dasz sein Land
der Herzogin und seiner Tochter verbleiben sollte. Hieran kehrte sich
jedoch Gotttried’s Bruder, der mächtige Herzog von Sachsen, wenig, sondern
bemächtigte sich, aller Klagen der Witwe und Waise unerachtet, des
Landes, das nach deutschem Rechte auf keine Weiber erben könne.
Die Herzogin beschlosz daher, bei dem König zu klagen; und als
bald darauf Karl nach Niederland zog, kam sie mit ihrer Tochter dahin
und begehrte Recht. Dahin war auch der Sachsenherzog gekommen und
wollte der Klage zur Antwort stehen. Es ereignete sich aber, dasz der
König durch ein Fenster schaute; da erblickte er einen weiszen Schwan,
der schwamm den Rhein herauf und zog an einer silbernen Kette, die
hell glänzte, ein Schifflein nach sich; in dem Schiff aber ru’nete ein
schlafender Ritter, sein Schild war sein Hauptkissen, und neben ihm lagen
Helm und Panzer; der Schwan steuerte gleich einem geschickten See-
manne und brachte sein Schiff an das Gestade. Karl und der ganze Hof
verwunderten sich höchlich ob diesem seltsamen Ereignisz; jedermann
vergasz der Klagen der Frauen und lief hinab dem Ufer zu. Unterdessen
war der Ritter erwacht und stieg aus der Barke ; wohl und herrlich empfing
ihn der König, nahm ihn selbst zur Hand und führte ihn gegen die Burg.
Da sprach der junge Held zu dem Vogel: „Flieg deinen Weg wohl, lieber
Schwan ! wann ich dein wieder bedarf, will ich dir schon rufen.“ Sogleich
schwang sich der Schwan und fuhr mit dem Schifflein aus aller Augen
weg. Jedermann schaute den fremden Gast neugierig an ; Karl ging
wieder zu seinem Gericht und wies jenem eine Stelle unter den anderen
Fürsten an.
Die Herzogin von Brabant, in Gegenwart ihrer schönen Tochter, hub
nunmehr ausführlich zu klagen an, und hernach vertheidigte sich auch der
Herzog von Sachsen. Endlich erbot er sich zum Kampf für sein Recht,
und die Herzogin solle ihm einen Gegner stellen, das ihre zu bewähren.
Da erschrak sie heftig; denn er war ein auserwählter Held, an den sich
niemand wagen würde; vergebens liesz sie im ganzen Saale die Augen
umgehen, keiner war da, der sich ihr erhoben hätte. Ihre Tochter klagte
laut und weinte; da erhub sich der Ritter, den der Schwan in’s Land ge-
führt hatte, und gelobte, ihr Kämpfer zu sein. Hierauf wurde von beiden
Seiten zum Streit gerüstet, und nach einem langen und hartnäckigen Ge-
fecht war der Sieg endlich auf Seiten des Schwanritters. Der Herzog von
Sachsen verlor sein Leben, und der Herzogin Erbe wurde wieder frei und
ledig. Da neigten sie und die Tochter sich dem Helden, der sie erlöst
hatte, und er nahm die ihm angetragene Hand der Jungfrau mit dem Be-
ding an : dasz sie nie und zu keiner Zeit fragen solle, woher er gekommen,
und welches sein Geschlecht sei, denn auszerdem müsse sie ihn verlieren.
Der Herzog und die Herzogin bekamen zwei Kinder, die waren wohl
gerathen ; aber immer mehr fing es an, ihre Mutter zu drücken, dasz sie
gar nicht wuszte, wer ihr Vater war; und endlich that sie an ihn die ver-
botene Frage. Der Ritter erschrak herzlich und sprach: „Nun hast du
selbst unser Glück zerbrochen und mich am längsten gesehen.“ Die
Herzogin bereute es, aber zu spät; alle Leute fielen ihm zu Füszen und
baten ihn zu bleiben. Der Held waffnete sich, und der Schwan kam mit
demselben Schifflein geschwommen ; darauf kiiszte er beide Kinder, nahm
Abschied von seinem Gemahl und segnete das ganze Volk, dann trat er
in das Schiff, fuhr seine Strasze und kehrte nimmer wieder. Der Frau
TM Hauptwörter (50): [T43: [König Held Sohn Mann Schwert Ritter Hand Tod Vater Feind], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T33: [Kind Vater Mutter Frau Mann Jahr Sohn Gott Haus Eltern]]
TM Hauptwörter (100): [T1: [König Held Herz Mann Volk Siegfried Land Lied Hand Tod], T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel], T39: [Kind Vater Mutter Frau Mann Haus Jahr Eltern Sohn Knabe], T28: [Schiff Meer Wasser Land Küste Ufer Insel See Flut Welle], T20: [König Sohn Maria Heinrich Tochter Karl Herzog England Haus Gemahlin]]
TM Hauptwörter (200): [T59: [Tod Leben Volk Herz Freund Mann Wort König Tag Feind], T81: [Herz Himmel Gott Welt Lied Leben Auge Erde Land Nacht], T41: [König Siegfried Held Hagen Mann Günther Frau Gudrun Kriemhild Tod], T191: [Karl Sohn König Tochter Haus Kaiser Ludwig Herzog Tod Johann], T50: [Haus Pferd Bauer Herr Wagen Mann Tag Kind Weg Leute]]
Extrahierte Personennamen: Gottfried_von_Brabant Karl Karl Karl Karl
142
211. Der hörnene Siegfried.
(Deutsche Heldensage.)
1. Wie Siegfried hörnen ward.
In Niederland wohnte in uralter Zeit ein König, Namens Siegmund,
der weithin berühmt war durch seine grosze Macht. Dessen Sohn hiesz
Siegfried; der Knabe war aber von unbändiger Kraft, und all’ sein Trachten
ging dahin, dasz er in die Fremde zöge, um Abenteuer zu bestehen. End-
lich gab der König dem Wunsche seines Sohnes nach und liesz ihn ziehen.
Siegfried kam bald in ein Dorf, das vor einem Walde lag. Dort ver-
dang er sich bei einem Schmidt, um sich Waffen schmieden zu lernen.
Aber er schlug so gewaltig auf das Eisen, dasz dieses zersprang und der
Ambos in die Erde getrieben ward. Der Meister fürchtete sich deshalb
vor ihm und suchte des wilden Gesellen sich wieder zu entledigen. Er
schickte ihn daher in den nahen Wald zu einem Köhler; aber unterwegs
muszte Siegfried an der Höhle eines gräulichen Drachen oder Lindwurmes
vorbei, und dieser, dachte der Meister, würde den jungen Helden todten.
Wirklich fuhr der Drache auf den nichts ahnenden Wanderer los, aber
Siegfried wehrte sich und erschlug ihn. Darauf ging er weiter und gerieth
bald in eine Wildnisz, in welcher es von Drachen, Kröten und anderem
giftigen Gewürm wimmelte. Ohne sich zu besinnen, risz er eine Menge
der stärksten Bäume aus der Erde, warf sie auf die Unthiere und zündete
dann den ganzen Holzstosz an. Aber von der Glut begann die Hornhaut
der Ungetlnime zu schmelzen, und ein Strom von dieser Masse flosz unter
dem brennenden Haufen hervor. Neugierig tauchte Siegfried seinen Finger
hinein, und siehe da! als er erkaltet war, hatte ihn eine undurchdringliche
Hornhaut überzogen. Da bestrich sich der Held den ganzen Leib aus
diesem trägen Strom, und so ward er ganz mit Horn überzogen, also dasz
ihn kein Schwert verwunden konnte; nur zwischen den Schultern blieb
auf dem Rücken eine Stelle, die er nicht zu erreichen vermochte. An dieser
sollte er frühzeitig den Tod empfangen.
2. Wie Siegfried Kriemhilden suchte.
Hierauf zog Siegfried auf weitere Abenteuer in die Ferne und kam
nach Worms, am Rheine, wo der König Gibich herrschte. Derselbe hatte
drei Söhne und eine wunderschöne Tochter, Namens Kriemhild. Gern
hätte Siegfried diese als seine Gemahlin heimgeführt, und auch sie war
dem herrlichen jungen Helden gewogen: aber eines Mittags, als sie, in
Gedankenverloren, in einem offenen Fenster stand, kam ein riesiger Drache
durch die Luft dahergeflogen und entführte sie, um sie zu seiner Gemahlin
zu machen. Von dem Feuer, welches er ausathmete, ward die Burg so hell
erleuchtet, als ob sie in Flammen stünde. Er trug sie aber weit, weit weg
in eine ungeheure Berghöhle, wo er sie mit Speise und Trank reichlich
versorgte und ihr alle Liebe und Freundlichkeit erwies; aber die Jung-
frau weinte und klagte und sehnte sich nach ihrem elterlichen Hause, und
dabei fürchtete sie sich vor dem gräulichen Ungethüm, denn wenn es ath-
mete, so zitterte und bebte der Berg unter ihm.
Der König Gibich schickte Boten aus nach allen Richtungen, um
seine verlorene Tochter zu suchen, aber keiner fand eine Spur von ihr.
Darüber war viele, viele Tage lang groszes Trauern und Klagen in der
Königsburg. Siegfried aber ward indessen ein gewaltiger Held von solcher
Stärke, dasz er Bären lebendig erjagte und zum Spott an die Bäume hing.
Doch auch er fand trotz seines rastlosen Suchens nirgends die geraubte
Jungfrau. Da verfolgte einmal sein treuester Hund eine seltsame Spur,
und Siegfried jagte ihm eifrig nach, ohne an Schlaf oder Trank und Speise
TM Hauptwörter (50): [T43: [König Held Sohn Mann Schwert Ritter Hand Tod Vater Feind], T7: [Erde Luft Sonne Wasser Himmel Berg Tag Licht Wolke Nacht], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand]]
TM Hauptwörter (100): [T1: [König Held Herz Mann Volk Siegfried Land Lied Hand Tod], T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume], T82: [Hand Pferd Schwert Fuß Schild Kopf Waffe Lanze Ritter Mann], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T16: [Ende Körper Strom Bild Hebel Hand Auge Wasser Gegenstand Seite]]
TM Hauptwörter (200): [T41: [König Siegfried Held Hagen Mann Günther Frau Gudrun Kriemhild Tod], T81: [Herz Himmel Gott Welt Lied Leben Auge Erde Land Nacht], T175: [Mensch Leben Natur Körper Seele Tier Thiere Arbeit Erde Pflanze], T13: [Baum Wald Feld Wiese Garten Gras Winter Mensch Sommer Haus], T143: [Stadt Kind Tag Haus Straße Mann Mensch Weiber Nacht Soldat]]
144
Gelegenheit wahr und schlug ihn unversehens mit einem Faustschlage zu
Boden. Da lag der edle Siegfried betäubt unter seinem Schilde; rothes
Blut quoll ihm aus Mund und Nase, und er schien todt zu sein. Ehe sein
Eeind ihn aber vollends mordete, sprang schnell der Zwerg Engel, der
immer in der Nähe geblieben war, herbei und deckte über Siegfried eine
Tarnkappe, die die wunderbare Eigenschaft hatte, jeden, den sie umhüllte,
unsichtbar zu machen. Kuperan tobte vor Wuth, dasz sein Gegner ver-
schwunden war, aber wie er auch von Baum zu Baum suchte, er vermochte
ihn nicht wiederzufinden.
Inzwischen suchte der gute Zwerg den bewusztlosen Helden wieder zu
beleben. Als er die Augen endlich wieder aufschlug und seinen Retter
neben sich sah, sprach er: „Lohne dir Gott, du kleiner Mann, was du an
mir gethan hast.“ — „Ja,“ erwiderte der Zwerg, ^,da hätte es dir schlimm
ergehen können. Aber nun folge auch meinem Rathe und gieb es auf, die
Jungfrau zu befreien.“— Da sagte Siegfried: „Nimmermehr! Und wenn
ich tausend Leben hätte, so wollte ich sie alle um die Jungfrau wagen.“
Sobald er sich also einigermaszen erholt hatte, warf er die Tarnkappe
fort und stürmte von neuem auf den Riesen ein. Wieder schlug er ihm
acht tiefe Wunden, bis er um Gnade flehte. Wohl hätte der Treulose sie
nicht verdient, aber Siegfried bedachte, dasz er ohne ihn nicht an den
Drachenstein gelangen könnte, und so schenkte er ihm abermals das Leben,
jetzt aber war er vorsichtiger und liesz ihn vorangehen.
So gelangten sie endlich an den Drachenstein. Ein unterirdischer
Gang führte zu der Thür desselben; der Riese schlosz sie auf, und Sieg-
fried steckte den Schlüssel zu sich. Bald waren sie oben auf dem Felsen.
Der Drache war zum Glück ausgeflogen, die Jungfrau aber erkannte den
Helden und fing vor Freuden an zu weinen und sprach: „Willkommen, du
edler Siegfried! Wie geht es meinem Vater und meiner Mutter zu Worms,
und wie leben meine Brüder?“ Siegfried erzählte ihr alles und dasz er
gekommen wäre, sie zu befreien. Indessen trat der Riese heran und sagte:
„Hier in der Erde liegt ein Schwert, mit welchem allein es möglich ist,
den Drachen zu bezwingen.“ Das war freilich Wahrheit, aber die Ab-
sicht, die der Riese bei diesen Worten hatte, war eine schlimme. Denn
als Siegfried sich bückte, um das Schwert in der Erde zu suchen, sprang
jener herzu und versetzte ihm einen fürchterlichen Schlag in den Rücken.
Zornig wandte sich der Held um, und nun begann ein Ringen der beiden,
dasz der Fels erbebte. Siegfried risz dabei dem Riesen die alten Wunden
mit Gewalt wiederauf, so dasz ihm das Blut in Strömen herunterlief; end-
lich bat der Unhold wieder um Gnade, aber Siegfried rief: „Das kann nicht
sein. Ich bedarf deiner nicht mehr, und nun soll dir deine Untreue ver-
golten werden.“ Mit diesen Worten gab er dem Riesen einen Stosz, dasz
er vom Rande des Felsens hinab taumelte und in der Tiefe zerschmet-
tert ward.
5. Wie Siegfried mit dem Drachen kämpfte.
Kriemhild hatte bei diesem schrecklichen Kampfe die Hände ge-
rungen und zu Gott um Hülfe gerufen; auch jetzt noch zitterte und weinte
sie, aber Siegfried trat zu ihr und sprach: „Nun sei getrost, holdselige
Jungfrau; noch bin ich unbezwungen, und mit Gottes Hülfe werde ich auch
wohl dich befreien.“ Aber Kriemhild sagte: „Ich fürchte, dasz noch
schwerere Kämpfe dir kommen, als bisher.“ „Ja,“ erwiderte Siegfried,
„schlimm wär’ es, wenn ich jetzt sogleich mit dem Drachen streiten sollte,
denn es ist heute der vierte Tag, dasz ich nicht gegessen und getrunken,
noch auch geschlafen habe.“ Das hörte der Zwerg Engel, und sogleich
liesz er durch eine Schar seines Volkes köstliche Speisen und Getränke
auftragen.
TM Hauptwörter (50): [T43: [König Held Sohn Mann Schwert Ritter Hand Tod Vater Feind], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T7: [Erde Luft Sonne Wasser Himmel Berg Tag Licht Wolke Nacht]]
TM Hauptwörter (100): [T1: [König Held Herz Mann Volk Siegfried Land Lied Hand Tod], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel], T82: [Hand Pferd Schwert Fuß Schild Kopf Waffe Lanze Ritter Mann], T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume]]
TM Hauptwörter (200): [T41: [König Siegfried Held Hagen Mann Günther Frau Gudrun Kriemhild Tod], T46: [Körper Blut Wasser Luft Haut Magen Herz Speise Muskel Mund], T175: [Mensch Leben Natur Körper Seele Tier Thiere Arbeit Erde Pflanze], T81: [Herz Himmel Gott Welt Lied Leben Auge Erde Land Nacht]]
146
guten Zwerg, um gen Worms zu reiten-, denn sein treues Rosz fand Sieg-
fried noch unten am Fusze des Berges.
Als sie aber eine kurze Strecke geritten waren, fiel Siegfried ein,
dasz der Schatz, den er im Berge gesehen hatte, ihm als.dem Besieger des
Drachen gehöre, denn er wuszte ja nicht, dasz es der Hort der Nibelungen,
des guten Zwergvolkes, sei. So ritt er zurück und lud den Schatz auf
sein Rosz. Derselbe brachte ihm aber kein Glück.
Am Hofe zu Worms wurden nun Siegfried undkriemhild mit groszen
Freuden empfangen, und bald ward ihre Vermählung mit aller Pracht
gefeiert. Es war ein herrliches Königspaar, und sie regierten mit groszen
Weisheitund Gerechtigkeit; mitihrem Golde linderten sie, wo sie konnten,
jede Noth der Armuth.
Aber ihr groszes Glück erregte bald den Neid von Kriemhildens
Brüdern. Sie stifteten den grimmigen und düsteren Hagen an, Siegfried
zu ermorden. Einst forderte Hagen ihn auf, mit ihm einen Wettlauf
zu machen; Siegfried kam zuerst an das Ziel, einen kühlen Brunnen im
Walde, und da er sich bückte um zu trinken, durchbohrte ihn hinterrücks
der böse Hagen an der einzigen Stelle, zwischen den Schultern, wo er
verwundbar war. So endete der herrliche Siegfried. Den Nibelungen-
schatz aber versenkte Hagen heimlich in den Rhein; an dessen Grunde
soll er noch heutzutage liegen.
212. Siegfrieds Schwert.
1. Jung Siegfried war ein stolzer Knab',
ging von des Vaters Burg herab.
2. Wollt' rasten nicht in Vaters Haus,
wollt' wandern in alle Welt hinaus.
3. Begegnet' ihm manch Ritter werth
mit festem Schild und breitem Schwert.
4. Siegfried nur einen Stecken trug,
das war ihm bitter und leid genug.
5. Und als er ging im finstern Wald,
kam er zu einer Schmiede bald.
6. Da sah er Eisen und Stahl genug,
ein lustig Feuer Flammen schlug.
8. Und lehr' du mich mit Fleiß und
Acht,
wie man die guten Schwerter macht!"
9. Siegfried den Hammer wohl schwin-
gen kunnt',
er schlug den Ambos in den Grund.
10. Erschlug, daß weit der Wald er-
klang
und alles Eisen in Stücke sprang.
l I. Und von der letzten Eisenstang'
macht er ein Schwert, so breit und
lang.
12. „Nun hab' ich geschmiedet ein gutes
Schwert,
nun bin ich wie andre Ritter werth.
7. „0 Meister, liebster Meister mein,
laß du mich deinen Gesellen sein.
13. Nun schlag' ich wie ein andrer Held
die Riesen und Drachen in Wald und Feld.
213. Die treue Gudrun.
(Nordseesage.)
1. Wie Gudrun mit Herwig verlobt ward.
ln alten heidnischen Zeiten herrschte über die Friesen, welche den langen
Festlandssaum und die Inseln der Nordsee bewohnten, der mächtige König Hettel
Seine Gemahlin war die schöne Hilde von Irland, Tochter des gewaltigen Hagen
TM Hauptwörter (50): [T43: [König Held Sohn Mann Schwert Ritter Hand Tod Vater Feind], T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand]]
TM Hauptwörter (100): [T1: [König Held Herz Mann Volk Siegfried Land Lied Hand Tod]]
TM Hauptwörter (200): [T41: [König Siegfried Held Hagen Mann Günther Frau Gudrun Kriemhild Tod], T51: [Kind Himmel Nacht Sonne Tag Gott Wald Baum Blume Feld]]
147
dem er sie einst mit List und Gewalt entführt hatte. Denn unter seinen Dienst-
mannen waren nicht nur kühne und starke Helden, wie vor allen Wate von
Stürmen, der Riese mit dem ellenbreiten Barte, sondern auch solche, die mit ver-
wegener List stets ihr Ziel zu erreichen wuszten, wie die Dänen Frute und Horand.
Der letztere hatte bei Hildens Entführung besonders durch seine wunderbare
Sangeskunst geholfen: wenn er seine schönsten Weisen anhub, so lieszen die
Thiere im Walde und die Fische im Wasser ihre Fährten, und vollends die
menschlichen Gemüther wuszte er so zu bezaubern, dasz sie ganz willenlos ihm
folgten. So hatte denn auch Hilde seiner Verlockung nicht widerstehen können :
heimlich war sie mit ihm in’s Friesenland gefahren, um König Hettels Gemahlin
zu werden, und als ihr starker Vater ihr nachgesegelt war, hatte vor allen der
riesige Wate durch seine ungeheure Kraft ihn zurückgeschlagen.
Man könnte also glauben, dasz auf dem friesischen Königspaar kein Segen
geruht hätte. Aber es schien dennoch so. Zwei herrliche Kinder waren ihnen
herangeblüht: die liebliche Gudrun, die noch schöner war, als einst ihre Mutter;
aber weil ihr niemand etwas davon gesagt hatte, so wuszte sie nichts davon, und
frisch und fröhlich sah sie aus ihren blauen Augen in die Welt hinein; ihr etwas
jüngerer Bruder aber war der rasche und kräftige Ortewin, den der greise Wate
zu aller Heldentugend erzogep hatte. Hettel und Hilde sahen mit Lust und
hohem Stolz auf ihre Kinder; aber bald sollten sie erfahren, wie geringen Be-
stand alles Irdische habe.
Die Kunde von Gudruns Schönheit und von dem Reichthum und der
Macht ihrer Eltern lockte bald von nah und fern zahlreiche Freier herbei. Zu-
erst kam Siegfried von Moorland und begehrte Gudrun zum Weibe, aber die
stolzen Eltern wiesen ihn ab, weil er nicht mächtig genug sei. Ebenso erging
es dem Normannenfürsten Hartmut, dem Sohn des reichen Königs Ludwig.
Und als zu dritt der edle und starke König Herwig aus Niederland kam, ver-
weigerten auch ihm die Eltern ihre Tochter; aber da rückte er mit einem groszen
Heere vor Hettels Burg und bewies täglich durch kühne Thaten, dasz er ein
echter Held sei. Das gefiel dem König Hettel wohl, und als nun auch Gudrun
bat, um ihretwillen nicht mehr Blut zu vergieszen, so ward Versöhnung ge-
stiftet, und die stolzen Eltern gestatteten endlich die Verlobung ihrer Tochter
mit dem wackeren Herwig.
2. Wie Gudrun entführt ward.
Diese Kunde entflammte die beiden verschmähten Könige zum heftigsten
Zorn. Siegfried von Moorland fiel verwüstend in Herwigs Reich ein, und Hettel
muszte mit allen seinen Mannen diesem zu Hülfe eilen. Aber während so die
Friesenburg von Vertheidigern fast ganz entblöszt war, benutzte der Normanne
Hartmut schlau die günstige Gelegenheit. Seine böse Mutter Gerlinde, die
über die stolze Zurückweisung ihres Sohnes grollte, hatte täglich ihn und seinen
Vater Ludwig zur Rache getrieben: jetzt erschien er plötzlich mit einermächtigen
Flotte vor Hildens wehrlosem Schlosse, um die schöne Gudrun mit Gewalt zu
entführen. Zuerst zwar suchte er durch Schmeichelei und Drohungen die
Jungfrau zu bewegen, dasz sie ihm in die Normandie folgte ; als aber Gudrun
immerfort bei dem Worte blieb: „durch feste Eide gehöre ich als Braut dem
König Herwig,“ da stürmte Hartmut die Burg, verbrannte sie und entführte
Gudrun mit zweiundsechzig Frauen.
So erlebte denn die stolze schöne Hilde ein ähnliches Schicksal, als sie es
einst ihren Eltern bereitet hatte. Sie sandte Boten an ihren Gemahl in Her-
wigs Land, um ihm das schwere Unglück zu melden und ihn zur Verfolgung der
Räuber aufzufordern. Sogleich schlossen Hettel und Herwig jetzt Frieden mit
dem bedrängten Siegfried, und alle drei Könige vereinigten sich, zu Schiffe den
flüchtigen Normannen nachzusetzen. Aber in ihrer Hast versäumten sie, den
Todten die letzte Ehre zu erweisen: statt die Leichen der Gefallenen fromm zu
begraben, warfen sie dieselben rasch in’s Meer, um sich ihrer nur zu entledigen,
10*
TM Hauptwörter (50): [T43: [König Held Sohn Mann Schwert Ritter Hand Tod Vater Feind], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand]]
TM Hauptwörter (100): [T1: [König Held Herz Mann Volk Siegfried Land Lied Hand Tod]]
TM Hauptwörter (200): [T41: [König Siegfried Held Hagen Mann Günther Frau Gudrun Kriemhild Tod]]
Extrahierte Personennamen: Hilde Gudrun Gudrun Hilde Gudruns_Schönheit Gudruns Siegfried_von_Moorland Siegfried Gudrun Gudrun Hartmut Ludwig Ludwig Herwig Gudrun Gudrun Herwig Gudrun Gudrun Siegfried_von_Moorland Siegfried Hartmut Gerlinde Ludwig Ludwig Gudrun Gudrun Gudrun Herwig,“ Hartmut Gudrun Gudrun Herwig Siegfried Siegfried
149
4. Wie Gudrun in die Normandie kam.
Die entflohenen Räuber näherten sich unterdessen ihrer Heimat. Als sie
von ferne die Burgen derselben gewahrten, redete König Ludwig Gudrun zu,
dasz sie seinen Sohn heirathe ; aber empört durch die Niederträchtigkeit ihrer
Entführer und in tiefem Schmerz über den Tod ihres Vaters erklärte sie heftig,
eher würde sie sterben, als dasz sie Hartmut zum Gemahl nähme, sie hasse ihn
und seine ganze feige Sippe. Da ergrimmte Ludwig; er erfaszte die Jungfrau
an ihrem langen blonden Haar und schleuderte sie mit starker Faust weithin in’s
Meer. Sogleich sprang jedoch Hartmut ihr nach und rettete sie in eine Barke.
Gudruns Herz aber konnte er dadurch nicht gewinnen.
Als sie nun in Normandie das Land betraten, kamen ihnen erwartungsvoll
Hartmuts Mutter, die böse Gerlinde, und seine liebliche Schwester Ortrun ent-
gegen. Die letztere küszte die heimatlose Gudrun und zeigte durch Thränen
ihr tiefes Mitgefühl, so dasz sich vom ersten Augenblick an eine innige Freund-
schaft zwischen den beiden Jungfrauen entspann. Als nun aber auch die arg-
listig lauernde Gerlinde herantrat, um Gudrun zu begrüszen, stiesz diese sie
heftig zurück; denn in ihr sah sie die Hauptanstifterin ihres Unglücks, und in
ihrem Blicke fühlte sie eine böse Seele. Von da an warf das arge Weib einen
tödtlichen Hasz auf die arme Jungfrau, und sie dachte mehr darauf, dieselbe zu
quälen, als sie der Heirath mit ihrem Sohne geneigt zu machen.
5. Wie Gudrun als Magd gehalten ward.
Hartmut erneuerte allerdings wieder seine Bewerbungen um Gudrun; da
sie dieselben aber entschieden zurückwies, so empfahl er sie der liebevollen Für-
sorge seiner Mutter und zog für eine Reihe von Jahren auf Abenteuer aus.
Gerlinde aber begann nun, Gudrun nach ihrer Weise zu erziehen: sie hielt sie
kärglich und strenge und zwang ihre Gefährtinnen, die niedrigsten Mägdedienste
zu verrichten. Unter den mit der Königstochter geraubten Jungfrauen befand
sich eine Namens Hergart, die schönste und vornehmste nächst ihr selber: diese
muszte Wasser tragen und im Winter die Oefen heizen, aber bald war dadurch
ihr Muth gebrochen, und sie beugte sich den Unterdrückern und ward ihrer Ge-
bieterin untreu. Desto fester hielten die anderen Frauen zu ihrer Herrin, und
besonders war die treue Hildburg eine feste und sichere Stütze für Gudrun. Diese
selbst trug ihr bitteres Loos ohne Klag?, aber keinen Augenblick wankte sie in
der Treue gegen den ihr verlobten Herwig: ob auch Monde auf Monde und
Jahre auf Jahre während ihrer Erniedrigung dahin schwanden, so liesz sie doch
die Hoffnung auf ihre endliche Befreiung nicht fahren, und ihren Peinigern blieb
sie kalt und fremd, wie sie es von Anfang an gewesen war. Nur gegen die
Freundlichkeit der lieblichen Ortrun, der freilich nur selten gestattet war, sich
ihr zu nahen, fühlte und zeigte sie warme Dankbarkeit.
Im siebenten Jahre kehrte endlich Hartmut aus der Fremde zurück; er
hoffte Gudrun jetzt zur Vermählung willig zu finden, aber ihre Treue war un-
wandelbar. Seiner Mutter machte er schwere Vorwürfe über ihre Härte gegen
die Jungfrau; jene versprach, sie wolle hinfort es anders machen, aber kaum
hatte Hartmut sich abermals auf Seeabenteuer hinausbegeben, so begannen auch
die Miszhandlungen schlimmer als jemals. Die friesische Königstochter muszte
jetzt täglich Gerlindens Kammer auskehren und im Winter die Oefen darin
heizen, wobei es nicht an den schlimmsten Scheltworten fehlte. Auf Augen-
blicke mochte Gudrun wohl verzagen und alle Hoffnung auf Befreiung aufgeben ;
aber wenn sie sich an der Brust ihrer treuen Hildburg ausgeweint und ein Gebet
zum Himmel emporgesandt hatte, dann kam ihr wieder Ruhe und Heiterkeit der
Seele. Ohne Murren that sie alles, das man sie hiesz, aber ihr Herz war bei
den Lieben daheim.
So vergingen wieder Jahre. Da kehrte Hartmut gegen den siebenten Win-
ter abermals zurück, nunmehr fest entschlossen, auf alle Fälle Gudrun zu seiner
Gemahlin zu machen. Er ging in ihre Kammer und stellte ihr alle Herrlichkeit
TM Hauptwörter (50): [T43: [König Held Sohn Mann Schwert Ritter Hand Tod Vater Feind], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland]]
TM Hauptwörter (100): [T1: [König Held Herz Mann Volk Siegfried Land Lied Hand Tod], T98: [Volk Land König Krieg Zeit Feind Mann Macht Freiheit Kaiser]]
TM Hauptwörter (200): [T41: [König Siegfried Held Hagen Mann Günther Frau Gudrun Kriemhild Tod], T59: [Tod Leben Volk Herz Freund Mann Wort König Tag Feind], T81: [Herz Himmel Gott Welt Lied Leben Auge Erde Land Nacht]]
199
da sprengten plötzlich in die Quer
fünfzig türkische Reiter daher,
die hnben an, ans ihn zu schießen,
nach ihm zu werfen mit den Spießen.
Der wackre Schwabe forcht sich nit,
ging seines Weges Schritt vor Schritt,
ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken
und that nur spöttlich um sich blicken,
bis einer, dem die Zeit zu lang,
auf ihn den krummen Säbel schwang.
Da wallt dem Deutschen auch sein Blut:
er trifft des Türken Pferd so gut,
er haut ihm ab mit einem Streich
die beiden Vorderfüß' zugleich.
Als er das Thier zu Fall gebracht,
da faßt er erst sein Schwert mit Macht;
er schwingt es auf des Reiters Kopf,
haut durch bis auf den Sattelknopf,
haut auch den Sattel noch in Stücken
und tief noch in des Pferdes Rücken;
zur Rechten sieht man, wie zur Linken,
einen halben Türken heruntersinken.
Da packt die andern kalter Grans,
sie fliehen in alle Welt hinaus,
und jedem ist's, als würd' ihm mitten
durch Kopf und Leib hindurchgeschuitten.
Drauf kam des Wegs 'ne Christenschar,
die auch zurückgeblieben war,
die sahen nun mit gutem Bedacht,
was Arbeit unser Held gemacht.
Von denen hat's der Kaiser vernommen,
der ließ den Schwaben vor sich kommen,
er sprach: „Sag' an, mein Ritter wertst!
wer hat dich solche Streich' gelehrt?"
Der Held bedacht' sich nicht zu lang:
„Die Streiche sind bei uns im Schwang,
sie sind bekannt im ganzen Reiche,
man nennt sie halt nur Schwaben-
streiche."
45. Klein Roland.
Frau Bertha saß in der Felsenkluft,
sie klagt' ihr bittres Loos.
Klein Roland spielt' in freier Luft,
des Klage war nicht groß.
„O König Karl, mein Bruder hehr!
O daß ich floh von dir!
Um Liebe ließ ich Pracht und Ehr',
nun zürnst du schrecklich mir.
O Milon, mein Gemahl so süß!
Die Flut verschlang mir dich.
Die ich um Liebe alles ließ,
nun läßt die Liebe mich.
Klein Roland, du mein theures Kind,
nun Ehr' und Liebe mir!
Klein Roland, komm herein geschwind!
Mein Trost kommt all von dir.
Klein Roland, geh zur Stadt hinab,
zu bitten um Speis' und Trank,
und wer dir giebt eine kleine Gab',
dem wünsche Gottes Dank!"
Der König Kart zur Tafel saß
im goldnen Rittersaal.
Die Diener liefen ohn' Unterlaß
mit Schüsiel und Pokal.
Von Flöten, Saitenspiel, Gesang
ward jedes Herz erfreut;
doch reichte nicht der helle Klang
zu Bertha's Einsamkeit.
Und draußen in des Hofes Kreis,
da saßen der Bettler viel,
die labten sich an Trank und Speis'
mebr, als am Saitenspiel.
Der König schaut in ihr Gedräng'
wohl durch die offne Thür,
da drückt sich durch die dichte Meng'
ein feiner Knab herfür.
Des Knaben Kleid ist wunderbar,
vierfarb zusammeugestückt;
doch weilt er nicht bei der Bettlerschar,
herauf zum Saal er blickt.
Herein zum Saal klein Roland tritt,
als wär's sein eigen Haus.
Er hebt eine Schüssel von Tisches Mitt'
und trägt sie stumm hinaus.
Der König denkt: „Was muß ich sehn?
Das ist ein sondrer Brauch."
Doch weil er's ruhig läßt geschehn,
so laffen's die andern cmch.
Es stund nur an eine kleine Weil',
klein Roland kehrt in den Saal.
Er tritt zum König hin mit Eil'
und faßt seinen Goldpokal.
„Heida! halt an, du kecker Wicht!"
der König ruft es laut.
Klein Roland läßt den Becher nicht,
zum König auf er schaut.
Der König erst gar finster sah,
doch lachen mußt' er bald.
„Du trittst in die goldne Halle da
wie in den grünen Wald.
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T43: [König Held Sohn Mann Schwert Ritter Hand Tod Vater Feind], T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd]]
TM Hauptwörter (100): [T1: [König Held Herz Mann Volk Siegfried Land Lied Hand Tod], T82: [Hand Pferd Schwert Fuß Schild Kopf Waffe Lanze Ritter Mann], T87: [Tag Tisch Haus Frau König Mann Gast Herr Hand Abend], T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume], T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel]]
TM Hauptwörter (200): [T81: [Herz Himmel Gott Welt Lied Leben Auge Erde Land Nacht], T196: [Tisch Tag König Hand Wein Herr Haus Gast Abend Frau], T112: [Schwert Ritter Schild Waffe Lanze Pferd Speer Hand Helm Pfeil], T41: [König Siegfried Held Hagen Mann Günther Frau Gudrun Kriemhild Tod], T51: [Kind Himmel Nacht Sonne Tag Gott Wald Baum Blume Feld]]
Extrahierte Personennamen: Roland Bertha Roland Karl Karl Roland Roland Roland Knab Roland Roland Roland
201
Sie haben Stahlgewand begehrt
und hießen satteln ihre Pferd',
zu reiten nach dem Riesen.
Jung Roland, Sohn des Milon,
sprach:
„Lieb' Vater! hört! ich bitte!
Vermeint ihr mich zu jung und schwach,
daß ich mit Riesen stritte,
doch bin ich nicht zu winzig mehr,
euch nachzutragen euren Speer-
samt eurem guten Schilde."
Die sechs Genossen ritten bald
vereint nach den Ardennen,
doch als sie kamen in den Wald,
da thäten sie sich trennen.
Roland ritt hinter'm Vater her;
wie wohl ihm war, des Helden Speer,
des Helden Schild zu tragen!
Bei Sonnenschein und Mondenlicht
streiften die kühnen Degen;
doch fanden sie den Riesen nicht
in Felsen und Gehegen.
Zur Mittagsstund' am vierten Tag
der Herzog Milon schlafen lag
in einer Eiche Schatten.
Roland sah in der Ferne bald
ein Blitzen und ein Leuchten,
davon die Strahlen in dem Wald
die Hirsch' und Reh' aufscheuchten;
er sah, es kam von einem Schild,
den trug ein Riese, groß und wild,
vom Berge niedersteigend.
Roland gedacht' im Herzen sein:
„Was ist das für ein Schrecken!
Soll ich den lieben Vater mein
im besten Schlaf erwecken?
Es wachet ja sein gutes Pferd,
es wacht sein Speer, sein Schild und
Schwert,
es wacht Roland, der junge."
Roland das Schwert zur Seite band,
Herrn Milon's starkes Waffen,
die Lanze nahm er in die Hand
und that den Schild aufraffen.
Herrn Milon's Roß bestieg er dann
und ritt ganz fachte durch den Tann,
den Vater nicht zu wecken.
Und als er kam zur Felsenwand,
da sprach der Rief' mit Lachen:
„Was will doch dieser kleine Fant
auf solchem Rosse machen?
Sein Schwert ist zwier so lang als er,
vom Rosse zieht ihn schier der Speer,
der Schild will ihn erdrücken."
Jung Roland rief: „Wohlauf zum
Streit!
Dich reuet noch dein Necken.
Hab' ich die Tartsche lang und breit,
kann sie mich besser decken;
ein kleiner Mann, ein großes Pferd,
ein kurzer Arm, ein langes Schwert,
muß eins dem andern helfen."
Der Riese mit der Stange schlug
auslangend in die Weite;
jung Roland schwenkte schnell genug
sein Roß noch auf die Seite.
Die Lanz' er aus den Riesen schwang,
doch von dem Wunderschilde sprang
auf Roland sie zurücke.
Jung Roland nahm in großer Hast
das Schwert in beide Hände;
der Riese nach dem feinen faßt;
er war zu unbehende:
mit flinkem Hiebe schlug Roland
ihm unter'm Schild die linke Hand,
daß Hand und Schild entrollten.
Dem Riesen schwand der Muth dahin,
wie ihm der Schild entrissen;
das Kleinod, das ihm Kraft verliehn,
mnßt' er mit Schmerzen missen.
Zwar lief er gleich dem Schilde nach,
doch Roland in das Knie ihn stach,
daß er zu Bodey stürzte.
Roland ihn bei den Haaren griff,
hieb ihm das Haupt herunter;
ein großer Strom von Blute lief
in's tiefe Thal hinunter.
Und aus des Todten Schild hernach
Roland das lichte Kleinod brach
und freute sich am Glanze.
Dann barg er's unter'm Kleide gut
und ging zu einem Quelle;
da wusch er sich von Staub und Blut
Gewand und Waffen helle.
Zurücke ritt der jung' Roland,
dahin, wo er den Vater fand,
noch schlafend bei der Eiche.
Er legt' sich an des Vaters Seit',
vom Schlafe selbst bezwungen,
bis in der kühlen Abendzeit
Herr Milon aufgesprungen:
TM Hauptwörter (50): [T43: [König Held Sohn Mann Schwert Ritter Hand Tod Vater Feind], T16: [Auge Kopf Körper Hand Haar Fuß Gesicht Blut Haut Brust]]
TM Hauptwörter (100): [T82: [Hand Pferd Schwert Fuß Schild Kopf Waffe Lanze Ritter Mann], T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume], T1: [König Held Herz Mann Volk Siegfried Land Lied Hand Tod]]
TM Hauptwörter (200): [T112: [Schwert Ritter Schild Waffe Lanze Pferd Speer Hand Helm Pfeil], T41: [König Siegfried Held Hagen Mann Günther Frau Gudrun Kriemhild Tod], T51: [Kind Himmel Nacht Sonne Tag Gott Wald Baum Blume Feld], T152: [Auge Haar Gesicht Nase Krankheit Körper Mensch Mund Ohr Kopf], T81: [Herz Himmel Gott Welt Lied Leben Auge Erde Land Nacht]]
Extrahierte Personennamen: Roland Roland Roland Roland Roland Roland Roland Roland Roland Roland Roland Roland Roland Roland Roland