166
Mittlere Geschichte. 3. Periode. Deutschland.
dazu zu treten. Sie meldeten sich und wurden gern aufgenom-
men. Auch manche Stadt in Preußen und Liefland trat dazu,
so daß der Bund in seinem größten Flore aus 85 blühenden
Städten bestand. So viele konnten freilich schon etwas aus-
richten. Die Landstraßen wimmelten von ihren Wagen, die
Ströme und Meere von ihren Schiffen. Handel und Fabriken
blühten schnell wieder auf, weil der Kaufmann seines Eigen-
thums sicher war. Lübeck wurde die Hauptstadt des ganzen
Bundes; hier wurde auch alle drei Jahre eine Bundesversamm-
lung gehalten, wo man über gemeinschaftliche Unternehmungen
rathschlagte. Die Geschäfte wurden so groß, daß die Hansa in
den Ländern, wohin sie besonders ihre Waaren versendete, vier
Haupt-Comptoire gründete: London*), Bergen in Norwegen,
Brügge in Flandern und Nowgorod in Rußland. Alle
Länder hatten gern mit ihr zu thun und beschenkten sie mit
Handelsfreiheiten, und so wurde sie immer mächtiger, so daß der
Bürgermeister von Lübeck wie ein König zu betrachten war.
Aber so wie es wenige Menschen giebt, die großes Glück
gut zu ertragen wissen, so ging es auch dieser Handels-
gesellschaft. So wie sich ihre Reichthümer mehrten, so wurde sie
auch eigennütziger und wollte allen Handel an sich reißen. Da
konnten denn Streitigkeiten mit andern Mächten nicht fehlen;
aber die Hansa war schon so mächtig, daß sie keinen Krieg scheute,
und so sah man das sonderbare Schauspiel, daß eine Gesellschaft
von Kaufleuten es mit mächtigen Königen aufnahm.' Meist ging
sie siegreich aus dem Kriege weg. Manchmal mußte Norwegen,
Dänemark und Schweden ihre starke Hand fühlen. Einmal setzte
sie gar einen König von Schweden ab und ein ander Mal kün-
digte ein Bürgermeister von Danzig dem Könige von Dänemark
den Krieg an. Erst im 15. Jahrhunderte verfiel sie nach und
nach, weil da mehr öffentliche Sicherheit und Ordnung eingeführt
wurde und es also unnöthig war, die Frachtwagen und Schiffe
von Soldaten begleiten zu lasten. Auch merkten die Landstädte
endlich, daß sie keinen Vortheil mehr von der Verbindung hätten,
sondern daß die reichen Seestädte ihre Beitrüge annähmen, um
den Seehandel desto weiter ausdehnen zu können, und daher
traten jene nach und nach zurück. Zuletzt blieben nur noch
*) Der Amtspalast in London wurde, der letzte Rest hanseatischer Herrlich-
keit, erst 1852 von den Hamburgern verkauft.
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TM Hauptwörter (100): [T4: [Handel Land Industrie Stadt Verkehr Gewerbe Ackerbau Viehzucht Deutschland Zeit], T34: [Schweden König Gustav Dänemark Preußen Krieg Polen Adolf Frieden Holstein], T94: [Herr Tag Haus Kind Brot Geld Leute Mensch Hund Mann], T98: [Volk Land König Krieg Zeit Feind Mann Macht Freiheit Kaiser], T76: [Stadt Straße Haus Schloß Kirche Gebäude Mauer Platz Garten Dorf]]
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Extrahierte Ortsnamen: Deutschland Norwegen Flandern Rußland Norwegen Schweden Schweden Danzig London
Tod des Kaisers Nikolaus I. Diplomatische Verhandlungen. 269
stehlichkeit gründlich zerstörten, mußten einen tiefen Eindruck
aus die Seele des Kaisers machen und einen Organismus zer-
stören, dessen Pathos der Herrscherstolz war. Aber er sollte den
Kelch bis auf die Heese leeren und es erleben, daß die von ihm
so tief verachteten Türken ein russisches Armeecorps aus russi-
schem Boden besiegten (bei Eupatoria). Die Nachricht von die-
sem Ereigniß war sein Todesstreich; denn von da ab nahm die
Krankheit, eine vernachlässigte Grippe, an welcher der Kaiser
seit einiger Zeit litt, einen rapiden Charakter an. Eine Brust-
entzündung trat am 28. Februar 1855 hinzu und am 2. März
verschied der Kaiser, im Bewußtsein seiner Regenten- und Fami-
lienpflichten, vollkommen gefaßt, auch noch im Tode seinem Cha-
rakter getreu.
Daß der Tod dieses Mannes, welchem sein Sohn Alexan-
der Ii. folgte, obwohl er zunächst die Kriegsoperationen nicht
hemmte, die Einleitung der Friedensunterhandlungen erleichtern
mußte, begreift sich von selbst, wenn man erwägt, daß in Kaiser
Nikolaus der Gedanke der russischen Politik seinen eminentesten
Ausdruck gefunden hatte und man ihm vor Allem den Willen
und die Energie, ihn durchzuführen, zutraute.
143. Die diplomatischen Verhandlungen,
betreffend die orientalische Frage, hatten allmälig ganz Europa
umspannt, indem sie einerseits, direct oder indirect mit Rußland
gepflogen wurden, andererseits eine Coalition des gesammten
Europas gegen dasselbe im Auge hatten. In letzterer Beziehung
gingen sie hauptsächlich darauf aus, Oestreich und Preußen mit
in den Krieg zu verwickeln; doch gelang es nur, den erstern
Staat durch das Dece mb erblind n iß an die Westmüchte, oder
vielmehr letztere an jenen zu fesseln, während er zugleich durch
seinen Vertrag mit der Pforte wegen Besetzung der Donaufür-
stenthümer (14. Juni 1854) eine Stellung gewann, deren Dro-
hung einen nicht zu leugnenden Druck ausübte. Preußen be-
hielt sich aber die Freiheit seiner Action vor, soweit es nicht
durch die Convention mit Oestreich (20. April 1854) eine Ver-
pflichtung zu dessen Gunsten eingegangen war, und setzte es durch,
daß auch Deutschland auf gleicher Linie blieb.
Dagegen gelang es den Westmächten, Sardinien an sich
zu fesseln und auch, wie wir bereits erwähnt, zur Stellung ei-
nes Hülfscorps zu bestimmen und mit Schweden eine Defen-
TM Hauptwörter (50): [T34: [Krieg Frankreich England Deutschland Preußen Frieden Rußland Napoleon Kaiser Jahr], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand]]
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Extrahierte Personennamen: Nikolaus_I. Nikolaus
Extrahierte Ortsnamen: Eupatoria Europa Europas Oestreich Donaufür- Deutschland Sardinien Schweden
Congreß zu Paris.
271
Frankreich durch den Minister des Aeußern, Drouyn de Lhuys,
England durch Lord Rüssel vertreten war, welche bis zum
April 1855 dauerten und schließlich eine anscheinende Verstän-
digung unter den Abgeordneten herbeiführte, die aber an dem
unmittelbaren Widerstände der französischen und englischen Re-
gierung scheiterte. — Die Zeit des Friedens kam erst mit dem
Falle Sebastopols.
Wieder war es Oestreich, welches jetzt die einleitenden
Schritte versuchte, indem es im November 1855 den Höfen von
Paris und St. James ein Project vorlegte, auf dessen Basis
man mit Rußland unterhandeln könnte, wobei es sich zugleich
erbot, seinerseits dieses Project als Ultimatum in St. Peters-
burg vorzulegen.
Die Annahme Seitens der Westmächte erfolgte und schon am
16. Januar 1856 ward die erstaunte Welt durch die Nachricht
überrascht, daß Rußland die Bedingungen, auf Grund deren die
Friedensunterhandlungen eröffnet werden sollten, annehme.
In einem am 1. Februar >856 zu Wien unterzeichneten
Protokoll ward der Beitritt Englands und Frankreichs zu den
von Oestreich vorgeschlagenen und von Rußland angenommenen
Bedingungen förmlich erklärt und Paris zum Sitz des demnächst
zu eröffnenden Congresses gewählt.
Zu Bevollmächtigten bei demselben wurden ernannt, von
Seiten Frankreichs: der Minister des Aeußern Graf Walewski,
zugleich Vorsitzender der Conferenz, und Baron von Bourque-
ney; von Seiten Englands: der Staatssecretair des Aeußern
Lord Clarendon und der englische Gesandte in Paris Lord
Cowley; von Seiten Oestreichs: der Minister des Aeußern Graf
Vuol und sein Gesandter in Paris Baron Hübner; von Sei-
ten der hohen Pforte: der Großvezier Ali-Pascha und Mehe-
med-Djemil-Bey; von Seiten Sardiniens: der Conseilpräsi-
dent Graf Cavour und der sardinische Gesandte Marquis von
Villamarina; von Seiten Preußens, welches indeß erst ngch
schon eröffneter Conferenz in dieselbe eintrat: der Minist' Präsi-
dent Freih. von Manteuffel und Graf Hatzfelds n as>
Rußland sandte den Grafen Orlow, welchem Baron
Brunnow, der frühere Gesandte Rußlands in London, bei-
gegeben war.
Der Congreß ward am 25. Februar 1856 im Hotel des
Ministeriums des Aeußern eröffnet und durch Vorschlag des Gra-
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272
Neueste Geschichte. 5. Periode.
fen Buol dem Grafen Walewski das Präsidium übertragen, wel-
cher den Director im Ministerium des Aeußern, H. Venedetti,
zum Protokollführer ernennen ließ. Um die Verhandlungen ab-
zukürzen, wurde das Wiener Protokoll vom 1. Februar als In-
begriff der Friedenspräliminarien anerkannt, worauf man sich
darüber verständigte, daß ein Waffenstillstand zu Land und zu
Wasser einträte, welcher mit dem 31. März aufhören sollte, wenn
bis dahüt der Friede nicht p Stande gekommen wäre; doch sollte
der Blockadezustand dadurch nicht Uttterbrochen werden. Diese
Form des Waffenstillstandes war eine indirecte Warnung für Ruß-
land, welche indeß kaum nöthig war. Der neue Czar, Alexan-
der Ii., wollte den Frieden, welcher, da Frankreich ihn ebenso
lebhaft wünschte, weit es Alles erreicht hatte, was es durch den
Krieg erreichen konnte, und England sich, wenn auch wider-
willig, der Pression seines Alliirten fügen mußte, rasch zu
Stande kam.
Derselbe ward am 30. März*) um 1 Uhr Nachmittags
unterzeichnet.
Die hauptsächlichsten Bestimmungen waren: 1) die Neutra-
lisation des Schwarzen Meeres, welches künftig von keinem
Kriegsfahrzeug irgend einer Nation befahren und an dessen Kü-
sten kein Marine-Militair-Arsenal errichtet werden soll; 2) die
Freiheit der Donauschifffahrt, zu deren Sicherstellung Rußland
einen Theil Bessarabiens opfern mußte, so daß es aufhörte, ein
Donauufer-Staat zu sein, während eine europäische Commission
zur definitiven Regelung der Donauschifffahrts-Verhältnisse ein-
gesetzt werden sollte; 3) die Beseitigung des russischen Protecto-
rats über die Donaufürstenthümer, welche fortfahren sollten, un-
ter Suzerainetüt der Pforte und unter Garantie der contrahi-
renden Mächte die Privilegien und Immunitäten, in deren Besitz
sie sich befinden, zu genießen; 4) die Aufnahme der Türkei in
das System des europäischen Völkerrechts, so daß fortan jeder
Angriff aus die Unabhängigkeit und die Territorialität des otto-
manff.^en Reichs als eine Frage des allgemeinen Interesses be-
wer^n soll. — Andere Bestimmungen bezogen sich auf
wechselseitige Rückgabe der gemachten Eroberungen, Feststellung
der Grenzen und die künftige Organisation der Donaufürsten-
*) Also am Jahrestage des einst für Frankreich so demüthigenden Friedens,
für welchen Napoleon Iii. jetzt Revanche nahm.
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Extrahierte Personennamen: Walewski H._Venedetti Napoleon
Extrahierte Ortsnamen: Frankreich England Donauschifffahrts-Verhältnisse Donaufürsten- Frankreich
Lage der Christen in der Türkei.
273
thümer; der Frage dagegen, welche den angeblichen Entstehungs-
grund des verheerenden und opferreichen Krieges gegeben hatte,
ward im Frieden zwar gedacht, aber nur in so fern, als die con-
trahirenden Mächte sich auf Mittheilung des Hat-Humayun
vom 18. Februar, wodurch die Pforte mindestens den guten
Willen gezeigt hatte: die Lage der Christen in der Türkei
sicher zu stellen und ihnen eine Art Gleichberechtigung zu gewäh-
ren, mit Befriedigung bezogen.
Der Friede ward, als man erst seine Bedingungen erfuhr,
in ganz Europa ziemlich kalt aufgenommen; man hatte größere
Resultate erwartet, d. h. eine stärkere Demüthigung Rußlands,
obwohl durch dessen Zurückweisung von der Donau und die Neu-
tralisation des Schwarzen Meeres einerseits, so w'e durch An-
knüpfung der Pforte an das System des europäischen Gleichge-
wichts andererseits sowohl die Anstrengungen eines ganzen Jahr-
hunderts für Rußland verloren gingen, als auch die drohende
Aggressivftellung desselben gegen die Türkei aufgehoben, also das
europäische Interesse des Krieges vollkommen befriedigt ward.
Speciell freilich ging nur Frankreich triumphirend aus
der allgemeinen Verwickelung hervor, indem es nicht blos aus
dem Zustand einer für dasselbe demüthigenden Jsolirung, in
welchem es sich vor dem Kriege befunden hatte, heraustrat, son-
dern auch durch die erstaunliche Entfaltung seiner militairischen
Hülfsmittel, wie durch die geschickte Benutzung der wechselnden
Constellationen sich unbestritten zur tonangebenden Macht erho-
den hatte, so daß fortan Paris der Mittelpunkt aller politischen
Fluctuationen ward.
Jedenfalls hat der Friede vom 30. März einen umgestal-
tenden Einfluß auf die allgemeine Politik geübt, welcher selbst
die augenblicklichen Verhältnisse überdauern muß.
Die Revolutionen des letzten Jahrhunderts hatten das ganze
europäische System dadurch gestört, daß sie an Stelle der Jn-
teressenfragen, welche früher über die Allianzen entschie-
den, die Principienfragen setzten, welche, nachdem sie die
ersten Coalitionen inspirirt hatten, selbst das Kaiserreich über-
dauerten und eine Art Mißtrauensbund gegen Frankreich her-
stellten.
Die Restauration wollte die Folgen desselben vereiteln, in-
dem sie sich gerade der Macht anschloß, welche die Seele jenes
Bundes war, wodurch aber in Europa wie im Orient die so
Weltgeschichte für Töchter. Iv. 13. Ausl.
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Extrahierte Ortsnamen: Europa Donau Frankreich Frankreich Europa
\
274 Neueste Geschichte. 5. Periode.
hohe Stellung Rußlands noch mehr gestärkt ward. Die fran-
zösische Juliregierung verfolgte eine entgegengesetzte Richtung:
sie suchte sich zur Lösung jenes europäischen Mißtrauensbundes
an England zu lehnen. Aber sie hatte stets gegen die syste-
matische Feindseligkeit Rußlands und gegen das Mißtrauen
Deutschlands zu kämpfen und im Augenblicke ihres Falles war
selbst das Verhältniß zu England gelockert. Die zweite Repu-
blik konnte das Band zwischen Frankreich und den Continental-
staateu nur noch mehr lockern, und bot andererseits Rußland
die Gelegenheit, seinen Einfluß mehr zu stärken. Es schien, als
gäbe es in Europa nur noch zwei große Mächte: England und
Rußland; die ganze Welt schien sich nothwendig um sie zu dre-
hen, Viele glaubten, daß selbst England nicht mehr im Fortschritt
begriffen und die Welt providentiell Rußland vorbehalten sei.
Beide Idole hat der orientalische Krieg zerstört und Frankreich
geht aus der Krisis mit Allianzen hervor, welche die großen
Mächte wieder in ihre natürliche Lage bringen und die Grund-
lage eines den wesentlichen Interessen Europas wirklich ent-
sprechendeu politischen Systems bilden.
Die Ausführung des Pariser Friedens bot übrigens
noch so viele Schwierigkeiten dar, daß die bedeutendsten Bestim-
mungen desselben bis heute noch nicht erledigt sind. Auch fühl-
ten Oestreich und die Westmächte bald nach Unterzeichnung des-
selben, daß er mehr dem Kriege ein Ende machte, als daß er die
allgemeine Sicherheit dauernd garantirte und gaben diesem Ge-
fühl durch Abschließung eines Specialbündnisses (15. April 1856)
Ausdruck. Wirklich führte die ungenaue Abfassung des Vertrags
zu Differenzen wegen der bessarabischen Grenze, welche verdrieß-
liche Unterhandlungen zur Folge hatten, den Aufenthalt der
englischen Flotte im Schwarzeil Meere verzögerten und erst im
folgenden Jahre zur Erledigung kamen. (Durch das Protokoll
vom 6. Januar 1857: auf Grund dessen die Grenzregulirung
vorgenommen und endlich am 19. Juni 1857 in Paris vertrags-
mäßig angenommen ward.) Die Bestimmung wegen der Reorga-
nisation der Donaufürstenthümer und der Donauschiffsahrt ha-
den aber bis heutigen Tag noch nicht ihre Erledigung gesunden.
Andererseits hat der orientalische Krieg ein Nachspiel ge-
funden in dem allerdings nur kurzen englisch-persischen
Kriege.
Zum Verständniß desselben ist es nöthig, daran zu erinnern,
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Extrahierte Personennamen: Oestreich
Extrahierte Ortsnamen: England Deutschlands England Frankreich Europa England England Frankreich Europas Paris Donaufürstenthümer Donauschiffsahrt
Englisch - persischer Krieg.
275
daß England im orientalischen Kriege auch ein speciell englisches
Interesse verfocht, da es in Asien seine indischen Besitzungen
gegen das Vorrücken Rußlands zu sichern gedachte. Beide Staa-
ten haben seit langer Zeit das Bewußtsein, daß sie um die Herr-
schaft über Asien früher oder später die Waffenentscheidung an-
rufen müssen und beachten daher mit argwöhnischem Auge jede
Vergrößerung des gegnerischen Machteinflusses. Beide Staaten
wetteifern daher hauptsächlich in dem Bestreben, in Persien vor-
wiegenden Einfluß zu erlangen, und da es Rußland während des
orientalischen Krieges gelungen war, am Hofe von Teheran Eng-
land den Rang abzulaufen, so war vorauszusehen, daß sich
schwere Verwickelungen daraus ergeben würden. Zerwürfnisse
rein persönlicher Art zwischen dem persischen Hofe und dem eng-
lischen Gesandten führten zu einer Unterbrechung des diplomati-
schen Verkehrs und ein glücklicher Feldzug Persiens gegen Herat,
welches die Straße nach Indien beherrscht, zum Kriege. Indeß ge-
lang es auch hier der französischen Vermittelung, die Flamme im
Keime zu ersticken, wozu sich die Gelegenheit durch eine nach
Paris geschickte persische Gesandtschaft ergab, an deren Spitze
Feruk Chan stand. Zwischen ihm und dem englischen Gesand-
ten daselbst kam es zu Unterhandlungen, welche endlich zum
Frieden führten (4. März 1857), dessen Hauptbedingungen fol-
gende sind: die Engländer räumen das persische Gebiet (sie hat-
ten bereits die Insel Karrak besetzt und Buschir erobert) und die
Perser Herat und ganz Afghanistan; der Schah entsagt allen
Souverainetätsansprüchen auf Herat so wie auf die Landschaften
Afghanistans, erkennt deren Unabhängigkeit an und verpflichtet
sich, niemals eine Einmischung in die innern Angelegenheiten
derselben zu versuchen; England verzichtet auf das Schutzrecht
über persische Unterthanen, die britische Gesandtschaft kehrt nach
Teheran zurück und wird dort feierlich empfangen; beide Theile
werden sich künftig gegenseitig auf dem Fuße der meistbegünstig-
ten Nation behandeln.
Außer diesem englisch-persischen Kriege erhielten noch
zwei andere, mit der orientalischen Frage mittelbar zusammen-
hängende Fragen Europa eine Zeit lang in Spannung: die
griechische und neapolitanische. Die Regierungen von Nea-
pel und Griechenland hatten nämlich wegen ihrer Politik
offener oder versteckter Feindseligkeit gegen die Westmächte, diese
in hohem Grade gegen sich aufgebracht. In Griechenland war
18*
j:
/
r
r
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Extrahierte Personennamen: Feruk_Chan
Extrahierte Ortsnamen: England Asien Persien Teheran_Eng- Indien Paris Afghanistan Afghanistans England Teheran Europa Griechenland Griechenland
276
Neueste Geschichte. 5. Periode.
es zu einem offenen Ausbruch gekommen, dessen Absicht auf eine
Vergrößerung des Staatsgebiets durch die türkischen Provinzen
Epirus und Thessalien gerichtet war und bei dem Zusammen-
hange der gräco- slavischen Bevölkerung den Charakter einer
äußerst gefährlichen Diversion zu Gunsten der Russen annehmen
konnte. Der seit langer Zeit vorbereitete Aufstand brach in
Epirus in den ersten Tagen des Januars 1854 aus, die tür-
kische Grenze ward an verschiedenen Punkten überschritten, und
gewisse Demonstrationen, welche in Athen begünstigt oder doch
geduldet wurden, zeigten, daß selbst der Hof sich mit ansschwei-
fenden Plänen der Wiederherstellung eines byzantinischen Kai-
serthums trug. Da die Warnungen der Diplomatie keinen Er-
folg hatten, wurden Gewaltmaßregeln ergriffen. Mitte Mai
überreichten die Gesandten Englands und Frankreichs der Re-
gierung des Königs von Griechenland zwei dem Inhalt nach
gleiche Noten, welche wirksame Maßregeln gegen die Theilnahme
griechischer Unterthanen an kriegerischen Uebergriffen auf türki-
sches Gebiet und eine bindende Erklärung, daß Griechenland
in dem damaligen Kriege zwischen Rußland und der Türkei neu-
tral bleiben werde, verlangten. Da eine solche Verpflichtung
nicht erfolgte, erschienen am Abend des 25. Mai sechszehn fran-
zösisch-englische Dampfer im Hafen von Piräus, besetzten die da-
selbst liegenden griechischen Kriegsschiffe, von denen sie die grie-
chische Flagge entfernten, und setzten ungefähr 3000 Mann ans
Land, die in der Unigebnng des Piräus ihr Lager aufschlugen.
Die jetzt erklärte Bereitwilligkeit der Regierung konnte gegen
diese Occnpation nichts mehr helfen; doch kam man unter Ver-
mittelung des preußischen Gesandten, Herrn von Thile, über-
ein, daß- die Truppen außerhalb des Piräus bei den Anhöhen
Munychia ihr Lager aufschlagen und nur die Quarantaineanstalt
besetzen sollten, der König dagegen die Gesandten der Westmächte
in einer Audienz empfangen, ihnen vom Thron herab das Ver-
sprechen geben, sich neutral verhalten zu wollen, und ein neues
Ministerium einsetzen sollte. Dies geschah; indeß wurden die
Aufständischen, bei der Ohnmacht der Regierung und der Neigung
der Bevölkerung zu Räubereien, nur sehr allmälig zur Ruhe ge-
bracht, ohne daß die öffentliche Sicherheit überhaupt in einer
zufriedenstellenden Weise befestigt ward. Daraus entnahmen die
Westmächte Veranlassung, auch nach wieder hergestelltem Frieden
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Zerwürfnisse Neapels mit England und Frankreich. 277
die Occupation fortdauern zu lassen, bis endlich Allfang 1857
der Abzug der englisch-französischen Truppen gewährt ward.
Die Zerwürfnisse Neapels mit den beiden Westmächten ent-
sprangen aus der russenfreundlichen Gesinnung des dortigen
Hofes, welcher sowohl dem russisch-amerikanischen Vertrage bei-
trat, durch welchen die Austheilung von Kaperbriefen während
des Krieges sanctionirt ward, als auch Verbote gegen die Aus-
fuhr von Lebensmitteln erließ, worunter lediglich die Westmächte
zu leiden hatten. Hierzu kamen Reibungen zwischen der neapo-
litanischen Polizei und dem Personal der englischen Gesandtschaft,
und Mißachtung maritimer Convenienz gegen ein im Hafen von
Messina liegendes französisches Kriegsschiff. Zwar versuchte die
neapolitanische Regierung den dadurch heraufbeschworenen Sturm
durch Concessionen, wie man sie begehrte, zu beschwören, was
auch für den Augenblick gelang; aber in Folge der auf dem pa-
riser Congreß zur Sprache gelangten „italienischen Frage" konn-
ten die Westmächte nicht umhin, auch dem neapolitanischen Hofe
Maßregeln der Milde und Gerechtigkeit im Interesse der Ruhe
Italiens anzuempfehlen. Diese Anempfehlung verursachte in
Neapel große Aufregung und der Hof, heimlich auf die Unter-
stützung Oestreichs rechnend, wies standhaft jede derartige Vor-
stellung, welche er als einen Eingriff in die Souverainetätsrechte
ansah, zurück.*) In Folge der hieraus sich anspinnenden Ver-
*) König Ferdinand, von der revolntionairen Presse „König Bomba" ge-
nannt, weil er den Straßenaufstand energisch niederzuschlagen verstand, hatte ein
klares Bewußtsein seiner Stellung der Revolution und den liberalen Velleitäten
gegenüber. Als ihm einst Louis Philipp anrieth, in die Wege des Liberalismus
einzulenken und sich Frankreich zu nähern, erwiderte er:
„Ich würde mich gern dem Frankreich Ew. M. anschließen; aber ich bin
durch Verträge und frühere Allianzen, gebunden, welchen ich um so mehr treu
bleiben muß, als sie uns gerade in den Leidenstageu meiner Familie zu Hülfe
kamen. Um mich dem Frankreich Ew. M. zu nähern — wenn dieses ein
Prinzip sein soll — müßte ich das Grundgesetz unserer Regierung umstoßen
und mich in die Politik der Jacobiner stürzen, um deren Willen mein Volk
mehr als einmal treulos gegen das Haus seiner Könige ward. — Die Freiheit
ist dem Geschlecht der Bourbonen verhängnißvoll und ich meinerseits bin fest
entschlossen, dem Schicksal Ludwigs Xvi. und Karls X. aus dem Wege zu ge-
hen. Mein Volk beugt sich der Gewalt und gehorcht; wehe! wenn es sich un-
ter dem Einstuß dieser Träume erhöbe, welche sich sehr schön in den Reden der
Philosophen ausnehmen, aber in der Praxis unmöglich sind.
Mit Gottes Hülfe werde ich meinem Volke das Glück einer ehrenhaften
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Extrahierte Personennamen: Ferdinand Louis_Philipp_anrieth Philipp Ludwigs_Xvi Ludwigs Karls
Extrahierte Ortsnamen: Neapels England Frankreich Neapels Messina Italiens Neapel Frankreich Frankreich Frankreich Karls
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Neueste Geschichte. 5. Periode.
der Kirchengüter, welche im Jahre 1848 dem Staatsvermögen
einverleibt worden, ihrer ursprünglichen Bestimmung nicht ent-
fremdet, die Kapitalien und Einkünfte der frommen Stiftungen,
der gemeinnützigen Anstalten, sowie das vom Baron von Püry
der Bürgerschaft von Neuenburg vermachte Vermögen gewissen-
haft respectirt und den Absichten der Stifter und den Stiftungs-
urkunden gemäß aufrecht erhalten würde.
Bei Publication dieses Vertrags erließ der König von Preu-
ßen eine Proclamation 6. d. Marienbad vom 19. Juni, mittels
deren er seine bisherigen neuenburger Unterthanen aus Eid und
Pflicht entläßt. Diese Proclamation, wie die Bestimmungen des
Vertrags selbst, geben einen zugleich rührenden und erhebenden
Beweis für die großherzigen Gesinnungen des Königs, welcher
nächst Wahrung der Ehre der Krone nur das gegenwärtige und
künftige Wohl seiner ehemaligen Unterthanen ins Auge faßte.
147. Asien.
Ehe wir in unserer Erzählung fortfahren, haben wir noch
einen Blick auf die außereuropäischen Reiche zu richten und be-
ginnen mit
Asien, der alten Culturstätte der Menschheit, wo wir die
Wiege unsers Geschlechts zu suchen haben, von wo aus die Bil-
dung ihren Ausgang nahm und wohin sie zurück zu kehren strebt.
— Wir haben bereits oben erwähnt, daß zwei europäische Mächte
um die Herrschaft über Asien streiten: Rußland und Eng-
land; obwohl auch Frankreich, Holland und andere Staaten
dort noch Colonien haben, welche aber von zu geringem Um-
fange sind, als daß deren Besitz einer großen Machtsphäre zur
Grundlage dienen könnte. Beide Staaten, Rußland und Eng-
land, sind in beständigem Fortschreiten begriffen und der Druck,
welchen sie in Folge dessen auf die Nachbarstaaten üben, reißt
auch diese in die Bewegung hinein, welche sonst in der Agonie,
in die sie seit vielen Jahrhunderten verfallen sind, zu Grunde
gehen müßten.
Indeß hat China, das große „Reich der Mitte", eine
eigenthümliche Bewegung aus sich selbst erzeugt, welche, da sie
nothwendig umgestaltend auf diesen alten, aber in absoluter
Starrheit verknöcherten Culturstaat wirken muß, unsere Aufmerk-
samkeit fesseln darf.
Durch geheime Gesellschaften genährt, ist dort eine Revolution
TM Hauptwörter (50): [T4: [Reich Zeit Staat Volk Deutschland Jahrhundert Land Macht deutsch Geschichte], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T34: [Krieg Frankreich England Deutschland Preußen Frieden Rußland Napoleon Kaiser Jahr]]
TM Hauptwörter (100): [T43: [Zeit Volk Jahrhundert Geschichte Reich Staat Leben Kultur Deutschland Mittelalter], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T61: [Mill Staat Deutschland Reich Europa deutsch Million Land England Einwohner], T98: [Volk Land König Krieg Zeit Feind Mann Macht Freiheit Kaiser], T72: [Bauer Arbeiter Steuer Jahr Stadt Staat Abgabe Gemeinde Land Verwaltung]]
TM Hauptwörter (200): [T127: [Volk Sprache Land Zeit Sitte Kultur Bildung Geschichte Bewohner Stamm], T54: [Staat Zeit Volk Deutschland Leben Reich Jahrhundert Macht Entwicklung Gebiet], T176: [Frankreich England Rußland Deutschland Preußen Krieg Italien Spanien Schweden Holland], T183: [Kind Lehrer Schüler Unterricht Schule Frage Stoff Aufgabe Zeit Geschichte], T151: [König Volk Kaiser Reich Fürst Land Gott Wilhelm Deutschland Frieden]]
Extrahierte Ortsnamen: Neuenburg Marienbad Asien Asien Frankreich Holland China