Europa —
Frankreich.
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Geschichte wahrzunehmen. Den Römern erschien der Gallier als lebhaft, rasch auf-
lodernd in Liebe und Zorn, doch unschwer zu besänftigen, veränderlich in seinen Neignn-
gen, gar neuerungssüchtig; rerum novarnm cupidissimi, heißen sie beim Casar.
Tapferkeit gestand man den Galliern zu, vor allem war ihr Angriff hitzig und stür-
misch; aber im ersten Anlauf sollte alles genommen sein, die zähe Nachhalligkeit und
besonnene Ruhe anderer Völker fehlte ihnen, im Unglück zeigten sie geringe Ausdauer.
Dies Celtische sticht in ihrem Naturell noch jetzt hervor, obgleich sich etwas römisches
und deutsches Blut beigemischt und die Kultur vieler Jahrhunderte Manches gemildert
hat. Gewiß sind die Franzosen oder Franko-Gallier ein begabtes Volk, das neben die hervor-
ragendsten Nationen der europäischen Völkerfamilie zu stellen ist, mit gewissen Eigenschaften
begabt, die man liebenswürdig nennen könnte, wenn sie nicht von andern Eigenschaften
begleitet wären, i>ie keineswegs liebenswürdig sind. Schon die Sprache der Franzosen,
die fließendste unter allen romanischen, hat etwas Einnehmendes, mehr noch ihr muntrer,
leichter Sinn, der nur zu oft frivol wird, ihr Witz, ihre Politeffe und Unterhaltnngsgabc.^)
Fürs gesellige Leben scheinen sie demnach wie geschaffen; gerade deshalb stellen sie aber daö
äußere Erscheinen, die äußeren Ehren zu hoch, und sind gegen nichts empfindlicher als gegen
die Pfeile des Lächerlichen; ein von mot geht ihnen leicht über eine Wahrheit. Daraus erklärt
sich denn auch ein Grundzug des jetzigen französischen Nationalcharakters: die Liebe zur
hohleu Phrase, indem eben die Form höher gestellt wird als der Gedanke; und ein an-
derer Charakterzug steht damit in direktem Zusammenhang: die Liebe zur öffentlichen
Lüge, wie sie in den letzten Jahren in so abschreckender Weise jum Vorschein gekom-
men.**) Wie der Franzos fein zu schmeicheln, also zu täuschen versteht, so will
auch die Nation als solche geschmeichelt und getäuscht sein, und sicher ist, daß sie an
einem Uebermaß von Eitelkeit, Selbsttäuschung und grenzenloser, ja kindischer Selbste
Überschätzung leidet.***) Ein Despot, der dies zu benutzen, ihrer Eitelkeit fortdauernd
*) Es fehlt auch nicht an entgegengesetzten Urtheilen. Die englische, aber fr an-
zosenfreundliche Zeitschrift Globe schreibt (1872): „Der Franzose ist, was die Figur
betrifft, im ganzen weniger zur Anmuth, als vielmehr zur Plumpheit geneigt ... Er ist
nicht lebhaft . . . Seine Seele ist zu sehr von den Fonds, vom Geschäft und von der
schrecklichen Politik des flüchtigen Augenblicks erfüllt, um noch viel Platz für den „Esprit"
zu haben, dessen zarter Duft vor 89 Jahren auf immer in den üblen Ausdünstungen
der Guillotine verschwunden ist. Ein witziger Engländer ist ein seltener Vogel, aber
ein witziger Franzose ist geradezu ein schwarzer Schwan. Die eigentliche Bourgeois-
und Krämernation ist nicht in England, sondern in Frankreich. Der französische typische
Alphonse ist unter 10 Fällen Lmal ein Krämer und hat in 9 Fällen die Seele eines
Krämers . . . Wenn es einem schwer fällt, von einer ganzen Nation zu sagen, sie
habe keine Gentlemen mehr anfzuweisen, so muß man doch von den Franzosen be-
haupten, daß sie infolge ihrer großen, noch immer vor sich gehenden Revolution voll-
ständig diese Schicht der Gesellschaft eingebüßt haben, welche früher, trotz ihrer groben
Fehler, es zuwege gebracht, daß man mit dem Begriff der gebildeten französischen Ge-
sellschaft die Vorstellungen von Anmuth, Höflichkeit und glänzendem Geist zu identi-
ficiren pflegte."
**) Man denke z. B. nur an die lügnerischen Krieges- und Siegesberichte Napo-
leons und Gambettas, an die Lügenhaftigkeit der Journalistik, an die Betrügereien in
den Armeelieserungen.
***) Redensarien, wie die folgenden, finden sich in der neuen französischen Literatur
in tausendfachen Modulationen: Paris ist das Hirn der Welt — dort schlägt das Herz
des Universums — Frankreich ist der Christus der Nationen — es ist der Diamant unter
den Steinen — die Franzosen sind das auserwählte Volk Gottes — Frankreich ist die
Stimmgabel von Europa — wenn Frankreich zufrieden ist, ist Europa ruhig — die
Schacht, Lchrb. d. Geographie S. Aufl. 40
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Deutscher Bund — Geschichte.
Argwohn und theologischem Hader, bis endlich, durch des jesuitisch erzogenen
Kaisers Ferdinand Ii. Bigotterie imb Herrschsucht entzündet, der fürchterliche
30jährige Krieg ausbrach. Der westfälische Friede beruhigte zwar endlich die
Parteien und setzte ihre Rechte fest, das Reich blieb aber in vielerlei Stücke und
Partikelchen gespalten — ein Unheil, das ans der kurzen Dauer der ersten
Kaiserdynastien herrührt. Hätte sich ehmals den Vasallen der Krone nicht wieder-
holte Gelegenheit zur Wahl eines Oberhaupts, also auch zum Stimmenverkanf
geboten, so wäre von den oberherrlichen Rechten nicht eins nach dem andern ver-
äußert worden, um die Wahlherrn damit zu belohnen und zu Regenten zu
machen. Hierin liegt der Hauptgrund der Vielherrschaft, nicht aber, wie man
hie und da meint, in einer Stainmesverschiedenheil; denn wer könnte die Hun-
derte von Staaten, in welche unser Reich answuchs, und die häufig ihre Gränzen
Änderten, für eben so viele Stämme halten wollen? oder gäb' es wirklich einen
Stamm der Detmolder, Nassauer, Hannoveraner, Badenser, Meininger, Olden-
burger rc. ? Gewiß nicht; und überhaupt erwächst jedes größere Volk aus meh-
reren ursprünglich kleineren, die sich bei gleicher Sprache leicht vereinen und ihre
Sicherheit, ihre Macht, eben in dieser innigen Vereinigung finden. Widrige
Schicksale sind es allein, die ein großes Volk, das sich als solches schon fühlte,
aufs neue in Volkschaften zertheilen. Das war Deutschlands Loos, und überall
unter den Machthabern Selbstsucht und Ausländerei, kein Nationalgefühl. Seit
die großen europäischen Mächte auf deurschem Boden sich gestritten, erhielt sich
jede eine Parthei unter den Reichsständen; und da der französische Hof des
Louis Xiv. überaus glänzend war, so verbreitete sich leicht durch viele deutsche
Residenzen die Nachahmulig desselben mit Prachtliebe und Herrscherei, während
in den Freistädten der ehmals mnthige ehrenfeste Bürgersinn zur Spießbürgerei
herabsank. Von der Unbehülflichkeit und Langsamkeit der Reichstagsverhandluugen
zu Regensbnrg ging pedantische Unistäudlichkeit in alles öffentliche Leben, der
schwerfällige Kanzleistyl in die Literatur über. Und wie man in der Tracht die
pariser Moden (Perücken, Steifschöße u. s. w.) vorzog, so mischten sich auch
zahllose französische Wörter und Redensarten in die Sprache der Gelehrten, ein
widerliches Gemengsel in Versen und Prosa, wobei sich die Schriftsteller auf ihr
barbarisches und weitschweifiges Geschreibe noch viel zu gut thaten; sie nannten
das Gründlichkeit.
So stand wahrlich Deutschland am Ende des 17. Jahrh, in mancher Hin-
sicht tiefer als im Beginn des I3ten, jedoch nur vorübergehend, nur erschöpft
durch taugen innern Streit und durch die zerstückelte Staatsform. Der Kern
des Volkes war noch tüchtig, noch ungeschwächt; wie ein bejchmierter Edelstein
unkenntlich geworden, konnt' er über kurz oder lang den Schmutz abstreifen und
das verlorne Feuer wieder gewinnen. Die bösen Früchte des im 16. Jahr-
hundert begoitnenen Kampfs hatte man geerntet; die guten, nämlich die Ent-
fesselung des Geistes und die Wiederbelebung des Nationalgcfühls waren erst
noch zu ernten. Sobald das Schwert des kirchliche» und politischen Zwiespalts
wirklich im Ernst beiseit gelegt war, tonnte man die Idee, worüber gekämpft
worden, ruhiger betrachten und von dem gewonnenen Rechte freier Forschung
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Extrahierte Personennamen: Ferdinand_Ii Ferdinand Nassauer Ernst
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