1907 -
Münster i.W.
: Aschendorff
- Autor: Lennarz, Gottfried
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Römisch-Katholisch
6
Deutsche Landschaft und deutsches Volkstum.
Höhen. Es ist das rechte Heim des weinfröhlichen Fran
fert, der hier seit zwei Jahrtausenden baust und seiner-
seits dieser gottgesegneten Talnng den Stempel seiner
energischen Schaffenslust ausgeprägt hat. Doch dieselben
Nheinfranken wohnen auch auf den Hochflächen zur Seit'.'
von Rhein, Mosel und Lahn; indessen wie zurück-
geblieben, wie weltabgeschieden und arm, wo der naß-
kalte Fels- oder Tonboden der Eifel, des Hunsrncks, des
Westerwaldes, über den der Nordwest Regenschauer und
Schneewehen treibt, die Aussaat so kümmerlich lohnt!
Ostwärts folgt das hessische Bergland, das seit alters
ein fleißiges, tapferes Bauernvolk ernährt, ohne Stein
kohlen- und Erzschätze im grellen Gegensatz zum Rhein-
land bis ins 13. Jahrhundert völlig der Städte ent
behrte, auf seinen anmutigen, aussichtsreichen Basalt-
knppen, wie dem Petersberg bei Fulda, der Milseburg,
dein Kreuzberg der Rhön, aber alte Andachtsstätten besitzt
zum Beleg des nur scheinbar barocken Satzes: „Basalt
macht Tromm."
Wo in den noch weiter östlichen Gliedern unseres
Mittelgebirgsraumes, dem thüringischen, dein sächsischen,
dem schlesischen, für den Ackerbau gut geeigneter Niede-
rungsbodeu rauhern Höhen benachbart liegt, da meldet
meistens schon das Fichtengrün der letztern und die
falbe Flur mit den langgezogenen Rechtecken der Äcker
zu ihreu Füßen, wie die 'Bodenerhebung die Beschäf-
tigung der Menschen regelt. Besonders schön aber kann
man ebendort bei den Bergbewohnern die Wahrbeit d?s
Satzes kennen lernen: „Not ist die Mutter der Künste!"
Läge da fetteres Erdreich, das die Waldrodung zum
Feldbau lohnte, und wäre der Winter dort nicht zu lang
und zu rauh, so würden die armen Leute auf dem Harz,
dem Erzgebirge nicht so emsig in den lichtlosen Erden-
schoß eingedrungen sein, um mit Lebensgefahr Metall-
ädern anzuschlagen in immer höher gesteigerter Kunst,
wodurch diese Gebirge zu Musterschulen des Berg- und
Hüttenwesens für die ganze Welt geworden sind; es
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Deutsche Landschaft und deutsches Volkstum.
deruug versagten Kohlen und Metallen auf der einen,
dem Meer auf der andern Seite erzeugte eine Entfal-
hing von Handel und Industrie, die ini Zeitalter des
Dampfer- und Eisenbahnverkehrs eine vordem ungeahnte
Höhe erklomm. „Arbeit schafft Wohlstand und Macht",
das lebrt uns das Emporkommen gerade dieses Nordens
unseres Vaterlandes aus den frühern ärmlichen Zn-
ständen besonders vernehmlich. Dem Wirtschaftsfort-
schritt dieses Raumes vor allem, gar nicht bloß der
politischen Vorrangstellung Preußens ist es beizumessen,
daß das Schwergewicht des neudeutschen Reiches im
Nordosten liegt. Bis tief ins Mittelalter konzentrierte
sich das geistige Leben, das Aufblühen größerer Gemein-
wefen hauptsächlich auf deu Südwesten Deutschlands.
Nunmehr ist die Pflege von Kunst und Wissenschaft bis
in unsere östlichsten Grenzmarken vorgedrungen, und
große wie mittlere Städte sind über unser ganzes Tief
land verteilt. Sie ordnen sich namentlich in drei Reihen.
Eine verfolgten wir von Aachen über Leipzig bis ins
Vorland der Sudeten; sie hält sich in der Nähe des Ge
birgsfußes, wo der Boden der Niederung tonhaltiger,
deshalb fruchtbarer ist, und nutzt den Marktvorteil aus,
wie er sich überall darbietet durch den Erzeuguugsgegen-
satz zwischen Gebirge und Ebene. Eine zweite fällt in
die große mittlere Verkehrsgchse, die zugleich ein Stück
der gesamteuropäischen von Paris über Moskau aus-
macht! sie besteht vorzugsweise aus Brückenorten wie
das steinalte, doch ewig jugendfrifche Cöln, Hannover,
Magdeburg, das natürliche Hauptzentrum des Verkehrs
der Nordostniederung Berlin, ferner Frankfurt a. £.,
Posen. Die dritte befaßt die Küstenstädte, die erst durch
den Kaiser-Wilhelm-Kanal an einen einheitlichen, rein
deutschen Schiffahrtsweg gelangten. Sie waren zum
guten Teil schon zur Hansezeit Deutschlands Stolz als
Organe seines Überseehandels nach England, Skandi
navien, Rußland. Bei vorzugsweiser Richtung dieses
Seeverkehrs über das Baltische Meer mußte Lübeck das
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Die deutschen Ströme.
lands. Frankreichs Flüsse strahlen vom Zentralmassiv
nach allen Richtungen, zum Mittelmeer, zum Atlantischen
Ozean, zum Kanal und zur Nordsee aus. Daher sind
sie nur mittelgroß; die Loire steht weit hinter Weichsel,
Rhein und Oder zurück. Österreichs Flüsse streben zur
Nord- und zur Ostsee, zum Mittelmeer, zum Schwarzen
Meer. Deutschland ist, wenn wir von der Donau ab-
sehen, durch die Gleichrichtung seiner Ströme gekenn-
zeichnet. Sie knüpfen den Süden an den Norden. Muß
man zugeben, daß die Vielartigkeit der Bodengestalt in
nnserm Lande die politische Einheit erschwert hat, so
liegt ebenso sicher eine vereinigende Kraft in den fließen-
den Wässern, die nicht bloß Güter, sondern auch Men-
scheu und Ideen mit ihren Wellen von Userstrecke zu
Uferstrecke und vom Berg zum Meere tragen. Tie Zn-
knnft wird es immer mehr zeigen, daß vermöge seiner
Ströme Deutschland mehr zur Vereinigung neigt als
Frankreich. Der Rhein greift ani tiefsten nach Süden
hinab und hat daher von der Römerzeit an vereinheit-
lichend auf sein Gebiet, das westdeutsche, gewirkt; nach
ihm kommt die Elbe; nur das Emsgebiet gehört vor-
wiegend der Küste an. Rhein und Weser sind großen-
teils Gebirgsströme, die Elbe ist es noch zur Hälfte, Oder
und Weichsel sind sast schon ganz Tieflandströme. Die
Höhenzonen des deutschen Bodens kommen in den Eigen-
schaften jedes einzelnen größern selbständigen Flusses
zum Ausdruck. Jeder hat seine Quelle im Gebirge und
durchbricht desseu äußere Falten; dann bahnt er sich
einen Weg dnrch die Landhöhen, um in den Gürtel von
Senken, Seen, Sümpfen und Flußverflechtungen ein-
zutreten, dem Aller, Spree, Havel, Warthe und Netze
und jenfeits unserer Grenzen noch Narew angehören,
und in denen sogar die Weichsel in eineni Teile ihres
Lanfes zwischen Warschan und Thoru und ein Stück
Oder zwischen Küstrin nud dem Finowkanal fließt. Dar-
auf folgt bei allen der Ostsee zufließenden Strömen der
Durchbruch durch die Seenplatte, an deren Ausläufer
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Die deutschen Ströme.
11
hin bei Altona auch noch bis Elbe fließt, und der Eintritt
in den Lagunen- und Dünenstreif, mit dem hier überall
Deltabildung verknüpft ist. An der Nordsee fließen
Elbe, Wefer und Ems dagegen unmittelbar dem Tief-
land zu und münden mit mächtigen Ästuarien oder in
weiten Münduugsbuchten.
Die großen Flächen festen Wassers in den Firn-
felbern und Gletschern und die zum Teil noch viel
größern Flächen flüssigen Wassers in den Alpenseen und
Voralpenseen sind eine Eigentümlichkeit des Alpen-
gebietes. Von ihnen bis zu den unvergleichlich mäch-
tigern Wasserflächen der Nord- und Ostsee ist ein breites
Gebiet der Zersplitterung des Wassers in zahllose
Quellen und Bäche und sehr wenig zahlreiche kleine Seen.
Indem wir aber die Mittelgebirge und Hügelländer
hinter uns lassen und ins Tiefland hinabsteigen, wächst
die Meuge des Wassers wieder au und sammelt sich zu
Strömen, die sich endlich zu Meerbusen erweitern, zu
zahllosen Seen und ausgedehnten Sümpfen.
In diesem Wechsel der Bodengestalt nehmen natür-
lich die Flüsse auch ihrerseits wechselnde Gestalt an. Ter
eng zusammengedrängte Rhein zwischen Bingen und
Bonn, die Elbe in den Felsenmauern der Sächsischen
Schweiz, die Oder und die Weichsel in den Durchbruchs-
tälern des Baltischen Höhenrückens Küftrin-Stettin und
Thorn-Danzig verursachen auf der einen Seite große
Schwierigkeiten im Wasserverkehr und bereichern auf der
andern die deutsche Landschaft mit Bildern von hoher
Schönheit. Auch der Rheinfall von Schaffhausen gehört
einem Durchbruch an, der dem jugendlichen Strome die
Pforte ins oberrheinische Tiefland erschloß. Eine merk-
würdige Eigentümlichkeit ist endlich die Größe der öst-
lichen Zuflußgebiete im Gegensatz zu einer Art von Ver-
kümmerung auf der westlichen Seite. Ems, Weser, Elbe,
Oder und Weichsel, jeder ist auf der Westseite durch die
östliche Ausdehnung des Nachbars zusammengedrängt.
In der Richtung dieser Ausbreitung liegt das Wachstum
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12
Die deutschen Ströme.
Teutschlands von der Elbe nach Osten. Die in den
Mittelgebirgen aus einen weiten Raum, in Tausende von
Tälern zerteilten Quellflüsse sammeln sich bei allen
deutschen Strömen bald nach dem Austritt aus dem
Gebirge, wo daher alle unsere Ströme auf kurzer Strecke
eine Menge von Zuflüssen empfangen, wogegen das
Tiefland nur wenige größere Zuflüsse zusendet. So
erhält die Elbe nebeneinander Saale, Mulde und
Schwarze Elster, die Oder Meitze, Bober und Bartsch
und die Weser Fulda, Eder, Werra und Diemel. Weiter
unten tritt in allen diesen Fällen nur noch ein größerer
Nebenfluß: Aller, Havel, Warthe hinzu, der in jedem
Falle die Schiffbarkeit auf eine höhere Stufe hebt.
Außerdem tritt in den mitteldeutschen Flußsystemen in
jedem einzelnen ein Nebenfluß hervor, in dessen Richtung
sich der Hanptflnß fortsetzt, so daß eine längere Hydro-
graphische Linie entsteht, die verhältnismäßig kleinen
Nebenflüssen wie Saale und Neiße eine höhere Beden-
tung verleiht. Ein anderer Einfluß der Bodengestalt
macht den Unterlauf aller Flüsse in den Küstengebieten
der Ostsee durchaus abhängig von dem Zug der die
Ostsee umgürtenden Höhenrücken. Wo dieses System
in Holstein und dann wieder in Ostpreußen nordsüdliche
Richtung annimmt, geht sein Abfluß westwärts, wo es
nordöstlich gerichtet ist, nordwestwärts und in der Senke
der untern Oder ostwärts.
Früher, als die Geographie den Wasserscheide n
■Gtne große, aber nicht begründete Bedeutung beilegte,
war viel die Rede davon, daß durch Deutschland ein
Teil der großen europäischen Wasserscheide zwischen
Ozean und Mittelmeer ziehe. Auch der Ruhm des
Fichtelgebirges geht darauf zurück, daß dort die Quellen
des Mains und der Eger, der Nab und der Saale
liegen, der Zuflüsse des Rheius, der Donau und der
Elbe. Praktisch bedeuten solche Annäherungen nichts,
wenn sie so hoch gelegen sind, daß der Verkehr sie nicht
-benutzt. Wenn auf den? 800 in hoheu Brockenfeld in
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14
Die deutschen Ströme.
And der Schneeschmelze, worauf im trockenen Sommer
oft vollständiges Austrocknen der kleinen Erzgebirgs-
und Sudetenabflüsse und selbst in Elbe und Oder ein
beklagenswert niederer Wasserstand eintritt, deu einzelne
starke Gewitterregen nur zu rasch, aber auch zu kurz
unterbrechen. Vergleicht mau die Nieder-, Mittel- und
Hochwasserstände, so ergeben sich daher geringere Schwan-
hingen bei den Alpenflüssen als bei denen des Mittel
gebirges. Uud je kleiner der Fluß, desto größer ist der
Unterschied zwischen Mittelstand und Hochwasserstaud.
Er ist bei der Elfter fünfmal so groß als bei der Isar.
Tie Anschwellungen unserer Mittelgebirgsflüsse sind
durchaus größer und länger im Winter als im Sommer.
Wo diesen Winterschwelleu sich die sommerliche Zufuhr aus
d?n Firnfeldern und Gletschern der Alpen anreiht, wie
beim Rhein, haben wir die günstigsten Wasserstaudsver
Hältnisse. Daß der Rhein der verkehrsreichste Strom
Europas ist, häugt auch damit zusammen. Die Wasser-
stände der deutscheu Flüsse sind, seitdem Messungen vor
liegen, sicherlich gesunken. An der Jller und am Inn sind
sowohl die höchsten als die niedrigsten Wasserstände zurück-
gegangen. Das hängt zum Teil auch mit deu Eiudäm
mungen und Geradleguugen zusammen, die im
Interesse der vou Überfchwemmuugsgefahr bedrohten Au-
wohner und des Verkehrs bei uns iu so großartigem Maße
durchgeführt worden find wie nirgends iu Europa. Der
Rhein ist bis nach Maxau, dem Hafen von Karlsruhe,
großen Dampfern zugänglich und wird bis Straßburg
dem regelmäßigen Verkehr geöffnet werden. Bremen und
Hamburg sind durch die Vertiefung der Unterwefer und
der Unterelbe deu großen Ozeandampfern zugänglich
gemacht, und anf der Oberweser und der Fulda dringt
jetzt der Schiffsverkehr bis Kassel vor, auf der Oder
wird ihm der Weg bis Kasel erschlossen, auf der Donau
ist Ulm als Endpunkt ins Auge gefaßt. Frankfurt ist
durch die Vertiefung des uutern Mains eiu großer
Hafenplatz geworden, und die Kanalisierung des Mains
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18
Die südbayrische Hochfläche.
laus gleichen sich täuschend bei fast allen diesen Ge-
wässern; die meisten strömen in gleicher Linie von Siid-
West nach Nordost. Bei den Tälern des Lech, der Isar.
Jller, Amper, Paar, Glon, Znsamm, Schmutter usw.
ist allenthalben, sowie sie den äußersten Damm des Hoch-
gebirges durchbrochen haben, die Talweitnng unoerhält-
nismäßig breit gegeu die Höhe der umsäumenden Hügel
und die Masse des Wasserlaufs. Sonst bändigt und
beherrscht in der Regel der Berg, ja der Hiigel den Fluß
oder Bach, zwingt ihn um seine Ecken und Vorsprünge
sich zu beugen: die Felsen und Höhen sind die Riesen,,
und die Bäche, zu ihren Füßen sich windend, die Zwerge.
Hier dagegen sieht es aus, als ob die Hügel den Bächen
nachliefen und obendrein stets iu ehrerbietiger Ent-
fernuug: diese Alpenströme ohne Alpen sind die Riesen,,
und die Hiigel ohne sichtbaren Felsenkern mit rundlichen
Formeu die Zwerge. Man sieht fast überall zu viel
Himmel und zu viel Erde.
Die größern Flüsse dieser Hochfläche haben 'selten
ein geregeltes Bett, sie laufen fast überall iu zahlreiche
Zweiggeflechte und Seitenarme auseinander und neh-
men mit nutzlosen Jnselchen, Saud- und Geröllbänken,
Altwassern, kleinen Sümpfen dreimal mehr Platz eiu,
als ihnen von Rechts wegen gebührte. In diesen schwer
zugänglichen Flußaueu herrscht oft noch Urwildnis.
Denn es sind diese Flüsse noch nicht Kuechte der Gesit-
tüug, sondern wilde Feinde derselben. Sie hemmen den
Verkehr, statt ihn zu belebeu. Die menschliche Ansiedelung
bat sich nicht au ihren Ufern gesammelt, sie ist ihnen viel-
mehr möglichst weit ausgewichen. Das Schwemmland,
welches das Hochwasser heuer geschaffen, wird im nächsten
Jahre wieder verschlungen von den tobenden Fluten.
Vielleicht zeigeu sie nur in einer einzigen regnerischen
Sommerwoche ihre volle jähe Zerstörungswut, aber eiu
paar Stuuden genügen dann, um deu Acker, welchen man
jahrelang dem Element mühselig abgetrotzt, in eine für
immer zur Kultur unfähige Geröllbank zu verwandeln.
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Die südbayrische Hochfläche. -1
deutschen Nordens am Saume des Meeres und den
Mooren und Hochflächen des deutschen Südens am Fuße
der Hochalpen hingewiesen, da nicht bloß die Boden-
gestalt, sondern auch die darin gewurzelte Verwandtschaft
des Kulturlebens des Volkes zum Vergleich herausfor-
dern. Und gerade diese letztere Verwandt chaft läuft in
hundert Zweigen auf deu gemeinsamen Mangel des
Bruchsteins und die Aushilfe durch den gebrannten Stein
zurück.
Der Einfluß des Bruchsteins oder Backsteins aus den
Volkscharakter in seiner ganzen Breite und Tiefe uachzu-
weisen, ist noch eine stattliche Aufgabe für einen Kultur-
Historiker. Die Gegensätze, welche sich auf diese entschei-
denden Rohstoffe der Zivilisation gründen, erweitern sich
bei geschichtlichem Rückblick in riesigem Maßstabe', aus
dem örtlichen Gegensatze wächst ein weltgeschichtlicher auf:
der Orient des Altertums, der, wie Babylou durchaus
oder wie Indien zum großen Teil, auf den gebrannten
Ton hingewiesen war, und das brnchsteinreiche Hellas
und Rom; der backsteinbauende Nordosten Deutschlands im
Mittelalter und die südwestdeutschen Bruchsteingegenden
in demselben Zeitraum! Überall kommen wir auf gleiche
Grundunterschiede zurück, die zuletzt in dem Bruchstein-
haus des Gebirgsbaueru und in dem Lehm- oder Back-
steinhaus des Flachland- oder Moorbauern zu dem
kleinsten Maßstab zusammengeschrumpft, aber nicht er-
loschen sind.
Wie fein stuft sich wieder, um auf der südbayrischen
Hochebene stehen zu bleiben, hier der ziegelgedeckte Back-
steinbau in den Dörfern des hügeligen Teiles gegen die
strohbedeckten Häufer der Moosdörfer, gegen die fchwei-
zerifchen Holzschindelhäuser der höhern Lage ab! Die
plumpen, massiven, breit und tief gebauten Häuser der
Hügelregion mit ihren quadratförmigen Fenstern, ihren
hohen, aber fast im stumpfen Winkel gespannten Giebeln,
ihren weiten Hausfluren stellen uns den festen, wohl-
häbigen, aber schwerfälligen Kornbauer dieser Gegend,
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22 Der Ammersee.
der aussieht, als könne man Wände mit ihm einrennen,
den Pommer Süddeutschlauds, in klarster architekto-
nischer Symbolik dar. Da wo die Amper bei Wildenrott,
die Würm bei Obermühlthal gegen die Ebene des
Dachauer Mooses durchbricht, hat die Natur zum letzte»
mal, als auf dem letzten vorgeschobenen Posten, ein Stück
wildromantischer Hochgebirgsszenerie inmitten des Flach-
landes improvisiert, und genau in dieser Gegend tritt
auch bei den Dörfern die Banart des Gebirges ein, ob-
gleich bei den Nachbarn rechts und links noch weit hinaus
die Bauart der Hügel- und Moosstriche gilt, und eine
zwingende klimatische Notwendigkeit zur Anlage dieser
Hochgebirgshänser gewiß noch nicht vorhanden war.
Mit so wunderbar sicherm Instinkt hat der Volksgeist
seine bescheidenen architektonischen Gebilde dem (5ha-
ratter des Landes angepaßt.
4. Der Ammersee.
Heinrich Noe: Deutsches Alpenbuch. I. Band. Naturansichten und
Gestalten au>z Salzkammergut, Oberbayern und Algäu, Glogau
1875, Verlag von Carl Flemming. S. 537—543. (Gekürzt.)
Vom Herzogstande aus erblickt man die beiden größ-
ten Seespiegel des westlichen Vorlandes, den von Starn-
berg und jenen andern, durch welchen die Amper sich hin-
durchzieht. Wie sehr beide die Ziele der Landschaftsmaler
geworden sind, möchte vielen bekannt sein. Der Ammer-
see ist von den Künstlern nicht so vernachlässigt worden,
wie es von fetten der Touristenwelt geschieht. Stets hat
seine breite Wasserfläche mit den einsamen Waldufern,
über welche die hohe Wallfahrtskirche von Andechs
hereinschaut, und dem am fernen Gesichtskreise fast ver-
dämmernden Hochgebirge die eifrigen Jünger angezogen.
Bädeker sagt, seine User seien für „Fußgänger kein
lohnendes Terrain", und ich möchte ihm teilweise zu-
stimmen. Aber die Öde seiner Gestade, die nicht mit
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Der Ammersee. -r>
Gebet für den und jenen auf, welcher friedlich in seinein
Bette entschlafen ist. Meist befinden sich darunter auch
Verse oder Bibelstellen, welche sich auf die „vier letzten
Tinge", insbesondere auf das Fegefeuer, beziehen. Tie-
dürren Blätter der Zweige, die über sie hereinhängen,
stimmen gut zu den Leichbrettern, nicht aber das Früh-
lingslied der Amsel, welche neben ihnen verborgen fingt.
Beim Bade Greifenberg, auf dessen Grunde schwefel-
und arsenhaltende Quellen sprudeln, ragt ein hübsches-
Schloß mit Fernsicht über den See und die stillen Wälder.
Es ist ein beliebter Aufenthalt geworden und verdient es
auch insbesondere mögen ihn diejenigen benutzen, die
an einsamen Spaziergängen in Wäldern Gefallen finden.
Jenseits des Sees fällt über der Einöde der Forste,
die sich vom Gestade bis zum Gipfel des Hügels hinauf-
ziehen, die Kirche von Andechs um so mehr in die
Augen, als man sonst keine menschlichen Ansiedelungen
am Gestade des Sees bemerkt.
Der Kirchturm von Andechs bietet eine wun-
derschöne Ausficht über jenes eigentümliche Gebiet,
welches man die Vorlande der Alpen nennt. Es ist nicht
mehr flach, kaum hügelig, und doch unterscheidet es-
sich fehl' auffallend von der Ebene. Es scheint mir
unmöglich, den Reiz dieses Landes auszumalen. Wer
es niemals recht gesehen hat, vermöchte sich mit Hilfe der
Einbildungskraft viel leichter eine Hochgebirgsgegend
mit annähernder Treue vorzustellen als dieses stille
Gebiet mit seinen Waldschatten, den Moorgründen, in
welchen ein großer Teil der grellfarbigen Flora des-
Hochgebirges sich angesiedelt hat, den klaren Tümpeln,
den fumpfbraunen, trägen Wassern, den Ausblicken über
weite Seebecken und auf die Schneefelder der Alpen, ein
Gebiet voll eigentümlicher Schönheit, welche zu enträtseln
und recht lieb zu gewinnen es aber eines andern Auges-
bedarf als des Werkzeuges, mit welchem die Mehrzahl,
der Menschen ausgerüstet ist.