1886 -
Münster i.W.
: Aschendorff
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Leiber der h. Blutzeugen von den Christen beigesetzt wurden.
Wir wollen hier noch an einige derselben erinnern, die in
der Kirche besonders berühmt geworden.
Der 12ojährige Simeon, Bischof von Jerusalem, starb
wie sein göttlicher Lehrmeister am Kreuze. Der heil. Ig-
natius, Bischof von Antiochia, ein Jünger der Apostel,
sehnte sich mit so heißem Verlangen nach der Marter, daß
er die Christen zu Rom flehentlich bat, ihn nicht etwa vom
Tode befreien zu wollen. Er wurde, wie er wünschte, den
wilden Tieren vorgeworfen. (I. 107.) Als der heil. Po-
lykarp, Bischof zu Smyrna, aufgefordert wurde, Christum zu
lästern, erwiderte er lebhaft: „Sechs und achtzig Jahre
diene ich ihm, wie könnte ich lästern meinen König, der
mich erlöset hat." Er sollte lebendig verbrannt werden;
das Feuer beschädigte ihn nicht; endlich wurde er mit dem
Schwerte durchbohrt. Zwei edle Frauen, die heil. Sympho-
rosa und die heil. Felicitas, jede mit sieben Söhnen, die
durch sie zum standhaften Bekenntnisse waren ermuntert
worden, starben zu Rom, ähnlich der frühern Machabäerin,
eines glorreichen Todes. Ebenda verherrlichte der Philo-
soph Justinus, welcher das Christentum durch zwei gelehrte
Schutzschriften verteidigt hatte, Christum den Herrn mit dem
Opfer seines Lebens. (I. 167.) Zu Lyon in Frankreich,
wo das Christenblut in Strömen vergossen wurde, glänzten
die Bischöfe Pothiuus und Jrenäus, die Jünglinge Epipodius
und Alexander und die Sklavin Blandina durch unerschütter-
lichen Heldenmut in den Qualen. Bekannt ist die ruhm-
würdige Marter des heil. Laurentius zu Rom und des groß-
ßen Bischofes zu Carthago, Cyprian, von denen der erstere
auf einem glühenden Roste gebraten, der andere nach vielen
Leiden enthauptet worden. (I. 258.) Von jeher wurden
in der Kirche gefeiert die erst vierzehnjährige Agnes, die heil.
Agatha, Lucia, Katharina und unzählige andere christliche
Heldinnen, welche für ihren Glauben und teils auch für die
Erhaltung ihrer Keuschheit gekämpft und über Qual und Tod
gesiegt haben. Das glorreiche Martertum der heil. Ursula
und ihrer Gefährtinnen fällt in die Zeit des Kaisers Maxi-
minus, des Thraziers. (I. 235 — 238.)
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3. Die Zerstörung Jerusalems.
Die Synagoge des alten Bundes war nur eine Vorberei-
tungsanstalt für die Kirche Jesu; sie konnte und mußte des-
halb, da die Kirche gegründet war, aufhören, so wie man ein
Gerüst abbricht, wenn das Gebäude vollendet ist. Die Mit-
glieder der Synagoge sollten nach Jesu Willen auch die ersten
Mitglieder seiner Kirche werden; weil sie aber den Messias
verwarfen, so brach Gottes Strafgericht über sie herein.
Bald nach dem Tode des heil. Bischofs zu Jerusalem, des
Apostels Jakobus, ungefähr um die Zeit des Martertodes der
hh. Apostel Petrus und Paulus, empörten sich die Juden von
neuem gegen die Römer, welche sie beherrschten, und der rö-
mische Feldherr Vespasian, der gegen sie abgesandt war, be-
schloß, sie mit aller Strenge zu demütigen. Die Christen ver-
ließen, eingedenk der Weissagung unsers Heilandes, Jerusalem
und flüchteten in die Gebirge. Durch manche Vorzeichen
wurden auch die Juden aus das ihnen drohende Strafgericht
aufmerksam gemacht. Es entstand am Pfingstseste ein furcht-
bares Getöse im Tempel, und deutlich hörte man aus dein
Heiligtume die Worte kommen: „Lasset uns von hinnen
ziehen! Lasset uns von hinnen ziehen!" Ein Mann, Namens
Jesus, fing vier Jahre vor Jerusalems Zerstörung an, Tag
und Nacht durch die Stadt zu wandern, laut rufend: „Wehe
Jerusalem! Wehe dem Tempel!" Mau zog ihn zum Verhör;
man geißelte ihn; aber er antwortete nicht, klagte nicht, ries
nur: „Wehe Jerusalem! Wehe dem Tempel!" bis er, bei der
letzten Belagerung auf den Wällen der Stadt gehend, hinzu-
setzte: „Wehe auch mir!" und, von einem schweren Stein ge-
troffen, tot niedersank.
Nachdem Vespasian das ganze Land verwüstet hatte, rückte
er vor Jerusalem zur Belagerung. Weil er aber zum Kaiser
ausgerufen wurde, mußte er dies Geschäft seinem Sohne Titus
übergeben. Titus ließ die Einwohner Jerusalems zur Über-
gabe auffordern; diese aber wollten davon nichts wissen, ob
sich gleich ihr Elend von Tag zu Tag mehrte. Von außen
wurde die Stadt hart bedrängt, und alle Lebensmittel wurden
ihr abgeschnitten; im Innern herrschte furchtbare Zwietracht
unter den Parteien, so daß dadurch mehr Blut vergossen
wurde, als durch das Schwert der Feinde. Die Hungersnot
wurde so groß, daß eine Mutter ihr eigenes Kind schlachtete,
briet und verzehrte. Als die Soldaten auf der Straße den
Geruch des Bratens wahrnahmen, drangen sie ins Haus hin-
ein, um ihren Teil davon zu bekommen. Die Frau zeigte
ihnen den Rest des gebratenen Kindes, und als jene sich da-
vor entsetzten, sprach sie zu ihnen: „Esset nur! oder seid ihr
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empfindsamer als ein Weib, zärtlicher als eine Mutter?" Die
Kunde dieses Greuels verbreitete sich bald ins römische Lager;
Titus schauderte, und nachdem er den Juden noch einmal,
aber vergebens, Gnade angeboten hatte, beschloß er, diese
Missethat mit den Trümmern Jerusalems zu bedecken. Er
ließ die Stadt bestürmen und eroberte sie nach fünfmonatlicher
Belagerung. Viele Juden hatten sich indes in das gewaltig
feste Gebäude des Tempels geflüchtet. Titus wünschte sehn-
lichst, diesen prachtvollen Tempel zu erhalten und verbot
strenge, daß jemand sich daran vergreife. Aber, von höherem
Antriebe geleitet, ergriff einer der Soldaten eine Fackel und
warf sie in den Tempel; das Feuer griff um sich, und unge-
achtet aller Bemtihungen, den Brand zu löschen, ging der
Tempel in Flammen auf. Ein entsetzliches Blutbad ward in
der Stadt angerichtet. Mehr als eine Million Juden sollen
in diesem Kriege umgekommen sein, und so viele wurden, wie
sie unserm Heilande gethan hatten, von den Römern ans
Kreuz geheftet, daß es in der Gegend an Pfählen zu Kreuzen
mangelte. Die Gefangenen (97000 an der Zahl) wurden
entweder getötet, oder zum Kampfe mit wilden Tieren be-
stimmt, oder in die Sklaverei verkauft.
Solches Ende hatte Jerusalem im Jahre 70, und es er-
schien so auffallend als ein Strafgericht des Herrn, daß Titus
selbst gestand, er sei nur das Werkzeug der göttlichen Rache
gewesen. Er hielt in Rom einen prächtigen Triumph über
die Juden, und auf dem marmornen Triumphbogen, der da-
mals errichtet wurde und zum Teil stehen geblieben ist, er-
blickt man jetzt noch mehrere Abbildungen der erbeuteten
jüdischen Tempelgeräte.
Die Juden wurden, den Weissagungen gemäß, über die
ganze Welt zerstreut und werden, wie ebenfalls die Propheten
vorhersagten, ohne Opfer und Altar, ohne Tempel und Hohe-
priester, erhalten als ein ewiges Denkmal der Wahrhaftigkeit
und Gerechtigkeit Gottes, bis sie am Ende der Tage Jesum
als ihren Messias erkennen und bekennen werden.
4. Kaiser Constantin der Große.
Es giebt Begebenheiten in der Geschichte, die teils da-
durch, daß sie den Charakter eines Zeitalters beurkunden,
teils dadurch, daß andere wichtige Thatsachen an sie geknüpft
sind, eine überaus hohe Bedeutung erlangen. Zu solchen
Begebenheiten gehört auch die wundervolle Erscheinung, die
sich dem Kaiser Constantin dem Großen gezeigt und seinen
Übertritt zum Christentum und die Erhebung desselben zur
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herrschenden Religion bewirkt hat. Wir wollen hören, wag-
davon erzählt wird.
Als Constantin der Große im Jahre 311 von Gallien
aus gegen Rom zog, wo sich der Sohn des Maximian,.
Maxentius, zum Kaiser aufgeworfen hatte, überlegte er lange
bei sich selbst, welchen Gott er zu seinem Führer und Be-
schützer erwählen sollte. Er erwog, daß die meisten seiner
Vorgänger, die auf eine Menge Götter gebaut und sie durch
Opfer und Gaben verehrt hatten, erst durch betrügliche Weis-
sagungen und Orakelsprüche getäuscht worden und zuletzt ohne
Schutz und Rettung elendig umgekommen seien, und daß
dagegen sein Vater, der den einzigen und höchsten Gott ver-
ehrt hatte, stets glücklich gewesen sei. Besonders aber, meinte
er, hätten die, welche von jenen Göttern Schutz gegen den
Maxentius erwartet, sich arg betrogen gefunden. Er schloß
hieraus, daß es thöricht und gefährlich sei, solchen Göttern
zu dienen und nahm sich vor, den Gott seines Vaters zu
verehren. Hierauf wendete er sich an diesen Gott und bat
ihn demütigst, er möge sich ihm zu erkennen geben und ihm.
bei dem gegenwärtigen Unternehmen beistehen. Und Gott er-
hörte sein Gebet und offenbarte sich ihm, wie einst dem
betenden Moyses, durch eine himmlische Erscheinung.
Als Constantin noch in Gallien an der Spitze seines-
Heeres hinzog, zeigte sich nachmittags, da sich die Sonnt
schon gegen Abend neigte, über derselben das Siegeszeichen
des Äreuzes, aus Lichtstrahlen gebildet, mit der Aufschrift:
„Hierdurch siege!" Diese Erscheinung setzte ihn und sein
ganzes Heer, das Zeuge derselben war, in außerordentliches
Erstaunen. Jedoch wußte er noch nicht, wie er sie zu deuten
habe, und die Nacht überraschte ihn bei seinem Nachsinnen
und Zweifeln. Da bot sich ihm eine andere Erscheinung dar.
Jesus Christus trat zu ihm im Traume mit demselben Zei-
chen, das er wachend am Himmel gesehen hatte, und befahl
ihm, eine Fahne, ähnlich der himmlischen Erscheinung, ver-
fertigen und sie als Zeichen des Sieges in seinen Kriegen vor
sich her tragen zu lassen. Mit Anbruch des folgenden Tages
benachrichtigte Constantin seine Freunde von diesem Traum-
gesichte, ließ dann Künstler, die in Gold und Edelsteinen
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arbeiteten, zu sich kommen und befahl ihnen, eine Fahne,
ganz der Beschreibung gemäß, die er ihnen davon machte, zu
verfertigen. So entstand die Fahne des Kreuzes, Labaumi
genannt, eine große, mit Goldblech bedeckte Stange, durch
die ein Querbalken in Gestalt eines Kreuzes ging. An der
Spitze war ein Kranz von Gold und Edelsteinen befestigt,
welcher die beiden ineinander geschlungenen griechischen An-
fangsbuchstaben des Namens Christus in sich schloß. An
dem Querbalken hing ein viereckiges, seidenes Fahnentuch,
purpurfarbig, mit Gold durchwirkt und mit Edelsteinen be-
setzt. Auf demselben, gleich unter dem Zeichen des Kreuzes,
sah man die Bilder des Kaisers und seiner Söhne. Diese
eben so kostbare als glänzende Fahne gebrauchte Constantin
in allen seinen Kriegen als ein Beförderungsmittel der Sicher-
heit und des Sieges. Fünfzig Soldaten der Leibwache,
ausgezeichnet durch Körperkraft und Frömmigkeit, hatten kein
-anderes Geschäft, als sie zu bewachen und einander im
Tragen derselben abzulösen. Und wer sie trug oder nur mit
ihrem Dienste beschäftigt war, hatte, wie Constantin selbst
versicherte, mitten unter den Pfeilen der Feinde keine Gefahr-
oder Verwundung zu befürchten.
Indessen genügte es dem Kaiser Constantin keineswegs,
die Verfertigung dieser Fahne anbesohlen zu haben. Er ließ
auch Bischöfe zu sich kommen und befragte sie über die ge-
habte Erscheinung. Als er nun hörte, daß das Kreuz ein
Sinnbild der Unsterblichkeit und ein Denkzeichen des Sieges
sei, den der Sohn Gottes, da er auf Erden wandelte, über
die Schrecken des Todes erhalten hätte, so verlangte er,
hierüber näher unterrichtet zu werden. Da erklärten ihm
die Lehrer der Kirche, warum der Sohn Gottes Mensch ge-
worden und gestorben wäre. Er aber hörte ihnen aufmerksam
zu und nahm sich vor, den einzigen und wahren Gott mit
aller Andacht zu verehren. Und nun erst stritt er gegen den
Mapentius. Siegreich zog er nach dessen Vernichtung in
Nom ein, gestattete den Christen in seinem Reiche freie Aus-
übung ihrer Religion und stellte sie auch in anderen Dingen
seinen übrigen Unterthanen gleich.
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5. Die alten Deutschen.
Unsere Vorfahren, die alten Deutschen, wurden von den Rö-
mern Germanen, d. i. Kriegsmänner, genannt. Zu diesen rech-
neten sie aber nicht bloß die Bewohner des jetzigen Deutschlands
zwischen der Donau, dem Rhein, dem nördlichen Ozean und den
Weichsel, sondern auch die Völker in dem heutigen Belgien, Hol-
land, Dänemark, Schweden, Finnland, Livland und Preußen,
weil sie alle in Gestalt, Sitten und Sprache einen gemeinsamen
Ursprung ankündigten.
In uralter Zeit war unser Vaterland, das jetzt zu den schön-
sten Ländern der Erde gehört, noch ein recht unfreundlichc-s, wüstes
Land. Ungeheuere Wälder durchzogen es von einem Ende zum
andern, so daß es fast wie eine einzige große Wildnis erschien.
Häufiger Nebel umzog den Himmel und verdunkelte das Licht des
Tages. Daher war auch der Boden weit feuchter, kälter und
unfruchtbarer als jetzt, wo die Wälder gelichtet sind, und so der
Boden frei und offen unler der erwärmenden und alles belebenden
Sonne liegt. Getreide wurde nur wenig angebaut. Grasreich
und schön aber waren die Weiden, und daher das Rindvieh so-
wie die Pferde, wenngleich klein und unansehnlich, doch stark und
ausdauernd. Die verweichlichten Römer hatten einen solchen
Schauder vor Deutschland, daß sie es für unmöglich hielten, je-
mand könne Italien verlassen, um in jener Wildnis zu leben.
Die Deutschen aber liebten dieses Land über alles, weil es ihnen
ihre Freiheit beschützen half. Die rauhe Luft und die Jagd stärk-
ten ihre Glieder und ließen ihre Körper bei einfacher Nahrung
zu einer riesenhaften Größe und Kraft aufblühn. Schon vor
ihrem wilden Blicke und ihrer Donnerstimme erschraken selbst die
kriegerischen Römer und mußten erst ihr Auge an den Anblick
dieser fürchterlichen Menschen gewöhnen, bevor sie mit ihnen zu.
streiten wagten.
Sie legten weder Städte noch zusammenhangende Dörfer an..
Jeder banete seine einfache Wohnung in der Mitte seiner Felder
und umzäunte den Hofraum mit einem Gehege. Mehrere solche
Höfe bildeten eine Gemeinde, mehrere Gemeiden einen Gau. Da-
her noch die Namen: Rheingau, Thurgau, Breisgau, Aargan.
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Die Lieblingsbeschäftigung der alten Deutschen war nebst dem
-Kriege die Jagd. Und selbst diese glich einem Kriege. Denn in
ihren Wäldern hauseten damals noch die größten wilden Tiere,
als Bären, Auerochsen, Elen- und Renntiere rc. Ackerbau und
häusliche Arbeiten blieben den Weibern und Knechten überlassen.
Die Deutschen bestanden aus gemeinen Freien, oder dem freien
Volke, und edelen Freien, welche den Adel bildeten. Aus diesen
wurden die Könige gewählt. Doch nicht alle deutschen Stämme
hatten Könige. Manche wählten bei Kriegsunternehmungen aus
den Edeln einen Herzog. Dieser hatte für die Zeit des Kriegs
die höchste Gewalt; im Frieden dagegen regierte die Volksgemeinde.
Jeder freie Mann hatte Anteil an der Leitung der öffentlichen
Angelegenheiten; denn er war Mitglied der Volksversammlung,
welche in allen wichtigen Angelegenheiten die Entscheidung gab.
Zur Zeit des Neu- und Vollmondes kamen gewöhnlich die Ge-
meinden bewaffnet zusammen; bei außerordentlichen Ereignissen
aber wurden sie von den Ältesten der Gemeinden zusammenberu-
fen. Das Zusammenschlagen der Waffen oder dumpfes Gemurmel
kündigte die Annahme oder Verwerfung eines Vorschlages an. Der
Gemeinde standen Priester vor; diese genossen als Vertraute der
Götter und als Vollstrecker ihrer Befehle das höchste Ansehen.
Auch im Felde übten sie die höchste richterliche Gewalt. Sie
allein vermochten Ruhe und Ordnung unter den rohen Männern
zu erhalten, die bei ihrem wilden Freiheitssinne aus keinen Befehl
eines Anführers hören wollten. Von ihnen ließen sie sich, wie
-aus Befehl der Götter, willig binden und schlagen.
Die Religion der alten Deutschen war ein sehr einfacher
Naturdienst. Alle großartigen Erscheinungen in der Natur waren
Gegenstände ihrer Verehrung. Sie verehrten die Sonne, den
Mond, den Frühling; als den höchsten Gott aber den Wodan
oder Guodan; er verlieh den Sieg in den Schlachten. Als den
Gott des Donners und Blitzes verehrten sie den Thor oder Tunar;
als Göttin der Liebe und Freundschaft Freja. Als gemeinschaft-
licher Stammvater aller Deutschen galt Tuisko oder Teut und
wurde ebenfalls göttlich verehrt. Den Gottheiten waren auch die
Wochentage geheiligt und nach ihnen benannt.
Übrigens verehrten sie ihre Götter nicht in umschließenden
Tempelmaueru. Aus den Höhen der Berge, im Dunkel heiliger
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»
Haine, an den rauschenden Quellen und Wasserfällen versammelten
sie sich zu ihrem Dienste. Im sanften Lichte des Mondes unter
ihrem Lieblingsbaume, der Eiche, brachten sie gewöhnlich ihre Opfer
und feiertem ihre Feste und Mahle.
Was ihnen hier aus Erden als das Wünschenswerteste galt,
glaubten sie dereinst auch im Himmel, den sie Walhalla nannten,
wiederzufinden. Bei Tage ergötzten sich dort die Seligen an der
Jagd und an Kämpfen aller Art. So wie der Tag zum Abende
sich neigt, werden die Wunden wie durch Zauberkraft wieder ge-
heilt. Versöhnt setzen sich die Helden zum festlichen Mahle nieder
und trinken im Kreise köstlichen Met aus den mächtigen Hörnern
der Auerochsen. Dann stehen sie neugestärkt wieder zum blutigen
Spiele aus. Bei einem solchen Glauben an künftige Fortdauer
wurden mit den Toten auch wohl dessen Waffen und Pferde auf
den Scheiterhaufen gelegt, damit er bei seiner Ankunft in Wal-
halla sich ihrer bedienen könne.
Die große deutsche Nation bestand wohl aus fünfzig kleinen
Völkerschaften. In Sitten und Einrichtungen wichen sie wenig
von einander ab. Sie führten viele Kriege mit einander. Die
Schwächeren wurden von den Mächtigeren überwunden und ver-
drängt. Daher entstand ein häufiger Wechsel der Wohnsitze. Auch
traten zu gemeinsamen Angriffen und zu vereinter Verteidigung
wohl mehrere Volksstämme zusammen und führten dann gewöhn-
lich den Namen des Hanptvolkes gemeinschaftlich.
Der Stamm der Cherusker wurde vorzüglich berühmt durch
Armiuius oder Hermann, welcher als Heerführer seines Stammes
und der verbündeten anderen Stämme, wozu auch die Brukterer
im nördlichen und die Marsen im südlichen Westfalen gehörten,
die Römer in einer furchtbaren Schlacht schlug.
6. Hermann, der Befreier Deutschlands.
Zur Zeit des Kaisers Augustus war Hermann, der Sohn
eines Cheruskerfürsten, als Geisel nach Rom gekommen und
lernte dort die römische Kriegskunst, zugleich aber auch den Haß
gegen die Unterdrücker seines Vaterlandes. Als Jüngling von
vierundzwanzig Jahren, tapfer und beredt, von schlanker Gestalt
und edlem Gesichte, kam er zurück nach Deutschland und vereinigte
bald alle, die das Schmachvolle des römischen Joches fllhlren, zu
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einem Bündnisse gegen die Fremdlinge. Qnintilins Barns, der
römische Statthalter, der sich gegen die armen Deutschen die här-
testen Bedrückungen erlaubte, schenkte dem Hermann unbegrenztes
Vertrauen; er ahnete nicht, welch ein Löwe hier schlummerte, der
ihn zu vernichten nur die Gelegenheit erwartete. Segest, Fürst
der Cherusker, der mit Hermann in Feindschaft lebte, bemühte sich
umsonst, dem Qnintilins Barns die Augen zu öffnen; er verlangte
vergebens, daß Barns den Hermann und die andern Häuptlinge
gefangen nehmen sollte; der Jüngling hatte sich zu fest in
sein Vertrauen gesetzt, und in vermessener Sicherheit lebte Barns
dahin.
Da brach an der Ems eine Empörung gegen die Römer aus,
und Varus zog eiligst mit seinen Legionen dorthin, um die Ruhe
wieder herzustellen. Hermann führte mit den deutschen Hülfs-
völkern die Nachhut. Als Barns in dem jetzigen Fürstentnme
Lippe in ein Thal, mit waldigen Bergen umgeben, vorgerückt
war, wurden die Römer von den Deutschen plötzlich von allen
Seiten angegriffen; denn Hermann mit seinem Nachtrabe fiel auch
von hinten über sie her und richtete eine schreckliche und schmach-
volle Niederlage unter ihnen an. Die ganze Natur schien sich
mit den Deutschen gegen die Römer verschworen zu haben; der
Regen goß in Strömen, alle Gewässer waren angeschwollen; aus
dem sumpfigen Boden sanken die schwerbepackten Römer ein;
Bogen und Pfeile wurden von dem drei Tage lang anhaltenden
Regen unbrauchbar; der dichteste Wald mit seinen uralten
Stämmen und seinem mächtigen Gestrüpp versperrte den Flüch-
tigen den Weg. Barns ließ alles überflüssige Gepäck verbrennen,
er ließ seine Soldaten sich verschanzen, sie wehrten sich drei Tage
wie Verzweifelte; aber vergebens, der Vertilgungskamps wurde
von den Deutschen mit allzugroßer Entschlossenheit und Begeiste-
rung geführt, von allen Gauen strömten sie in Waffen herbei.
Endlich am dritten Tage war den Römern jeder Ausweg ver-
sperrt. Mit dem Rauschen des Regens und dem Geheul des
Sturmes mischte sich der erneuerte Schlachtruf der Deutschen;
dort Weheruf und Jammergeschrei, hier Schlachtgesang und
Siegesruf. Die Römer warfen die Waffen weg oder gaben sich
mit eigener Hand den Tod, und auch Barns, der die Gefangenschaft
mehr fürchtete, als den Tod, stürzte sich in sein Schwert. Nur
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wenige entkamen, um die Trauerbotschaft nach Rom zu bringen.
Als der Kaiser Augustus diese vernahm, ries er händeringend ans-
„Varus, Barns, gieb mir meine Legionen wieder!" Zum Zeichen
der äußersten Bekümmernis ließ er sich mehrere Monate lang
Haupthaar und Bart wachsen, und das sonst so stolze Rom teilte
den Kummer seines Herrschers, denn es glaubte schon die ge-
fürchteten Deutschen vor seinen Thoren.
Das ist die berühmte Hermannsschlacht int Teutoburger Walde
im Jahre 9 nach Christi Geburt. Ohne Hermanns Mut und
Hingebung hätten wir fremde Sitten, fremde Sprache, und
„Deutschland" wäre vielleicht in der Zahl der europäischen Länder
nicht mehr genannt worden.
7. Der heilige Bonifacius.
Die deutschen Völkerstämme westlich vom Rheinstrom und
an der Donau hatten bereits das Christentum angenommen,
und es äußerte schon seine segensreichen Wirkungen aus die
Entwilderung der Sitten. Dagegen waren ihre Brüder im
eigentlichen Deutschland vom Rhein bis zur Elbe, von der
Nord- und Ostsee bis zur Donau, noch dem Heidentume
ergeben. Ihren Göttern brachten sie sogar grausame Men-
schenopfer. Da erweckte Gott fromme Männer in Irland
und England, wo das Christentum bereits tiefe Wurzel ge-
faßt hatte, um auch den heidnischen Deutschen das Evange-
lium des Heils zu verkündigen. Es ist rührend zu lesen,
wie diese Männer, allen Bequemlichkeiten des Lebens entsa-
gend, mitten int kriegerischen Getvühle der Völker, still und
friedlich, das Kruzifix und das Evangelium in der Hand,
durch die deutschen Wälder wanderten, die Lehre des Ge-
kreuzigten verkündeten und im Vertrauen auf Gott den größ-
ten Gefahren mutig entgegen gingen.
Der merkwürdigste unter allen Bekehrern jener Zeit war
der fromme englische Mönch Winfried, der ivegen seiner außer-
ordentlichen Verdienste um die Bekehrung der Deutschen nach-
her den Namen Bonifacius, d. i. Wohlthäter, und den gleich
ehrenvollen Beinamen „Apostel der Deutschett" erhielt. Schon
von Jugend aus war seine Seele von dem feurigen Wunsche
erfüllt, in dem Weinberge des Herrn ztt arbeiten und den
Heiden die Worte des Lebens zu verkünden. In der Einsam-
keit des Klosters bereitete er sich zu seinem heiligen Berufe
vor. Dann verließ er es mit Genehmigung seines Abtes und
ging nach Rom, um sich vom Papste zu seinem edlen Werke
Lesebuch für Ober-Klassen. 24