1914 -
Berlin
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- Autor: Engelhardt, Georg
- Sammlung: Politikschulbuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
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Deutsches
Staatsleben
einst und jetzt
kurzgefaßt und gemeinverständlich dargestellt
Serlin 1914
Verlag -er Liebelfchen Suchhan-lung
W. 57, Nurfürstenstraße Nr. 23. *
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Vorwort und Einleitung.
Das Deutsche Reich als Staatswesen ist ein Gewordenes,
es hat sich von den primitiven Zuständen in germanischer Urzeit
aus über die Perioden „Fränkische Zeit", „Mittelalter", „Neu-
zeit" zu dem entwickelt, was es heute ist. Jede Periode der
deutschen Entwicklung hat nicht anders als auf den Grund-
lagen, die die vorangegangene geschaffen hatte, weiterbauen
können, ihre Einrichtungen sind neue Anpassungsformen an die
jeweils gesteigerten Forderungen einer reicher und feiner ge-
wordenen Kultur und eines erweiterten Wirtschaftslebens. So
ist das Deutsche Reich neben seiner äußeren Ausdehnung inner-
lich gewachsen und hat sich organisch vervollkommnet.
Diese Entwicklungsvorgänge im einzelnen darzustellen,
ist der Zweck des vorliegenden Buches. Wir hören dabei von
abgestorbenen Staatsformen wie Lehnsstaat, ständisch beschränkte
Monarchie und Absolutismus, von geistlichen und weltlichen
Territorien, von Fürsten, Grafen und Herren des alten deutschen
Reiches, von Reichsständen und Landständen, Reichsrittern
und Landadel, von Ritter- und Söldnerwesen, von Städte-
gründung, Städteleben und Städtebündnissen, von Fronhofs-
wirtschaft und Bauernbefreiung, von alten Steuerarten wie
Buteil, Grafenschatz, Beden und Notbeden und von vielem
anderen, alles Dinge, die uns heute fremd anmuten und die
doch mehr oder weniger in Beziehung zu unserem heutigen
Staatsleben stehen. Man hat schon sagen hören, daß die
Verfassungs- und Rechtsgeschichte die Allgemeinheit wenig an-
gehe, die Beschäftigung mit ihr vielmehr den Fachleuten zu
überlassen sei. Und in der Tat verwenden wir unendlich viel
Zeit und Mühe, um die Schüler aller Schulen, die doch in der
allergrößten Mehrzahl später Fragen der hohen Politik gegen-
über mehr die Rolle als Zuschauer spielen, mit den welt-
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Iv
geschichtlichen Vorgängen bekannt zu machen, versäumen aber
dabei, sie über die Entwicklung des inneren Staatslebens ein-
gehend zu unterrichten, wo sie doch als künftige Staatsbürger
berufen sind, bei seinem Ausbau handelnd mitzuwirken, als
Wähler ihren politischen Willen in die Wagschale zu werfen.
Wie kann aber jemand auf den vorhandenen Grundlagen
weiterbauen helfen, wenn er sie gar nicht kennt?
Die Kenntnis der historischen Grundlagen unserer heutigen
Staats- und Gesellschaftsordnung ist nicht nur für jeden einzelnen
Staatsbürger von allergrößter Wichtigkeit, sondern namentlich
auch für den Lehrer sowohl an höheren und Fortbildungs-
schulen, als auch an Präparandenanftalten und Seminaren,
der das heranwachsende Staatsbürgertum über die Grundlagen
und die Einrichtungen unseres heutigen Staatslebens und über
die Aufgaben im Staate, insbesondere seine Rechte und
Pflichten ^), unterrichten soll.
Der allgemeine Zweck des Buches ließ nirgends eine er-
schöpfende Behandlung des Stoffes zu. Es will ja auch nur
den äußeren Rahmen und die großen Linien vom Bilde der
Entwicklung unseres Staatswesens geben. Dem wißbegierigen
Leser bleibt es überlassen, das Bild im einzelnen durch das
Studium von Spezialliteratur zu ergänzen. An solcher sowie
an reizvollen Einzelschilderungen aus vergangenen Tagen ist
ja kein Mangel. Die hier verwendete Fachliteratur ist auf
Seite Vi! angegeben.
Möge das Buch das Interesse am Staate und an den
ehrwürdigen Zuständen seiner Vergangenheit sowie die Er-
kenntnis wecken helfen, daß ein Staat nur auf den Grund-
lagen gedeihen und sich gesund weiterentwickeln kann, auf
denen er aufgebaut ist.
Berlin-Lichterfelde im Herbst 1913.
Der Verfasser.
Eine eingehende Darstellung dieser Rechte und Pflichten in:
besonderen enthält das bekannte Buch „Rechte und Pflichten der Staats-
bürger" 134 S., 6. Aust., 22.-24. Tausend, Verlag der Liebelschen Buch-
handlung, Preis 1 Mark.
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V
Inhaltsübersicht.
I. Die germanische Urzeit.................................. i
Allgemeines. Völkerschaften. Königtum. Monarchis-
mus. Landesgemeinde. Stände. Heerwesen. Steuer-
wesen. Vormundschaftswesen. Armenpflege. Grund und
Boden. Rechtspflege. Eine altgermanische Gerichtsver-
handlung. Schlußbemerkung.
Ii. Die fränkische Zeit....................................11
Allgemeines. Königtum. Königlicher Hofstaat. Be-
amtentum. Reichs- und Hoftage. Die fränkische Kirche.
Heerwesen. Lehnswesen. Rechtspflege. Grund und
Boden. Immunität. Stände. Schlußbemerkung.
Iii. Das Mittelalter.......................................26
Allgemeines. Das Lehnswesen. Grund und Boden.
Stände. Der König. Die königlichen Hofämter. Heer-
wesen. Reichstag. Reichseinnahmequellen. Rechtspflege.
Die landesherrlichen Gebiete....................45
Allgemeines. Fürstliche Hofämter. Rechtspflege. Landes-
steuer. Landtage.
Diestädte.......................................48
Iv. Die Neuzeit.........................................53
Allgemeines. Aufnahme fremder Rechte. Lehnswesen.
Grundeigentum. Stände. Der deutsche König. Die Erz-
ämter. Der Reichstag. Reichsregiment. Reichskreise.
Reichskammergericht. Reichsheer. Einnahmequellen des
Reichs. Reichspolizeiwesen. Postwesen.
Die landesherrlichen Gebiete....................66
Verfassung. Kriegswesen. Gerichtswesen. Verwaltungs-
organisation. Finanzwesen.
Die freien Reichsstädte.........................72
Die Reichsritterschaft..........................73
V. Untergang des alten und Aufrichtung
des neuen Deutschen Neiches.........................74
Rheinbund. Bundestag. Nationalversammlung. Nord-
deutscher Bund. Das neue Deutsche Reich.
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von 1848 bestimmt hatten: Aller Lehnsverband ist aufzuheben.
So kommt es, daß dermalen nur noch wenige Überreste des einst
so bedeutungsvollen Lehnswesens, das sind die noch vorhandenen
Thron- und sonstigen landesherrlichen Dotations- und Gnaden-
lehen, in die Gegenwart hineinragen. Für das öffentliche Recht
hat das Lehnrecht praktische Bedeutung nur noch bei Thronfolge-
fragen, die mangels besonderer hausgesetzlicher Normen nach
altem Reichslehnrecht beurteilt werden.
Ebenso wie das Lehnswesen, hat auch die Umgestaltung
der Heeresverfassung, d. h. die Ausbildung des Söldnerwesens,
auf die Besitzverhältnisse am Grundeigentum maßgebenden Ein-
fluß ausgeübt, indem die Vasallen sich mehr und mehr in Land-
wirte verwandelten. Dazu trug ferner bei, daß seit der Auf-
nahme der fremden Rechte ein gelehrtes Beamtentum den unge-
lehrten Adel allmählich ganz aus den früher ihm allein zugäng-
lichen amtlichen Stellungen verdrängte. Soweit es nötig, verließ
der Adelige den Hof des Fürsten, die Stadt oder Burg und zog
sich auf einen für landwirtschaftlichen Betrieb geeigneten
Rittersitz zurück. Um die Eigenwirtschaft zu begründen oder aus-
zudehnen, begannen die Grundherren im O st e n Bauernland
einzuziehen (das sog. „Bauernlegen") und es selbst zu benutzen,
oder sie ließen sich aus Erbleihe nicht mehr ein, um das Recht der
Wiederverleihung in der Hand zu behalten, dabei die Dienste
der Bauern zu steigern und neue Arbeitskräfte zu gewinnen.
Da diese Erundherren gerichts- und landesherrliche Rechte über
die Bauern sowie das Recht der Steuererhebung besaßen, außer-
dem als Landstände auf den Landtagen, wo die Bauern nicht
vertreten waren, die Gesetzgebung nach ihren Wünschen zu ge-
stalten in der Lage waren, standen die Bauern solchen Be-
strebungen machtlos gegenüber. Die zahlreichen, nach dem
Dreißigjährigen Kriege verlassenen Bauernstellen wurden in der
Weise wieder besetzt, daß der Grundherr zuvor den verfallenen
Hos wiederherstellte, so daß auch die Hofgebäude und das In-
ventar Eigentum des Gutsherrn waren, der nun die Bedingungen
der Leihe nach Belieben diktieren konnte. Auf diese Weise sind
die meisten großen Güter im Osten entstanden.
Anders im Westen, wo die Landstände den Landesherren
gegenüber eine derartige Macht nicht besaßen. Diese konnten sich
daher der Bauern frühzeitig gegen die Grundherren annehmen.
Soweit hier Bauernland eingezogen wurde, kam es doch nicht zur
Ausbildung von Gutsherrschaften, da der herrschaftliche Besitz zum
großen Teil in den Händen von Meiern befindlicher Streubesitz
und das Salland zu klein war, um die Grundlage eines eigen-
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wirtschaftlichen Großbetriebes zu werden. Der Ritter blieb hier
in der Hauptsache der Rentner, der er auch vorher durch den
Bezug von Zinsen und Abgaben gewesen war.
Im Osten drohte die Eutsherrschaft das Bauernland völlig
aufzuzehren, aber nur hier und da (in Holstein, dem südlichen
Schleswig, Mecklenburg und Schwedisch-Pommern) ist es an-
nähernd dazu gekommen. Die Landesherren der größeren Terri-
torien, die den Wert des Kleinbauernstandes nicht verkannten,
nahmen sich seiner an, verboten die Umwandlung von Bauern-
land in Hofland und schrieben den Grundherren die Wieder-
besetzung erledigter Vauernstellen vor. In Preußen wurde schon
unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich d. Er. für alle heim-
gefallenen oder verlassenen Bauerngüter der Leihzwang ein-
geführt und den Herren die Einziehung untersagt. Roch weiter
ging die preußische Bauernschutzgesetzgebung gegenüber den
Domänenbauern, denen unter den ebengenannten beiden
Herrschern durchweg erblicher Besitz eingeräumt wurde. Die
bäuerlichen Leistungen wurden für ablösbar erklärt, das Land
ging nach erfolgter Ablösung in das volle Eigentum der Bauern
über. Durch das Edikt vom 8. Oktober 1807 erfolgte die Auf-
hebung der Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit dann für den
ganzen Staat.
Wie bisher, bildeten die Fürsten, Grafen und Herren den
ersten Stand, den hohen Adel. Die früher nur allgemeine
Standesbezeichnung „Fürst" kam als besonderer Titel neben den
älteren Fürstentiteln (Kurfürst, Markgraf, Herzog) in Gebrauch.
Grafen gab es unter den Fürsten nicht mehr, dagegen hatten die
Herren größtenteils den Titel „Graf" angenommen. Rur der
hohe Adel besaß (außer den Städten) Reichsstandschaft, doch gab
es von alters her gewisse Ausnahmen (wie z. B. die Grafen von
Stolberg), die, obgleich sie Unterherrschaften unter fremder
Landeshoheit waren, sich die Reichsstandschaft und Zugehörigkeit
zum hohen Adel bewahrt hatten. (Erhebungen in den Stand des
hohen Adels kommen seit Auflösung des Reiches nicht mehr vor;
die Titel des hohen Adels kann dagegen jeder Landesherr ver-
leihen.)
Der niedere Adel schied sich nach Ausbildung der
Reichsritterschaft (S. 73) in den Reichs- und den Landadel.
Der Reichsadel übte eine beschränkte landesherrliche Gewalt aus;
er besaß Vorrechte wie: persönlichen Gerichtsstand vor den höchsten
Reichsgerichten, Recht der Hausgesetzgebung (die Hausgesetze
bedurften kaiserlicher Bestätigung), Anspruch auf direkte Mit-
teilung der Reichsgesetze. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts
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führten die Mitglieder der Reichsritterschast den Titel „Frei-
herr" auch ohne besondere Verleihung.
Der Landadel ging mit Einführung der stehenden Heere
als Berufsstand ein, wenn er zum Teil auch, namentlich in West-
und Süddeutschland, die ritterliche Lebensweise bis zum 17. Jahr-
hundert fortsetzte; er bildete den Stamm für das Offizierkorps
(in Preußen galt der Offiziersdienst im Heere als eine gesetzliche
Pflicht des Landadels) und das höhere Beamtentum. Die Ver-
leihung des Adels (Briefadels) war zwar ein kaiserliches Reser-
vatrecht, wurde aber auch von den Reichsständen, die europäische
Großmächte waren, ausgeübt. Zu den Vorrechten des Adels
gehörte ein besonderer Gerichtsstand, das Recht auf ein Familien-
wappen und die passive Lehnsfähigkeit, nach der auch Rittergüter
nur von Adeligen erworben werden durften, sowie die Fähigkeit
zu Familienfideikommissen.
Zwischen höherem und niederem V ü r g e r st a n d , der die
gesamte freie Einwohnerschaft der Städte umfaßte, bestand nichts
wesentlich Unterscheidendes.
Der Bauernstand war mit Ausnahme weniger Frei-
bauern in Abhängigkeit von den großen Grundherren, in Hörig-
keit und Leibeigenschaft, geraten. Weniger drückend war seine
Lage im Westen als im Osten. Mit der schon erwähnten Neu-
regelung der Vesitzverhältnisse Hand in Hand ging auch die Be-
freiung der Bauern aus Hörigkeit und Leibeigenschaft durch die
Landesgesetzgebung, worüber später noch Weiteres zu sagen
sein wird.
Der deutsche König führte in diesem Zeitabschnitte den
Kaisertitel ohne päpstliche Krönung. Karl V. war der letzte
deutsche König, der sich in Bologna, nicht in Rom, vom Papste
krönen ließ. Seit Ferdinand I. lautete der Titel „erwählter
römischer Kaiser", wozu noch der von seinen Erbländern ent-
lehnte weitere Titel kam. Die Wahl geschah bis zuletzt nach den
Vorschriften der Goldenen Bulle. Wahl und Königskrönung
erfolgten seit Ferdinand I. am Wahlorte Frankfurt a. M. (nicht
mehr zu Aachen) mit all dem Gepränge, den Aufzügen und Be-
lustigungen, wie es später Goethe geschildert hat. Seit 1520
beschwor der König vor der Wahl die Wahlkapitulation, in der
sich die Kurfürsten Z ihre landeshoheitlichen Rechte sowie die der
übrigen Reichsstünde sicherten.
i) Bis zum Westfälischen Frieden blieben es die in der Goldenen
Bulle von 1356 genannten: Mainz, Trier, Köln, Böhmen. Pfalz,
Sachsen, Brandenburg. Die pfälzische Kurwürde kam nach der Ächtung
Friedrichs V. an Baiern, dem Pfalzgrafen ward aber im Westfälischen