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1. Bd. 1 - S. 76

1913 - Leipzig : Poeschel
76 Die Verfassung ües Reiches usw. Wesenheit einer bestimmten Anzahl von Mitgliedern notwendig, meist mindestens von zwei Dritteln oder der Hälfte der Körperschaft. Zur Vorbereitung wichtiger Angelegenheiten werden häufig Ausschüsse gebildet; verbindlich handeln kann jedoch nur das ganze Kollegium. Ihre Beschlüsse dürfen die Stadtverordneten nur in den seltensten Fällen selbst ausführen; das ist Sache des Magistrates. Er ist jedoch nicht der Vollstrecker des Willens der Stadtverordneten, er hat im Gegenteil seinerseits dazu Stellung zu nehmen und ist verpflichtet, die Zustimmung zu versagen und die Ausführung zu verweigern, wenn die Stadtverordneten ihre Befugnisse überschreiten, wider die Gesetze verstoßen und das Staatswohl oder das Gemeindeinteresse verletzen. Als Organe der Stadtgemeinde find Magistrat und Stadtverordnete im Verhältnis zueinander gleichwertig. Der übereinstimmende Wille beider ist erforderlich, wenn eine Maßnahme, wie z. B. die Ein- führung einer neuen Steuer verbindlich sein soll. Beide können zu Ortsgesetzen Anregung geben. Beschließt der Stadtrat, es solle ein Krankenhaus errichtet werden, so ist noch lange nicht die Möglichkeit gegeben, nun mit dem Bau zu beginnen; erst müssen die Stadtver- ordneten zugestimmt und die erforderlichen Geldmittel bewilligt haben. Ebenso verhält es sich, wenn die Stadtverordneten beschließen würden, daß eine Halle für Luftschiffe erbaut werden soll. Tritt der Magi- strat dem Antrage nicht bei, hat der Bau zu unterbleiben. Können die beiden Körperschaften zu keiner Einigung kommen und verharrt jede bei ihrer Ansicht, so entscheidet die Aufsichtsbehörde den Streit. Da ein gedeihliches Zusammenwirken derkollegien stets erwünscht ist, sehen die meisten Städte- und Gemeindeordnungen die Bildung sog. ge - mischter Ausschüsse vor, die aus Mitgliedern des Magistrats und der Stadtverordneten zusammengesetzt sind. Manchmal kommen noch beson- dere Vertreter derbürgerschaft dazu. Solcheausschüsse, die zuweilen mit Selbständigkeit ansgestattet werden,find eine neuerdings sehr beliebteein- richtung geworden, die sich bewährthat. Einebesonderebedeutunghaben die gemischten Schulaus sch üsse. Ihnen gehören meist Mitglieder bei- der städtischer Kollegien, Vertreter der Bürgerschaft und der Lehrerschaft an. Die Schulausschüsse regeln die Angelegenheiten der Schulgemeinde ziemlichselbständig,siebeschließenüberschulbauten,wählendielehrerusw.

2. Bd. 1 - S. 78

1913 - Leipzig : Poeschel
78 Die Verfassung -es Reiches usw. Dresden, Chemnitz und andere Orte haben dagegen ein berufs- ständisches Wahlrecht eingeführt; es sind verschiedene Berufs- gruppen gebildet, die eine bestimmte Anzahl von Stadtverordneten ins Stadtparlament entsenden. Wählbar ist nur, wer selbst wählen kann. Frauen sind stets aus- geschlossen, ebenso wer in Konkurs geraten, der bürgerlichen Ehren- rechte für verlustig erklärt oder eines öffentlichen Amtes enthoben ist, ferner alle, die unter Polizeiaufsicht stehen oder mit der Ent- richtung der Steuern bestimmte Zeit im Rückstände geblieben sind usw. Wer aber alle Voraussetzungen der Wählbarkeit erfüllt, darf eine auf ihn fallende Wahl nur ablehnen, wenn besondere in den Ge- setzen selbst aufgestellte Gründe in seiner Person vorliegen. Ist das nicht der Fall, kann er zur Annahme durch Verhängung von Geld- strafen angehalten werden. Die Stadtverordneten verwalten ihren Posten unentgeltlich ent- weder 3 Jahre (Sachsen, revidierte Städteordnung), 6 Jahre (Preußen) oder 9 Jahre (Bayern). Alljährlich oder nach 2 bez. 3 Jahren tritt je ein Drittel aus und muß neu gewählt werden. Mindestens die Hälfte der Stadtverordneten muß mit Wohnhäusern im Gemeindebezirke ansässig sein (Hausbesitzerprivileg). Die Stärke der Versammlung ist in den einzelnen Orten verschieden; sie richtet sich je nach der Bevölkerungszahl. In Preußen sollen mindestens 12, in Sachsen mindestens 9 Stadtverordnete vorhanden sein. Für solche, die außerhalb der üblichen Reihe ausscheiden, können Ersatzmänner gewählt werden. Ein gewichtiges und entscheidendes Wort in allen Gemeinde- angelegenheiten mitzusprechen, hat sich fast jeder Staat vorbehalten. Er übt die „Oberaufsicht" über die Gemeinden aus und hat dabei das Hauptaugenmerk daraufzu richten, daß von der Gemeinde- verwaltung die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten, daß die Be- fugnisse der Gemeinde und ihrer Organe nicht überschritten, das Stammvermögen erhalten und eine ungerechtfertigte Belastung der Gemeinde mit Schulden vermieden werde. Die Aufsichtsbehörde ent- scheidet auf Anrufen Streitigkeiten, die zwischen den Gemeinde- körperschaften ausgebrochen sind. Wenn eine Gemeinde zu leisten

3. Bd. 1 - S. 82

1913 - Leipzig : Poeschel
82 Die Verfassung des Reiches usw und Abstammung. Die Unterstützung erstreckt sich je nach Bedarf auf Unterkommen, Almosen in barem Gelde oder Naturalien, Krankenpflege und beim Tode auf angemessenes Begräbnis. Hinterläßt der Unterstützte Kinder, so ist für deren Erziehung aufzukommen. Wer keinen bestimmten Unterstützungswohnsttz hat, fällt dem Landarmenverbande zur Last. Über die Aufbringung der Kosten treffen die Landesgesetze die ent- sprechenden Anordnungen. Der innere Ausbau und die Organisation des Armenwesens ist jedoch Sache der Gemeinden, welche die Armenver- bände bilden. Die Armenpflege der Gemeinde muß mit der der privaten Vereinigungen und der Einzelpersonen in steter Verbindung stehen. Es ist nicht nur darauf zu achten, daß die Unterstützungen nur wirk- lich Bedürftigen zufließen, sondern daß die Empfänger die Gelder auch richtig verwenden. Um das zu erreichen, ist die bisherige Übung, die Geschäfte des Armenwesens möglichst nur unter Heranziehung ehrenamtlich arbeitender Personen zu bewirken, dahin abzuändern, wenigstens für größere Gemeinden, daß ein Teil der Angelegenheiten durch geschulte Beamte erledigt wird. Viel Gutes können die Gemeinden in vernünftiger Stellungnahme zu den allgemeinen Arbeiterfragen stiften, indem sie die Gründung von unparteiischen (paritätischen) Arbeitsnachweisen fördern, während des Winters zu Zeiten drückender Arbeitslosigkeit Not- standsarbeiten veranstalten und selbst der umstrittenen Frage der Arbeitslosenversicherung nahe treten. Sind sie selbst Unter- nehmer, so sollen sie ihren Betrieb so einrichten, daß er in bezug auf Löhne, Arbeitszeit, Vertretung der Arbeiterschaft, Nuheftands- unterstützung für die Privatbetriebe als Muster dasteht. Der Sache des gewerblichen Mittelstandes kann durch zweckmäßige Aus- gestaltung des Dergebungswesens (Submissionswesens), durch billige Gewährung von elektrischer Kraft oder von Gas zu Betriebs- zwecken, Unterstützung von Fachschulen und des Genossenschafts- wesens geholfen werden. Unternehmern wie Arbeitern wird bei Lohnkämpfen eine taktvolle Vermittlung der Gemeindebehörden oft erwünscht sein. Beachtung verdienen alle Fragen des Verkehrswesens. Vor allem sind gute Straßen von nören. Sie sind so anzulegen, daß sie

4. Bd. 1 - S. 84

1913 - Leipzig : Poeschel
84 Die Verfassung ües Reiches usw Beamte zur Vornahme von Kassen- und Rechnungsprüfungen an- zustellen usw. Der Gründung derartiger Verbände sind die Re- gierungen sehr gewogen. In Sachsen ist 1910 ein Gesetz zur Rege- lung der Rechtsverhältnisse der Verbände erlassen worden, in Preußen Anfang 1911 zwei. Das eine behandelt die Zweckverbände und deren Aufgaben im allgemeinen; das andere befaßt sich mit den Verhält- nissen von Berlin und den es umgebenden Vororten. Diese werden darnach mit der Hauptstadt für bestimmte Angelegenheiten zu einem Zweckverbande „Großberlin" zusammengeschlossen. Der Verband ist, namentlich für die kleinen und kleinsten Gemeinden, oft das einzige Mittel, die zahlreichen Ansprüche zu erfüllen, die an das moderne Gemeindewesen gestellt werden. Es leuchtet ein, daß die stetige Ausdehnung des gemeindlichen Wirkungskreises ein ständiges Steigen der Ausgaben im Gefolge haben muß. Aufgabe der Gemeindeverwaltung ist es, für die ent- sprechenden Einnahmen zu sorgen. Bei Reich, Staat und Gemeinde richten sich die Ausgaben nicht in erster Linie nach den Einkünften, wie es bei jedem Privatmanne sein sollte, sondern die Einnahmen werden durch die notwendigen Ausgaben bedingt. Wo letztere niedrig sind, brauchen erstere auch nicht hoch zu sein. Die Grundlage für die gesamte Finanzwirtschaft bildet der nach den meisten Gemeindegesetzen jährlich aufzustellende Haushalt- plan (Etat); er ist eine wahrscheinliche Übersicht der zu erwarten- den Einnahmen und Ausgaben, die auf je einer Seite dargestellt werden. Man unterscheidet ordentliche und außerordentliche Einnahmen und Ausgaben. Besonders für die Behandlung der Ausgaben ist diese Auseinanderhaltung wesentlich; als außerordent- liche gelten diejenigen, die nicht oder nur in ausgedehnten Zeit- räumen wiederkehren. Die Höhe des erforderlichen Aufwandes ist dabei nicht maßgebend, doch ist die Größe der Gemeinde vielfach von wesentlichem Einflüsse. Die Kosten für den Bau einer Schule werden in kleinen Gemeinden immer als außerordentliche Ausgabe zu betrachten sein, während sie in den Großstädten, wo fast jedes Jahr ein neues Schulgebäude nötig wird, zu den ordentlichen zu zählen sind.

5. Bd. 1 - S. 86

1913 - Leipzig : Poeschel
86 Die Verfassung des Reiches usw. Wachssteuergesetz von 1911, nach dem die Gemeinden 40°/0 des Ertrages dieser Steuer erhalten sollen. Eingehende Bestimmungen zur Regelung des Gemeindefinanz- wesens in besonderen Gesetzen haben von den deutschen Staaten nur Preußen in dem mustergiltigen Kommunalabgabengesetz vom 14. Juli 1893 und jüngst Hessen getroffen; Sachsen weist nur einen mißglückten Versuch auf, doch ist bereits ein neuer Entwurf in Arbeit. Vorschriften find vielfach in den Städte- und Gemeinde- ordnungen enthalten oder sonst in den Gesetzen verstreut. Infolge- dessen ist es schwer, einen kurzen klaren Überblick zu geben. Nach dem preußischen Kommunalabgabengesetze dürfen die Ge- meinden Steuern nur erheben, wenn die sonstigen Einnahmen, wie Zinsen aus dem Gemeindevermögen, Gebühren usw. nicht ausreichen. Indirekte Steuern können innerhalb der von den Reichsgesetzen ge- zogenen Grenzen erhoben werden, direkte im allgemeinen nur aus- hilfsweise, falls die indirekten und die übrigen Einnahmen zu- sammen den Gemeindebedarf nicht decken; sie können auf den Grund- besitz, den Gewerbebetrieb und das Einkommen gelegt werden. Bezüglich des letzteren besteht jedoch die Einschränkung, daß die Veranlagung zur Staatseinkommensteuer maßgebend sein muß und daß lediglich gleichmäßige Zuschläge erhoben werden dürfen. Für die Benutzung der von den Gemeinden im öffentlichen In- teresse unterhaltenen Anstalten, wie Krankenhäuser, Schlachthöfe, find sie befugt, Gebühren zu verlangen. Gewerbliche Unternehmungen find grundsätzlich so zu verwalten, daß durch die Einnahmen min- destens alle Ausgaben einschließlich der Verzinsung und Tilgung des Anlagekapitales aufgebracht werden. Man nennt solche Unter- nehmungen Gleichgewichtsbetriebe und solche, bei denen die Ausgaben höher find als die Einnahmen, Zuschußbetriebe. Diese find nur gestattet, wenn die Unternehmung einem öffentlichen Inter- esse dient, das auf andere Weise nicht befriedigt werden kann. Der Zug der Zeit geht aber dahin, Zuschuß- und Gleichgewichtsbetriebr immer weiter in der Richtung auszubauen, daß sie Überschuß- betriebe werden. Unter dem Drucke der unumgänglichen Aus- gaben find die Gemeinden genötigt, auf die festen Einkünfte aus

6. Bd. 1 - S. 88

1913 - Leipzig : Poeschel
88 Die Verfassung ües Reiches usw. Krankenhäusern, Anlegung von Straßen, Ausführung von Be- schleusungen usw. rechtzeitig mit der Ansammlung von Zweck- vermögen beginnen, damit im Bedarfsfälle die erforderlichen Mittel vorhanden sind. Bis zur Auflösung des alten deutschen Reiches hatten die reichs- unmittelbaren Städte das Recht, Gesandte in den Regensburger Reichstag zu schicken. In den neuen Reichstag dagegen senden Städte keine Vertreter mehr, die Abgeordneten werden von der Gesamtheit des deutschen Volkes gewählt; nur im Bundesrate sind Hamburg, Lübeck und Bremen als Stadtstaaten durch je ein von ihnen zu bevollmächtigendes Mitglied vertreten. Die einzelstaatlichen Parlamente aber weisen verschiedentlich Vertreter der Städte auf; in den Zweikammerparlamenten spielen namentlich in der ersten Kammer (Herrenhaus, Reichsrat,) die Oberbürgermeister der großen Städte eine bedeutende Rolle. Zu den Vertretungskörpern der überge- ordneten Kommunalverbände ist den Gemeindeorganen meist ein Wahl- recht eingeräumt; denen der Landgemeinden und der nicht kreisfreien Städte zum Kreistage, Distriktsrat, der Bezirksversammlung, denen der größeren Städte, welche vielfach eigne Kreise bilden (exemte Städte), zum Provinziallandtag der Kreisregierung, dem Kreisausschuß. Zur Wahrung gemeinschaftlicher Interessen und zwecks Austausches von Erfahrungen wurden schon in den 60er Jahren Zusammenkünfte von Bürgermeistern und Gemeindevertretern abgehalten. Bekannt ist der sächsische Gemeindetag, dem Stadt- und Landgemeinden an- gehören. Zurzeit bestehen eine große Anzahl von Verbänden, deren Mitglieder Gemeinden eines begrenzten Gebietes sind, wie der preu- ßische, der bayerische, der hessische Städtetag, der schleswig- holsteinische Städteverein, der oberschwäbische Städtever- band. Daneben wirken mehrere Personenvereinigungen, die Sonder- zwecke verfolgen; die bedeutendste ist die Konferenz der Finanzdezer- nenten der Städte über 80000 Einwohner. Über das ganze Reich erstreckt sich der 1903 anläßlich der Dresdener Städteausstellung gegründete deutsche Städtetag, dem Städte mit mehr als 25000 Einwohnern und Städteverbände beitreten kennen. Zur Erleichterung des Verkehrs hat er eine Zentralstelle

7. Bd. 1 - S. 89

1913 - Leipzig : Poeschel
Die politischen Parteien. 89 in Berlin eingerichtet. In letzter Zeit hat er sich stark des Anleihe- wesens angenommen und auch sonst bereits eine segensreiche Wirk- samkeit entfaltet; er wird aller Voraussicht nach in Zukunft eben- falls das leisten, was von ihm erwartet wird. Zwecks Zusammen- fassung der kleineren zur Mitgliedschaft beim Städtetage nicht berechtigten Städte ist vor einigen Jahren der Reichsverband deutscher Städte ins Leben gerufen worden. So herrscht auf allen Gebieten ein frisches Leben und froher Schaffensdrang. Das ist auch notwendig, denn groß sind die Auf- gaben der Gemeindepolitik und schwer ihre Erfüllung. c) Die politischen Parteien. Die politischen Parteien der Gegenwart sind Kinder der neuesten Geschichte, geboren aus dem Streben des Volkes, an der Regierung des Staates teilzunehmen. Möglich wurden sie erst, als der konstitu- tionelle Gedanke die Völker zu erfassen begann. Den Anfang bildet vielfach die Vereinigung von Abgeordneten gleicher politischer An- schauung (Fraktion) zu dem Zwecke, ihre Pläne und Forderungen wirksam vertreten und durchführen zu können. Bald sucht die Fraktion auch außerhalb des Parlaments Anhänger zu bekommen, da sie von den Wählern gleicher Anschauung abhängig ist, und so entsteht die Partei, die alle umschließt, Abgeordnete und Wähler, Zweigvereine bildet, Zeitungen für die Propaganda unterhält und eine Organisation schafft, die für die finanziellen Mittel zum Wahl- kampf zu sorgen hat. Aber auch der umgekehrte Weg ist möglich: es kann in einem Volke, das noch keine Verfassung hat, der Zu- sammenschluß Gleichstrebender zu einer Partei nach einem auswär- tigen Vorbilde erfolgen, und erst mit der Verfassung entsteht dann auch die Fraktion. Die Partei ist also eine Vereinigung gleichgesinnter oder das gleiche Ziel erstrebender Bürger, die die Absicht haben, im Staate oder in der Gemeinde wenn nicht die Herrschaft, so doch wenigstens die Macht auf einem bestimmten Gebiete zu erobern. Gleiche Zwecke und gleiche Interessen verbinden ihre Mitglieder. Ursprünglich waren es bestimmte Weltanschauungen, wie Libera-

8. Bd. 1 - S. 90

1913 - Leipzig : Poeschel
90 Dis Verfassung -es Reiches usw. lismus oder Konservativismus, die parteibildend wirkten. Allmählich haben dann auch berufliche Interessen, Standesangelcgenheiten oder religiöse Anschauungen parteibildende Kraft bewiesen, indem Groß- grundbefltzer, mittlere bäuerliche Besitzer, Kaufleute, Handwerker, die Industrie wie die Finanzwelt versuchten, ihre besonderen Zwecke durch Parteigründungen zu verwirklichen. Auch Verschiedenheiten der Natio- nalitäten können zu Parteigruppierungen führen. In Deutschland kennt das 18. Jahrhundert ein Parteiwesen fast noch nicht. Das ist begründet in dem Mangel eines regen öffentlichen Lebens. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand unter dem Einfluß der französischen Revolution wie im ganzen westlichen Europa und in Amerika so auch in Deutschland der Gegensatz von Liberalismus und Konservativismus. Einzelne Schattierungen waren dabei von Anfang an vorhanden, je nach der Intensität der Wünsche und Forderungen (Parteistellung im Frankfurterparlament). Bald aber verbinden sich bestimmte wirtschaftliche und soziale Momente mit der politischen Weltanschauung. Seitdem die Arbeiterklasse in bewußten Gegensatz zum Bürgertum tritt (um 1860), und dievedeutung der sozia- len Frage wächst, entstehen neue Parteischichtungen, die die älteren li- beralen und konservativen Gruppen zersetzen. Immer größer wird die Zerklüftung des Parteiwesens, je mehr wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund rücken. Darüber geht die einheitliche Weltanschauung fast verloren; das Parteileben Deutschlands rückt gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer weiter von dem Ideal des Zweiparteien- systems (England) ab. (Siehe die Tabellen S. 92 und 93.) Die Partei der Konservativen entwickelte sich in den Ber- fassungskämpfen Preußens im Jahre 1848. Im schärfsten Gegensatz zu den Liberalen, die wie im Frankfurter Parlament auch in der Preußischen Nationalversammlung die Mehrheit bildeten, schlossen sich alle diejenigen Elemente Preußens zusammen, die im Staat den monarchischen Gedanken, in der Kirche den christlich-evangelischen Standpunkt gewahrt wissen wollten („Autorität, nicht Majorität") und einen organischen Aufbau des Staates an Stelle einer demo- kratischen Entwicklung wünschten. Ihre Gründer waren besonders

9. Bd. 1 - S. 91

1913 - Leipzig : Poeschel
Die politischen Parteien 91 die Brüder von Gerlach, von Bismarck, Stahl, Niebuhr und O. von Manteuffel. Da der Großgrundbesitz in der Folgezeit die Vorherr- schaft in der Partei gewann, wurde sie von den Gegnern „Junker- partei" genannt. Als Preßorgan wurde die Krcuzzeitung gegründet. Die Konservativen hatten wichtigen Einfluß in der direkten Umgebung des Königs und erreichten in der 1850 oktroyierten Verfassung eine Einschränkung der demokratischen Forderungen. In den 50er Jahren erlangten sie auch in der 2. Kammer die Majorität. In der Konflikts- zeit (1861—66; s. S. 103,107) aber waren sie, die Anhänger der Bis- marckschen Politik, in der Minderheit. Als die Volksvertretung 1866 mit der Negierung ihren Frieden machte, zweigte sich von der kon- servativen Partei der linke Flügel, der im nationalen Interesse ver- söhnlicher gegen die Liberalen gestimmt war, unter dem Namen „Freikonservative" ab. Die alte Fraktion, die im Reichstage des Norddeutschen Bundes die gleichen Elemente Mecklenburgs, Sachsens und der mitteldeutschen Staaten in sich aufgenommen hatte, nannte sich jetzt Deutschkonser- vative Partei. In Württemberg und Mittelfranken hatte sie auch bedeutende Teile der Bauernschaft zu Anhängern. Während des Kulturkampfes (70er Jahre) trat eine kleine Spaltung in der Partei ein, da die Mehrheit den „kirchenpolitischen Streit als ein Unglück für Reich und Volk" betrachtete, während die Minderheit bei Bismarck aushielt. Das Jahr 1876 brachte die Aussöhnung mit Bis- marck und die endgültige Konstituierung derpartei aufgrund eines Auf- rufes an die deutschen Konservativen (12. Juli 1876). Diese damals niedergelegten Grundsätze sind ergänzt und erweitert worden im Tivoliprogramm des Jahres 1892 (8. Dez.), das seitdem die Grundlage der deutsch-konservativen Partei bildet. „Sie will die Monarchie von Gottes Gnaden unangetastet er- halten wissen" und bekämpft „jeden Versuch, die Monarchie zu- gunsten eines parlamentarischen Regiments zu beschränken". Im vollen Verständnis für die Bedeutung der Wehrkraft des deutschen Volkes treten ihre Mitglieder auch für eine „maßvolle" aber „ziel- bewußte" Kolonialpolitik ein. Innerhalb der Reichseinheit wollen sie die Wahrung der „berechtigten Selbständigkeit und Eigenart der

10. Bd. 1 - S. 93

1913 - Leipzig : Poeschel
Sttmmenzahl Ser parteien in Tausen-en. Rame 1871 1874 1877 1878 1881 1884 1887 1890 1893 1898 1903 1907 1912 Wahlberechrigte . 7656 8523 8943,0 9128,3 9088,8 9383,1 9769,8 10145,9^10628,3 11441,1 12531,2 13352,9 14441,4 Gultige Stimmen ...... 8885 5190 5401,0 5760,8 5097,8 5663,0 7540,9 7228,0 7674,0 7752,7 9495,6 11262,8 12207,5 Anf 100 Wahlberechtigte . . . 51,0 61,2 60,6 63,3 56,3 60,6 77,5 72,6 72,2 68,1 75,8 84,3 84,5 (Deutsch-) Konservative .... 536 3 353,4 526,0 749,5 830,8 861,1 1147,2 891,1 1038,3 859,2 948,5 1060,2 1126,2 Deutsche Reichspartei (Freikons.) 547,9 391,0 426,6 785,8 379,3 387,7 736,4 482,3 438,4 343,6 333,4 471,9 367,2 Antisemiten — — — — - — 11,6 47,5 263,9 284,3 244,5 248,5 51,9 Bund der Landwirte — — — — — — — — — 110,4 118,8 119,4 — Bayrischer Bauernbund .... — — — — — — — — 66,3 140,3 111,4 75,3 48,2 Wirtschaftliche Vereinigung . . — — — — — — — — — — — 104,6 304 6 ì) Nationalliberale 1128,3 1394,0 1469,5 1330,7 746,6 997,0 1678,0 1177,8 997,0 971,3 1317,4 1630,6 1662,7^) Liberale Reichspartei 1 Lib. ohne nàhere Bezeichnung s 35,1 190,6 134,8 156,1 — — — — — — — — — Llb.vcrcinig.sdcutsch- ifrs.vcrcinig. — — — — 429,2 j 997,0 973,1 1159,9 (258,5 195,7 243,2 359,3» Fortschruisp.l Frctsin. ìfrs. Dolksp. — — 417,8 385,1 649,3 \666,4 558,3 538,2 736,0> 1497,0 Deutsche Volkspartei 50,1 39,1 44,9 66,1 103,4 95.9 88,8 147,6 166,8 108,5 91,2 138,6 Nationalsozial — — — — — — — — — 27,2 30,3 9,41 Zentrum 718,2 1438,7 1341,3 1328,1 1182,9 1282,0 1516,2 1342,1 1468,5 1455,1 1875,3 2179,8 1996,8 Elsàffer und Lothringer .... — 190,1 200,0 178,9 153,0 165,6 233,7 101,1 114,7 107,4 101,9 103,6 162,0 Welfcn 73,5 72,1 85,6 100,3 86,7 96,4 112,8 112,7 101,8 105,2 94,3 78,2 84,6 Polen 176,3 208,8 216,2 210,1 194,9 203,2 220,0 246,8 229,5 244,1 347,8 453,9 441,6 Dànen 21,1 19,9 17,3 16,1 14,4 14,4 12,4 13,7 14,4 15,4 14,8 15,4 17,3 So.zialdemokraten 101,9 351,7 493,4 437,1 312,0 550,0 763,1 1427,3 1786,7 2107,1 3010,8 3259,0 4250,4 Unbestimmt und zersplittert. . 25,7 19,6 16,1 14,1 15,3 12,7 47,6 74,6 58,7 106,5 67,2 208,7 196,9 *) Hierin sind viele Stimmen enthalten, die friiher zu den Antisemiten und dem Bund der Landwirte zàhlten. *) Darunter der Deutsche Bauernbund mit 29,8.
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