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1. Beschreibende und lehrende Prosa - S. 8

1889 - Freiburg im Breisgau : Herder
8 I- Beschreibende Prosa: Geschichtliche und geographische Charakteristik. harrte, bis sein Antlitz sich zeigte, wie eine Sonne, an deren Strahlen man sich erfreuen wollte. Als aber die Räume verhängt waren, wo er in so harmloser Nähe seines Volkes lebte, blieben die Bürger wie durch einen Zauber gebannt und schauten lautlos nach dem Kaiserhause, bis sie endlich, zu Tausenden gedrängt, bei Tage wie bei Nacht an den offenen Sarg pilgerten, um noch einmal das ehrwürdige Angesicht zu sehen. Wahrlich, ein solcher Wechsel von Glück und Unbill, von geduldigem Ausharren und raschen Triumphen, von bitterer Verkennung und einer be- geisterten Liebe, wie sie uns nur aus Märchenklängen bekannt war, ist selten durch ein Menschenleben gegangen, und doch ist alles ein Ganzes, wie in dem Bilde eines Meisters, in welchem die Gestalten sich verworren durcheinander zu drängen scheinen, bis uns der Zusammenhang des Ganzen klar wird. Ja, dieses Bild von Kaiser Wilhelms Leben in seiner Mannigfaltigkeit und innern Einheit wird, solange es eine Geschichte giebt, immer einer der inhaltreichsten und erhebendsten Gegenstände menschlicher Betrachtung sein. Unverloren waren schon die Erlebnisse der frühesten Jugend. Der Eindruck einer bescheidenen und haushälterischen Einrichtung, die Erinne- rung an das sorgenvolle Antlitz des, Vaters, an die heimlichen Thränen einer unvergeßlichen Mutter haben den Kaiser durch sein langes Leben begleitet und ihn von früh an vor jeder Anwandlung von Überhebnng bewahrt. Die Unbeständigkeit menschlicher Dinge stand ihm immer vor Augen. Wer hat je ein Wort des Selbstrühmens von ihm gehört oder einen Blick des stolze,: Selbstvertrauens an ihm wahrgenommen? Von allen Erfolgen in Krieg und Frieden gab er Gott die Ehre und den Männern, die er ihm gegeben. Demut war das Ehrenkleid des Herrschers, der Purpur dieses Helden, dessen Thaten den Erdkreis erfüllten. Wichtig für den Lebensgang des Kaisers war es, daß er in voller Mannesreife stand, als ihm der Gedanke nahe trat, daß er auf den Thron seiner Väter berufen sein würde. Darum hat er sich so lange voll und ganz einem Berufe, dem Heerdienste, gewidmet und denselben von Stufe zu Stufe gewissenhaft durchgemacht. Hier ist ihm die rücksichtsloseste Pflichttreue im großen und kleinen zur andern Natur geworden. Hier hat er die Bedürfnisse des Soldaten, hier alle starken und schwachen Seiten unseres Heerwesens auf das genaueste kennen gelernt, so daß er in einem der wichtigsten Teile des Staatswesens ein vollkommen Sachverständiger war, als er die Verpflichtung fühlte, seinen Gesichtskreis nach allen Seiten zu erweitern. Deutlich erkannte er, was in Preußen, was in Deutschland anders werden müsse, und nimmer kann ich — denn warum sollte ich Bedenken tragen, heute vor Ihnen eigene Erinnerungen einzuflechten, die zu den teuersten meines Lebens gehören? — des 22. März 1848, heute vor

2. Beschreibende und lehrende Prosa - S. 10

1889 - Freiburg im Breisgau : Herder
10 I. Beschreibende Prosa: Geschichtliche und geographische Charakteristik. Vereinfachung des Geschäftsganges war einer feiner ersten Gesichts- punkte. Wenn er daher bei Vorträgen den Eindruck hatte, als ob mit der Nächstliegenden Entscheidung einer schwebenden Frage absichtlich zurück- gehalten werde, um sie dem Regenten vorzubehalten, bat er sich aus, daß ohne Umschweif das Richtige gesagt werde. In klarer Voraussicht der Entscheidungen, welche unvermeidlich dem Vaterlande bevorstanden, hielt er es für seine ernsteste Pflicht, die Wehr- kraft Preußens zu voller Wirkungskraft vorzubereiten. Die Mobilmachung von 1859 offenbarte die Mängel der bestehenden Organisation, welche in dem Moment lähmend eingrifs, wo auf volle Energie alles ankam. Mit unerschütterlicher Willenskraft hat er in jahrelanger Arbeit mit dem un- vergeßlichen Grasen Roon die Reorganisation der Armee durchgeführt. Aus eigenster, selbsterworbener Sachkenntnis hat er sich das Heer ge- schaffen, das er als König in das Feld führte, und der rasche Verlaus des Krieges von 1866, bei dem ein großer Teil der Landwehrmannschasten dem häuslichen Herde nicht entzogen zu werden brauchte, entwaffnete end- lich den Widerspruch, der sein landesväterliches Herz so schwer betrübt hatte. Jetzt mußten alle Patrioten dankbar und beschämt erkennen, daß er, die Flut voraussehend, rechtzeitig das Schiff gebaut und das Schwert geschmiedet habe. Wieviel Blut und Thränen, wieviel Jammer und Elend ist durch die weise und entschlossene Durchführung dessen, was der Regent und König für das Heil des Staates als notwendig erkannte, unserm Vaterlande erspart worden! Nur aus diesem Wege war es möglich, daß Preußen der Kern des Deutschen Reiches wurde. Engpreußisch ist Kaiser Wilhelm nie gewesen. Als es sich um die zu vollendende Erziehung seines Sohnes handelte und am Hofe geltend gemacht wurde, daß dazu nur ein geborener Preuße berufen werden dürfe, hat er es durchgesetzt, daß auch au einem freien Reichsstädter kein Anstoß genommen werde, und als ihm am ersten Weihnachtsfeste, das er nach den Stürmen von 1848 wieder friedlich mit den Seinen in den lang entbehrten Räumen seines Schlosses feiern durfte, von seinem Sohne ein Gedicht überreicht wurde mit folgendem Schluß: Zur Ernte reif sind der Geschichte Saaten, Die Eure Ahnen in dies Land gesenkt, Und neue Bahnen winken Euren Thaten: So habt nicht Ihr, so hat es Gott gelenkt! Wir sehn auf Euch mit frohem Angesichte, Verbannet sei, was Angst und Zweifel schuf; O horchet auf, es ruft die Weltgeschichte, Und Hohenzollern höret ihren Ruf —,

3. Beschreibende und lehrende Prosa - S. 12

1889 - Freiburg im Breisgau : Herder
12 I. Beschreibende Prosa: Geschichtliche und geographische Charakteristik. Tanagra in der feuchten Atmosphäre des Erdgeschosses litten, waren auf seinen Befehl am andern Morgen die Arbeiter da, um die Überführung in höhere Museumsräume vorzunehmen. Mit unermüdlicher Teilnahme folgte er allen Fortschritten der Natur- kunde wie der technischen Wissenschaften. Hervorragende Leistungen der Mechanik, wie z. B. die Hebung des Kriegerdenkmals aus dem Kreuz- berge, hörte man ihn als Augenzeugen mit eingehendem Verständnis schildern, denn es war seiner Natur unmöglich, sich mit allgemeinen Aus- drücken seines Wohlgefallens zu begnügen; alles Nedensartliche war ihm unerträglich. Er mußte allem auf den Grund gehen, bis er das Wesent- liche klar erfaßt hatte. Dazu benutzte er nach des Tages Arbeit die stillen Abendstunden, in denen er und die Kaiserin-Königin Augusta auch Männer der Wissen- schaft um sich sahen und sich im kleinsten Kreise vertraulich über ihre Arbeiten und Forschungen belehren ließen, während er selbst aus seinen Erlebnissen mit voller Frische der Erinnerung die anmutigsten Mit- teilungen machte. Den echten Fürstensinn, der Dauerndes zu schaffen liebt, bewährte er auch als Bauherr auf eigenem Grund und Boden. Ich denke an die Höhe über der Havel, deren reizende Lage er erkannt hat und die er sich von seinem Vater schenken ließ. Als Prinz Wilhelm mit den bescheidensten Mitteln beginnend, hat er jahraus jahrein, in unermüdlicher Thätigkeit, welche seine liebste Ausspannung war, von Meistern der Kunst, Schinkel, Persius und Strack, unterstützt, den öden, von Gestrüpp bedeckten Sand- hügel zu einem wiesenreichen Schloßberge umgeschafsen. Neben den Archi- tekten war Fürst Pückler-Muskau sein Berater. Wenn dieser aber die aus dem alten Bestände am Flußufer noch übrigen Birken fällen wollte, weil sie in einen Königspark nicht paßten, widerstand ihm der Prinz von Preußen, der die Zeugen des ursprünglichen Zustandes seines Landsitzes nicht missen wollte, und so ist auch der Babelsberg ein charakteristisches, schönes und ehrwürdiges Denkmal von Kaiser Wilhelms fürstlichem Schaffen. Mich hat mein Herz getrieben, so manches Kleine anzuführen, weil es dazu dienen mag, das menschliche Bild des Verklärten uns lebendiger und wärmer vor die Seele zu führen. Tte großen Kaiserthaten stehen ja mit leuchtender Schrift in das Gedächtnis der Jahrhunderte eingeschrieben. Wir aber, die wir die kaiser- lose Zeit erlebten, mir dürfen mit unseren Gedanken nicht an den äußeren Erfolgen hasten. Uns ist nicht das die Hauptsache, daß Deutschland wieder mächtig ist im Kreise der Völker, sondern daß wir gerettet sind aus einem unwürdigen Zustande, wo in kleinlichem Jnteressenstreite Stämme und Staaten des Vaterlandes unaufhörlich miteinander haderten, und das

4. Beschreibende und lehrende Prosa - S. 13

1889 - Freiburg im Breisgau : Herder
3. Gedächtnisrede auf weiland Se. Majestät Kaiser Wilhelm I. 13 Gift selbstsüchtiger Sonderpolitik am Mark des Volkes zehrte. Was uns aus diesem Siechtum helfen konnte, war nur eine gemeinsame Not von außen. Aber mit dem Kriegsschrecken wäre auch die Einigung wieder vorüber gewesen, wie alles vergänglich ist, was auf Eigennutz beruht, wenn uns Gott nicht einen König gegeben hätte, der nicht nur die Heere von Sieg zu Sieg führte, sondern auch das Haus des Friedens zu bauen wußte, um die zerrissene Herde als ein guter Hirt um einen Herd zu vereinigen, und der in den Menschenherzen ein Feuer entzünden konnte, das heilige Feuer der Liebe, das allein im stände ist, die spröden Erze der Selbstsucht zu schmelzen. In freier Ehrfurcht sammelten sich die Deutschen wieder um ein Haupt und lernten in ihm in neuer Begeiste- rung ihr Vaterland lieben. Wir sind also durch Kaiser Wilhelm nicht nur mächtiger und ruhm- reicher, sondern auch innerlich freier, reiner und besser geworden. Denn nur im Guten können die Menschen wahrhaft einig sein, und in der Liebe entfalten sich alle Keime des Guten, die im Menschenherzen ruhen; sie ist im geistigen Leben wie die Sonne, von der man nicht sagen kann, daß dies oder jenes durch sie gedeihe, sondern alles Lebendige hat von ihr Licht und Wärme. So ist durch alles deutsche Land ein neuer Lebensodem gegangen; so ist ihm, der um Volksgunst sich nie bemüht hat, ungesucht des Volkes Liebe voll und wahr zu teil geworden, und in dieser Liebe des Vaterlandes zu seinem Kaiser sind auch die in den fernsten Weltteilen weit zerstreuten Deutschen von neuem wieder die Uusrigen geworden. Diese Liebe ist das leuchtende Diadem an seiner Stirn; höhern Preis kann ein Sterblicher für ein arbeitsvolles Erdenleben nicht erringen. Von König Salomon forderte Gott ein aufrichtiges Herz, und dem Aufrichtigen, heißt es, läßt er es gelingen. So bescheiden das Wort klingt, es ist doch das Höchste, was ein Menschenkind erreichen kann, und an Kaiser Wilhelm ist der alte Spruch zu köstlicher Wahrheit geworden. In der Aufrichtigkeit des Herzens ruhte die Harmonie seines geistigen Lebens, wie sie uns aus dem väterlichen Antlitz entgegenlenchtete; die innere Harmonie, in der alle Gegensätze sich versöhnten und alle sittlichen Probleme, an denen ein Fürstenleben so reich ist, wie von selbst ihre Lösung fanden. Weil er nie an sich dachte, war er von launenhaften Stimmungen unabhängig, frei von jeder Anwandlung einer um die eigene Ehre besorgten Eifersucht, frei von dem Wankelmute, der bald zu viel, bald zu wenig Vertrauen schenkt. Wahr und treu hielt er zu den Män- nern, von denen er sich überzeugt hatte, daß sie ihm zugewiesen seien, um seine vaterländische Mission durchzuführen, und wie hat er vor allem Volk im Namen des Vaterlandes ihnen seine Dankbarkeit bezeugt! Aber

5. Beschreibende und lehrende Prosa - S. 14

1889 - Freiburg im Breisgau : Herder
14 I- Beschreibende Prosa: Geschichtliche und geographische Charakteristik. auch neben dem großen Kanzler, neben seinen großen Feldherren ist er immer sein eigen geblieben, immer der König, der vor Gott die Verant- wortung trägt und nach persönlicher Überzeugung in Krieg und Frieden die den Gang der Geschichte bestimmenden Entscheidungen trifft. Wie das Fürstenamt, das er als Stellvertreter seines königlichen Bruders übernommen, von Jahr zu Jahr immer größer, mannigfaltiger und verantwortungsvoller wurde, so ist mit ihm auch Kaiser Wilhelm in treuer Berufserfüllung innerlich immer erstarkt und gereift, und nach einem langen Tagewerke, auf dem der Segen eines wiedergeborenen Volkes ruht, ist er nun, bis zuletzt rastlos thätig, zu seinen Vätern heimgegangen, friedlich und kampflos, im evangelischen Glauben, von Gottes Wort hin- übergeleitet, während Gemahlin und Tochter die erkaltende Hand mit ihren Thränen netzten. Uns bleibt er in lebendiger Gegenwart. Wir danken Gott, daß es uns vergönnt gewesen ist, unter einem solchen Herrscher zu leben und zu wirken. Dessen können wir uns nur würdig zeigen, wenn wir alle in seinem Sinne an seinem Lebenswerke fortarbeiten, in Gottesfurcht und Treue dem Vaterlande dienend, gewiffenhaft im kleinen wie im großen, selbstverleugnend, opferbereit, die teuer erworbene Einheit als unser bestes Gut hütend und pflegend. In unauslöschlicher Dankbarkeit geloben wir. mit der hier versammelten Jugend, auf der sein Auge so gern ruhte, der Trägerin der Zukunft unseres Vaterlandes, sein glorreiches Andenken lebenslang in Ehren zu halten und in Freude und Leid unerschütterlich zum Hause der Hohenzollern zu stehen. Wie können wir aber diese Trauer- feier anders schließen, als indem wir Gott gemeinsam anrufen, daß er unsern Kaiser und König Friedrich wie die Kaiserin und Königin, seine Gemahlin, die Kaiserin-Königin Angusta und das ganze Haus unseres Kaisers Wilhelm erhalte, behüte und segne! E. Curtius L Gedächtnisrede auf weiland Se. Majestät Kaiser Friedrich I. * Hochansehnliche Versammlung! Einhundert Tage sind dahingegangen, seitdem dieser trauerfestlich ge- schmückte Saal zum erstenmal Leidtragende vereinigte. Damals begingen wir, die Lehrer und Schüler, die Gönner und Freunde unserer Hochschule, 1 1 Ernst Curtius, Philolog und Archäolog, geboren 1814 zu Lübeck, von 1837—1840 zu Athen, Lehrer des deutschen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, jetzt Professor zu Berlin und ständiger Sekretär der Akademie der Wissenschaften. Seine Hauptwerke: „Pelopounesus", „Griechische Geschichte", „Altertum und Gegenwart", „Olympia". 2 Gehalten bei der akademischen Gedächtnisfeier zu Münster am 30. Juni 1888.

6. Beschreibende und lehrende Prosa - S. 16

1889 - Freiburg im Breisgau : Herder
16 I- Beschreibende Prosa: Geschichtliche und geographische Charakteristik. diesem Grunde ist Preußens Größe, ist Deutschlands Einigung gewurzelt, gewachsen, geworden. Jene Doppelschulung fordert unser Fürstenhaus vom Volke, und seinem Volke geht darin vorauf das Fürstenhaus. König Friedrich Wilhelm I. that den Ausspruch: „Ein jeder Prinz des Hauses Hohenzolleru muß Soldat sein und seinen Stolz darein setzen, sich selbst alle guten Eigenschaften des Soldaten anzueignen." Prinz Friedrich — das war damals der Rufname des verewigten Kaisers — wurde solch ein Soldat. Als er seinen zehnten Geburtstag feierte und nunmehr dem preußischen Herkommen gemäß in die Leibcompagnie des ersten Garde-Regiments zu Fuß eintrat, stellte ihn König Friedrich Wil- helm Iv. den Offizieren des Regiments vor mit den Worten: „Lieber Fritz, du bist zwar noch sehr klein, aber lerne diese Herren nur kennen, lerne von ihnen, deine Pflichten brav zu erfüllen; denn für den, der eines Tages befehlen soll, ist es das allererste, gehorchen zu lernen." 25 Jahre später zeigt Prinz Friedrich als Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen, daß er befehlen gelernt hat durch Gehorchen. Als Oberbefehlshaber der zweiten preußischen Armee, welche in der Stärke von vier Armeekorps von Schlesien her in Böhmen einmarschiert war, erschien am heißen Tage von Königgrätz nach mühsamem Eilmärsche im rechten Augenblicke und an ausschlaggebender Stelle der mutige Königssohn. Von Kugeln umsaust, brach er mit 50 000 Manu vorstürmend auf Chlum los, den Schlüssel des Nachfeldes. Sein Eingreifen brachte den Sieg, die Schlacht ward gewonnen, der Feldzug war entschieden. Spät abends begegneten sich Vater und Sohn, der König und der Kronprinz. „Welch ein Moment," so schrieb der König an die Königin, „welch ein Moment nach allem Er- lebten und am Abende dieses Tages! Ich selbst übergab Fritz den Orden pour le mérite; die Thränen stürzten ihm herab!" — Das war — es fehlen nur drei Tage — vor 22 Jahren. Vier Jahre später führte der Sieger von Sadowa gegen den galli- schen Störenfried die dritte Armee. „Die Rasse der Zukunft", wie Louis Napoleon uns Deutsche einst genannt hatte, stand gegenüber der „grande nation“. Die vermeintliche Zukunft war bereits handgreifliche Gegen- wart. Was damals im Verlaufe weniger Monde geschah, welche welt- geschichtlichen Ereignisse sich vollzogen, „welche Wendung" eintrat „durch Gottes Fügung", das haftet in aller Erinnerung. Der Kampfesheld von Weißenburg und Wörth, „unser Fritz", wie das deutsche Volk den preußi- schen Kronprinzen mit liebender Bewunderung und stolzer Aneignung nannte, gab mit seiner Armee den Ausschlag bei Sedan, belagerte die bald gedemütigte Hauptstadt an der Seine und beging mit seinem erhabenen Vater den großen Tag zu Versailles am 18. Januar 1871. Der preußische Kronprinz oder, wie die Franzosen ihn bezeichneten, „le prince magna-

7. Beschreibende und lehrende Prosa - S. 24

1889 - Freiburg im Breisgau : Herder
24 I. Beschreibende Prosa: Geschichtliche und geographische Charakteristik. und flehen: „Gott segne, beschirme, erhalte lange — lange Jahre zum Heile des Volkes und zur Wohlfahrt des Landes Seine Majestät Wil- helm Ii., deutschen Kaiser und König von Preußen! Das walte Gott! W. Storck 1. 5. Deutschlands geographische Lage. Bei der Betrachtung der allgemeinen Verhältnisse und Beziehungen der Oberfläche Deutschlands muß es vor allem darauf ankommen, die geographische Stellung desselben, d. h. die Stellung genau kennen zu lernen, die es durch seine räumliche Lage im Gesamtorganismus Europas einnimmt. Daß sie eine eigentümliche und bedeutsame sei, darauf weist schon der bildliche Ausdruck hin, den man so oft dafür anwendet. Man nennt es bekanntlich den Kern, das Herz Europas und bezeichnet damit unstreitig seine Stellung als die bevorzugte eines Landes der Mitte in dem genannten Erdteile, sowie zugleich den wohlthätig belebenden Einfluß eines unentbehrlichen Einheitspunktes und Centrums auf denselben. Und in der That hat kein anderes Land in Europa für alle übrigen eine so centrale, so vermittelnde und ausgleichende Stellung als Deutschland. Folgende Erörterungen dürften die Wahrheit jener Behauptung um so einleuchtender außer Zweifel setzen, als sie uns klar veranschaulichen, von wie verschiedenen Gesichtspunkten aus, wenn es sich um die Auf- findung der Mitte Europas handelt, wir immer auf Deutschland treffen, ja dabei öfters sogar auf dessen Centrum, als welches wir das Grenzgebiet des Böhmerwald- und Fichtelgebirges annehmen können. Überblickt man nämlich das gesamte Europa nach seiner horizon- talen Ausdehnung, so mag man eine möglichst lange Linie in gerader Richtung von West nach Ost oder von Süd nach Nord oder die Diagonal- linie von Nordwest nach Südost und von Nordost nach Südwest ziehen, in allen diesen Richtungen geht sie in ihrem mittlern Drittel durch Deutsch- land. So die westöstliche Linie vom Cap Finisterre nach dem Nordteile des Kaspischen Meeres durch den Süden Deutschlands, und so jede der drei anderen sogar durch dessen Mitte, sowohl die südnördliche, etwa vom Südende Siciliens bis zur uordwestlichen Küstengegend Norwegens, als auch beide Diagonalen, die eine etwa von der südlichen Krim nach dem westlichen Irland, die andere, die Linie der ganzen Längenerstreckung Europas, gleichsam seine Hauptcentralachse, von der Einsattelung des * * Wilhelm Storck, Litterarhistoriker, trefflicher Übersetzer und Dichter, ge- boren 1829 zu Letmathe in Westfalen, seit 1858 Professor der deutschen Litteratur und Sprache zu Münsier, Geheimer Regierungsrat.

8. Beschreibende und lehrende Prosa - S. 26

1889 - Freiburg im Breisgau : Herder
26 I. Beschreibende Prosa: Geschichtliche und geographische Charakteristik. Wenn es außerdem in seinen Ausbreitungs- und Erhebungs-Verhält- nissen der beschränkteste, am leichtesten überschauliche, am meisten gegliederte, am meisten gangbare, belebte und bewegte, in seinen klimatischen der am meisten gemäßigte und einheitliche; wenn es vermöge der durch alle diese Eigenschaften geförderten Entwicklung seiner Völker der herrschende, geistig gestaltende, fortbildende Erdteil, der Vorkämpfer der höheren Tendenzen der Menschheit ist: so mußte natürlich die Mitte eines solchen, d. h. Deutsch- land, eine ganz andere Bedeutung erhalten, als die Mitte jener kolossaleren Erdteile, welche eine derartige Natur und Wirksamkeit nicht aufzuweisen haben; es mußten die Bezüge zu dem vergleichungsweise mit letzteren klein zu nennenden Ganzen und zu den übrigen einzelnen Teilen desselben be- schleunigter, gedrängter, fester, gewissermaßen unvermeidlicher und not- wendiger werden. Auf diese Weise ist Deutschland in der That vermöge seiner centralen Lage für den Zusammenhang dieses Ganzen unentbehrlich, ist, wie für den Körper der Herzschlag, sein Lebenspunkt. Nur durch Deutsch- land werden die übrigen Teile Europas zu einer wahrhaften Einheit zusammengehalten. Sich anschließend an das mittlere sowohl der südlichen wie nördlichen Glieder desselben, verknüpft es den Süden mit dem skan- dinavischen Norden; und mit den entsprechenden Erhebungsformen ebenso an dem gebirgigen West-Europa wie an dem flachen Ost-Europa an- liegend und in sie übergehend, vermittelt es die Verbindung der gegliederten und gebirgigen atlantischen Länder im Westen mit den einförmigen und weiten sarmatischen Ebenen im Osten. Ringsum in Europa befindet sich kein Land und keines der angrenzenden Meere, mit welchem Deutschland nicht verwachsen oder mittelbar in leichte Berührung zu bringen ist. Rings um dasselbe wie um ihren Mittelpunkt gruppieren sich Rußland mit Polen, Skandinavien, Großbritannien, die Niederlande (Holland und Belgien), Frankreich, die Schweiz, Italien, die Türkei, Ungarn, Galizien und stehen mit ihm in unmittelbarer oder durch die vorhin genannten Gewässer, die ihm einen kurzen und leichten Weg nach Süd-, Nord- und Nordwest- Europa eröffnen, in naher, mittelbarer Verbindung. Alle diese Länder, obwohl Teile eines größern Landorganismus, des Kontinents Europa, haben doch auch wieder jedes im Vergleiche zu den übrigen durch Lage, Begrenzung, innere Gestaltung und durch Be- völkerung ein eigentümliches Gepräge und stellen in gewissem Grade kleinere Individuen auf der Oberfläche jenes größern Ganzen dar. Dem- nach kommen von allen Seiten her mit dem in der Mitte gelegenen Deutschland eine Zahl Länder-Individuen in Berührung, und es ist undenkbar, daß sie nicht, jedes in seiner Weise, sowohl auf dasselbe in höherem oder niedrigerem Grade Einstuß geübt als auch von daher

9. Beschreibende und lehrende Prosa - S. 30

1889 - Freiburg im Breisgau : Herder
30 I Beschreibende Prosa: Geschichtliche und geographische Charakteristik. der Entscheidung der großen und allgemeinen Angelegenheiten Europas und der Gegenstand eifersüchtiger Aufmerksamkeit und Habgier der übrigen Großmächte gewesen wäre. Fast giebt es kein Volk in Europa, welches nicht zeitweise eine starke und thatsächliche Einwirkung auf Deutschland geübt hätte: von Süden die Italiener, von Westen die Franzosen, auch die Spanier, von Norden die Schweden, die Engländer, teilweise selbst die Dänen, von Osten die Ungarn, die Türken und in neuerer Zeit die Russen. Auch zählt kein anderes Land des Erdteils so viele Schlacht- felder großer Entscheidungskämpfe, als Deutschland, das gewissermaßen eine unermeßliche Walstatt zwischen den Völkern des Ostens und Westens, des Nordens und Südens vorstellt. Nach I. Kutzen *. 6. Der Rheinstrom. Der Deutsche mag wohl ans seinen Rheinstrom stolz sein, nicht auf seine Größe: viele andere Ströme, selbst europäische, übertreffen ihn weit an Länge, Breite, Wasserfülle, an kolossaler Ausdehnung ihres Gebietes; nicht einem aber ist ein so edles Ebenmaß beschieden, so richtige Verhält- nisse, so vollständige Entwicklung; nicht einer sieht an seinen Ufern auf gleiche Weise Kunst und Natur, geschichtliche Erinnerung und lebendige Gegenwart vereint. In dem erhabensten und herrlichsten Mittelgebiete des mächtigen Alpengürtels hangen an himmelhohen Felsgipfeln mehr als dreihundert Gletscher, welche dem Rheine ihre vollen, tobenden Gewässer zusenden. Wo sie aus dem Gebirge hervortreten, da beruhigen und läutern sich diese ungestümen Alpensöhne in etwa fünfzehn der größten und schönsten Seen, unergründlichen, smaragdenen Becken, hier von nnerklimmbaren Felsen eingeengt, dort von Rebenhügeln und grünen Matten umkränzt, einer fast wie das Meer unabsehbar; krystallhelle Fluten entströmen diesen Seen in raschem, doch schon ruhigerem Laufe. Bald in einem Bette vermischt, wogen sie mächtig und friedlich dahin, durch lachende Fluren, an statt- lichen Schlössern, hohen Domen, kunstreichen belebten Städten vorbei, denen sie reiche Lasten zuführen. Hohe Waldgebirge winken lange aus blauer Ferne, spiegeln sich dann in dem herrlichen Strome, bis er die weite, schrankenlose Ebene betritt und nun dem Schoße des Meeres zueilt, ihm mächtige Wasserspenden zu bringen und sich dafür in seinem Gebiete ein neues Land zu erbauen. An den Wiegen des Rheins erklingen die Gesänge armer, aber freier und froher Hirten; an seinen Mündungen zimmert ein ebenso freies, dabei 1 1 Nach Kutzens „Das deutsche Land".

10. Beschreibende und lehrende Prosa - S. 32

1889 - Freiburg im Breisgau : Herder
32 I- Beschreibende Prosa: Geschichtliche und geographische Charakteristik. , Die erste Hälfte der Bahn, die der Rhein durch das Gebirge zurück- zulegen hat, ist eng, zwischen Felswänden eingeklemmt; dann öffnet sich unterhalb Lahn und Mosel der schöne Thalkessel von Koblenz und Neu- wied, am rechten Ufer von einem steilern Halbkreise bewaldeter Höhen umschlossen; links erheben sich ganz allmählich die körn- und obstreichen Gefilde des Maifeldes, hinter denen ein Kranz vulkanischer Kegel den Gesichtskreis beschränkt. Bei Andernach nimmt wiederum ein Felsenthor den Strom auf, und nun wechseln Einengungen und kleine Thalkessel bis da, wo die Trachytkegel des Siebengebirges, als riesige Grenzsäulen, die Scheidung zwischen Gebirg und Ebene bezeichnen. G. B. Mendelssohn *. 7. Die Donau. Die Ebenen und Hügel, welche sich vor den Hochgebirgen Tirols und Österreichs im Norden ausbreiten, durchfließt und begrenzt die Donau. Wenn der Rhein, gleich einem kühnen, unternehmenden Jünglinge, bald die Heimat verläßt, um zwischen fremden Bergen, auf fremden Fluren seine Kraft zu versuchen, Gaben zu bringen und zu empfangen, so weicht die Donau nicht von ihren Alpen, solang sie noch einen ihrer letzten Ausläufer zu umspülen findet. Als nasser Graben vor dem Walle des Gebirges schirmte auch sie einst die Grenzen der römischen Provinz, die Grenzen der Kulturwelt. War aber der Rhein durch die Richtung seines Laufes bestimmt, ein Strom der Grenze, des Übergangs für alle Zeiten zu bleiben, so wurden die Ufer der Donau eine Wanderstraße, ein Land des Durchzugs. Hinter dem Rheine breitet sich ein großes, offenes Land aus, von Meeren und Hochgebirgen beschützt; im Süden der Donau nur eine lange, schmale Ebene, durch die Alpen von Italien getrennt, der Selbständigkeit unfähig. — Wurden auch die Ufer des Rheins von den einbrechenden Barbaren fast ebenso arg verwüstet, wie die der Donau, so waren sie doch seit der Gründung des fränkischen Reiches ein befrie- detes Gebiet; noch oft genug der Schauplatz blutiger Fehden, aber nie- mals wieder von zermalmenden, vernichtenden Völkerffuten überschwemmt. Die Raubzüge der Normannen trafen allerdings auch das rheinische Land, aber vorübergehend; an der Donau hausten Avareu und Magyaren jahr- hundertelang; und was hatten die östlichen Gegenden nicht noch in späten Zeiten von Ungarn, Kumanen, Türken zu erleiden! Der Rhein hat ein halbes Jahrtausend der Ruhe, der Kultur, des im ganzen ununterbrochenen Fortschrittes vor der Donau voraus. — Die Spuren der Verheerung 1 1 Georg Benjamin Mendelssohn, Enkel des Philosophen Moses Mendelssohn, geb. 1794 zu Berlin, seit 1828 Professor der Geographie und Statistik zu Bonn.
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