1893 -
Gütersloh
: Bertelsmann
- Autor: Klee, Gotthold Ludwig
- Sammlung: Kaiserreich Geschichtsschulbuecher
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
36 6. Tageslauf eines germanischen Hausherrn in Friedenszeiten.
Tischgenossen blieben dann oft bis tief in die Nacht hinein
zusammen. Da lösten sich die Zungen; auch der Verdrießliche
vergaß der Übeln Laune, der Verfolgte seiner gefahrvollen
Lage, wenn die Hausfrau sich erhob und das Trinkhorn in
den Reihen der Gäste herumreichte. Die wichtigsten Fragen
des Geschlechtes, der Gemeinde, des Volkes wurden beim Met
und Bier besprochen. Aber dem ernsten Gespräch folgte das
heitere; fröhliche Reden flogen hin und her; Scherz- und
Neckgespräche, die bisweilen zu Handgreiflichkeiten führten,
wurden laut oder Rätsel aufgegeben. Diese jedes Mannes
würdige Lustbarkeit gab Gelegenheit, nicht nur Witz und
schnellen Verstand zu zeigen, sondern auch genaue Kunde der
alten Sagen und Lieder von Göttern und Helden und
Kenntnis von allerlei Merkwürdigem zu bewähren. Die
Rätselreden wurden in ältester Zeit nicht gesprochen, sondern
gesungen, wobei man die altehrwürdige Form des Stabreims
anwendete, von der ein andermal die Rede sein wird. Und sie
waren nicht die einzige Poesie, die bei den Gelagen und Festen
der Germanen sich hören ließ. Es gab hochgeehrte Sänger, die
zum Klang der Harfe von den Geschicken der Götter, nament-
lich den Fahrten des Donnergottes, wie von den Thaten der
Väter zu singen und die Herzen der Hörer zu bewegen ver-
standen. Man hatte auch gesellige Lieder, die im Chor oder
Wechselgesang vorgetragen wurden; dem Saitenspiel gesellte
sich dann der fröhliche Klang der Schwegelpfeife. Gesungen
wurde überhaupt viel im deutschen Urwalde. Sogar die
Nächte vor Schlachttagen brachten die Germanen bei frohem
Gelage mit schallendem Gesänge zu, der in Berg und Wald
schaurig widerhallte, so daß die lauschenden Römer ein
Grausen ankam. Bei Opfern und Familienfeierlichkeiten,
namentlich dem Brautlauf, beim Beginn der Schlacht, bei
Siegesfesten, bei Bestattungen ertönte nicht minder Gesang.
Erhalten ist uns von allen diesen Gesängen, in denen die
Deutschen ihre Götter und halbgöttlichen Helden und die
großen Männer der Geschichte feierten, nicht eine Zeile, und
das müssen wir lebhaft beklagen; denn aus den ältesten
Resten unsrer Sprache aus dem vierten Jahrhundert nach