1890 -
Berlin
: Gaertner
- Autor: Schilling, Max
- Sammlung: Kaiserreich Geschichtsschulbuecher
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten, Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten, Mittlere Lehranstalten
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Was ist geschehen in der Bewegung, in welcher wir seit vier Jahren leben? Volksbelastende Privilegien sind abgeschafft, die Gedanken der Gerechtigkeit und Gleichheit allgemein verbreitet, überall hingedrungen; die Ansicht von den Rechten des Volkes hat das Gefühl für dieselben gerechtfertigt, ihre feierliche Anerkennung ist eine heilige Lehre geworden; der Haß gegen den Adel, den das Lehnswesen seit lange eingeflößt, ist grimmiger geworden durch den offenbaren Widerstand, den die meisten Adeligen der Konstitution geleistet, weil diese jenes Wesen vernichtet.
Im ersten Jahre der Revolution sah das Volk in diesen Adeligen nur Männer, die ihm gehässig wegen der erdrückenden Privilegien, derkn sie genossen; allein es hätte nach Vernichtung derselben auch den Haß fahren lassen, wäre es nicht durch das seitherige Benehmen des Adels in allen den Gründen bestärkt, die es genötigt, ihn zu fürchten und zu be-kämpfen als einen unversöhnlichen Feind . . .
Die Erklärung der Menschenrechte ist ein Evangelium und die französische Verfassung eine Religion geworden, für welche das Volk bereit ist, in den Tod zu gehen . . .
Bei diesem Zusammenstoß der verschiedenen Interessen haben alle Gefühle den Ton der Leidenschaft angenommen. Vaterland ist kein Wort, das etwa die Phantasie sich gefiele zu verschönen; es ist ein Wesen, dem man Opfer bringt, dem man sich wegen der Sorgen, die es uns macht, jeden Tag inniger anschließt; das man erschaffen hat unter großen Anstrengungen, das man erzieht unter Bekümmernissen, und das man eben so sehr um derentwillen liebt, was es uns gekostet, als um das, was wir von ihm hoffen; jeder Angriff auf dasselbe ist nur ein Mittel, die Begeisterung dafür zu entflammen. Bis zu welchem Punkt aber muß sich diese Begeisterung steigern, wenn feindliche Mächte im Auslande in Einverständnis treten mit inneren Ränken, um die unseligsten Anschläge auszuführen? Die Gähruug ist in allen Teilen des Reiches ungeheuer; sie wird auf eine schreckliche Art zum Ausbruch kommen, wenn nicht endlich ein wohlbegründetes Vertrauen auf die Gesinnungen Ew. Majestät sie beruhigt. Dies Vertrauen aber läßt sich nimmer erbauen aus bloßen Versicherungen, es kann keine andere Grundlage haben, als Thaten . . .
So sind z. B. zwei wichtige Dekrete erlassen; beide sind gleich wichtig für die öffentliche Ruhe und das Heil des Staats. Die Verzögerung ihrer Sanktion flößt Mißtrauen ein und wird, wenn sie länger dauert, Unzufriedenheit erregen und, ich darf es wohl fageu, bei dem gegenwärtigen ©ähren der Geister kann die Unzufriedenheit zu allem führen . . .
Das Benehmen der Priester in vielen Gegenden und die Vorwände, welche der Fanatismus den Mißvergnügten an die Hand gegeben, haben ein weises Gesetz gegen die Ruhestörer hervorgerufen. Ew. Majestät gebe demselben Ihre Bestätigung; die öffentliche Ruhe verlangt, das Heil der Priester selbst erheischt sie dringend. Tritt dies Gesetz nicht in Kraft, so sind die Departements, wie es schon überall geschieht, gezwungen, statt seiner Gewaltsamkeiten anzuwenden, und das ausgebrachte Volk wird es durch Frevelthaten ersetzen.