1915 -
Gotha
: Perthes
- Autor: Hönger, Alfred
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Kaiserreich Geschichtsschulbuecher
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
öffentliches Leben, Politik, Wirtschaft
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Justus Möser ^„Patriotische Phantasien"^. 1? 33 ff
Für die Empfindsamen. 24, 20.
Sie 1) geben so manchen guten Rat aus, und zwar oft an
Leute, die es nicht einmal verlangen, viel weniger erkennen,
daß 2) Sie mir hoffentlich auch eine Prise davon nicht versagen
werden. Ich kann Ihnen dabei sagen, daß er für ein recht liebes
junges Mädchen sein soll, bei welcher ich als Kammerjungfer
manche gute und auch manche traurige Stunden habe. Das
gute Kind laboriert ^), wie es selbst spricht, an der Empfindsamkeit,
einer Krankheit, welche erst seit wenigen Jahren in hiesigen
Gegenden bekannt geworden ist, und in so kurzer Zeit so weit
um sich gegriffen hat, daß man sie fast als epidemisch 4) ansehen
muß. Die Natur derselben werden Sie am besten beurteilen,
wenn ich Ihnen eine der häufigsten Zufälle davon erzählt
haben werde. Sie ist immer erstaunend weinerlich; wie vor
zwei Iahren ihre Großmama, eine steinalte Frau, die im vorigen
Jahrhundert ihr letztes Kindbett gehalten hatte, in dem Herrn
sanft und selig entschlief, so weinte sie über ein ganzes Jahr,
und noch rollen ihr die Tränen von den Wangen, wenn von
der lieben Großmama gesprochen wird. Sooft ich einem
Täubchen den Hals umdrehe oder einer Ente den Kopf abhacke,
girrt und winselt sie mir die Ohren so voll, daß ich mir nicht
getraue, ihr unter die Augen zu gehen. Dabei ist sie so
schreckhaft, daß der geringste Schein eines Unglücks sie ganz
außer sich setzt. Vorigen Winter, als das Feuer aus der
Ofenröhre die Tapeten in ihrem Schlafzimmer ergriffen hatte,
wäre sie beinahe aufgebrannt. Sie lag ohnmächtig in ihrem
Bette, dessen Vorhänge die Flammen bereits ergriffen hatten.
Ihr jüngster Bruder fiel unlängst in den Vach, der vor unserm
Hause vorbeifließt, und sie stand dabei wie eine Säule, ohne
auch nur einmal ein Geschrei zu seiner Rettung zu machen.
1) Anrede an einen erdachten Arzt oder Freund.
2) so daß.
3) (lat.) leidet.
4) (griech.) über das ganze Volk verbreitet.