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1. Lektüre zur Geschichte des 19. Jahrhunderts - S. 60

1910 - Leipzig : Wunderlich
60 Heinrich v. Treitschke. schon um Arbeitslohn zu gewinnen, das Fußwandern aufgeben. Die Gewerbsstraßen trennten sich nicht ab von den Kriegsstraßen, wie Aster fürchtete, sondern sie zwangen den Krieg, ihren Bahnen zu folgen. Auch der Pferdebestand nahm nicht ab, wie jedermann glaubte; sondern die Deutschen erfuhren, daß in einem fleißigen Volke jedes befriedigte Bedürfnis neue Bedürfnisse in unendlicher Folge weckt: die Neben- straßen beschäftigten fortan mehr Pferde als früher die Hauptstraßen. Nun da die Macht des Raumes überwunden ward, begann die Welt auch erst den Wert der Zeit zu schätzen, ja zu überschätzen. Ein hastiges, atemloses Treiben nahm überhand, eine fieberische Begehrlich- keit nach dem Neuen und Unbekannten, ein Drang nach Genuß und Gewinn, der von dem überspannten Idealismus des älteren Geschlechts unheimlich abstach. Die Geselligkeit verödete. Je mehr die Zahl der Briefe zunahm, um so dürftiger wurde ihr Inhalt, und seit die Zeitungen sich mehrten, schrieb der gebildete Mann fast nur noch Geschäftsbriefe. Der anschwellende Verkehr wirbelte alle Stände dermaßen durcheinander, daß der Kastendünkel sich kaum mehr halten konnte. Die Gesellschaft demokratisierte sich, die Umgangssprache ward kürzer, geschäftlicher, aber auch grob und ungemütlich. Der Durchschnittsmensch empfing eine Masse neuer Eindrücke und Kenntnisse, doch je mehr sie sich drängten, um so weniger hafteten sie. Das neue Geschlecht krankte an einer viel- fettigen, oberflächlichen Bildung, an Übersättigung, Zerstreutheit, An- maßung. Die großen Städte wuchsen unaufhaltsam, manche der kleinen sanken, eine krampfhafte Lust an den großstädtischen Genüssen ver- breitete sich weithin im Volke, und mit der Macht der Massen-Kapitalien stieg auch das Massen-Elend. Für das zerrissene Deutschland war der Segen dieser neuen Ver- Hältnisse doch ungleich größer als ihre Nachteile. Der schreiende Wider- spruch geistiger Größe und wirtschaftlicher Armseligkeit konnte nicht fort- dauern, ohne den Charakter des Volkes zu gefährden. Die werdende politische Macht des neuen Deutschlands bedurfte des Wohlstandes und der kecken Unternehmungslust, das verhockte und verstockte Treiben der Kleinstädter einer kräftigen Aufrüttelung. Der unwürdige polizeiliche Druck, der auf dem deutschen Leben lag, konnte weder durch Kammer- reden, noch durch Zeitungsartikel überwunden werden, sondern nur durch die physische Macht eines aller Überwachung spottenden, gewaltigen Verkehres. Seit man das engere Vaterland in drei Stunden durchfuhr, kam auch dem schlichten Manne die ganze verlogene Niedertracht der Kleinstaaterei zum Bewußtsein, und er begann zu ahnen, was es heiße, eine große Nation zu sein. Die Grenzen der Stämme und der Staaten verloren ihre trennende Macht, zahllose nachbarliche Vorurteile schliffen sich ab, und die Deutschen erlangten allmählich, was ihnen vor allem fehlte, das Glück, einander kennen zu lernen. Darum nannte der deutsch- ungarische Poet Karl Beck, in dem Feuilletonstile der Zeit, die Eisenbahn-
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