Anfrage in Hauptansicht öffnen

Dokumente für Auswahl

Sortiert nach: Relevanz zur Anfrage

1. Geschichtliches Lesebuch - S. 100

1898 - Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht
100 Vii. v. Treitschke, Anfänge der Eisenbahnen in Deutschland. sogleich als ein toter Buchstabe. Die Güter brachten mehr ein als die Personen, der Lokalverkehr mehr als der große, die dritte Wagenklasse mehr als die beiden ersten zusammen; und wie verwundert hatte man noch vor kurzem dem wackeren Friedrich Harkort zugehört, als er voraussagte, der kleine Mann würde die Eisenbahnkassen füllen wie den Steuersäckel, schon um Arbeitslohn zu gewinnen das Fußwandern aufgeben. Die Gewerbsstraßen trennten sich nicht ab von den Kriegsstraßen, wie Aster fürchtete, sondern sie zwangen den Krieg ihren Bahnen zu folgen. Auch der Pferdebestand nahm nicht ab, wie jedermann glaubte; sondern die Deutschen erfuhren, daß in einem fleißigen Volke jedes befriedigte Bedürfnis neue Bedürfnisse in unendlicher Folge weckt: die Nebenstraßen beschäftigten fortan mehr Pferde als früher die Hauptstraßen. Nun, da die Macht des Raumes überwunden ward, begann die Welt auch erst den Wert der Zeit zu schätzen, ja zu überschätzen. Ein hastiges, atemloses Treiben nahm überhand, eine fieberische Begehrlichkeit nach dem Neuen und Unbekannten, ein Drang nach Genuß und Gewinn, der von dem überspannten Idealismus des älteren Geschlechts unheimlich abstach. Die Geselligkeit verödete. Je mehr die Zahl der Briefe zunahm, um so dürftiger wurde ihr Inhalt, und seit die Zeitungen sich mehrten, schrieb der gebildete Mann fast nur noch Geschäftsbriefe. Der anschwellende Verkehr wirbelte alle Stände dermaßen durch einander, daß der Kastendünkel sich kaum mehr halten konnte. Die Gesellschaft demokratisierte sich, die Umgangssprache ward kürzer, geschäftlicher, aber auch grob und ungemütlich. Der Durchschnittsmensch empfing eine Masse neuer Eindrücke und Kenntnisse, doch je mehr sie sich drängten, um so weniger hafteten sie. Das neue Geschlecht krankte an einer vielseitigen, oberflächlichen Bildung^ an Übersättigung, Zerstreutheit, Anmaßung. Die großen Städte wuchsen unaufhaltsam, manche der kleinen sanken, eine krampfhafte Lust an den großstädtischen Genüssen verbreitete sich weithin im Volke, und mit der Macht der Massen-Kapitalien stieg auch das Massen-Elend. Für das zerrissene Deutschland war der Segen dieser neuen Verhältnisse doch ungleich größer als ihre Nachteile. Der schreiende Widerspruch geistiger Größe und wirtschaftlicher Armseligkeit konnte nicht fortdauern ohne den Charakter des Volkes zu gefährden. Die werdende politische Macht des neuen Deutschlands bedurfte des Wohlstandes und der kecken Unternehmungslust, das verhockte und verstockte Treiben
   bis 1 von 1
1 Seiten  
CSV-Datei Exportieren: von 1 Ergebnissen - Start bei:
Normalisierte Texte aller aktuellen Treffer