1911 -
Breslau
: Hirt
- Autor: Oehlmann, Ernst, Seydlitz, Ernst von
- Auflagennummer (WdK): 22
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
Das Meer.
45
Die Gezeiten oder Tiden — Ebbe und Flut — werden bewirkt durch die anziehende
Kraft des Mondes und (jedoch in schwächerem Grade) auch der vierhundertmal weiter
entfernten Sonne auf die Erde. Tag für Tag ziehen mächtige, aber flache Meeres-
anfchwellungen im allgemeinen westwärts, also entgegengesetzt der Achsendrehung
unseres Planeten, um den ganzen Erdball und erzeugen an den Küsten ein regel-
mäßiges Steigen und Sinken des Seespiegels: Flut — Ebbe. Jede dieser Er-
scheinungen dauert 6 Stunden 12| Minuten, ist aber auf hoher See nicht wahr-
zunehmen, um so mehr an felsigen Gestaden und an Flachküsten, die zur Ebbezeit
weithin trocken liegen, zur Flutzeit vom Meere bedeckt werden. Am höchsten tritt
die Flut auf zur Zeit des Neumondes und des Vollmondes: Springflut. Im
ersten Falle ziehen Mond und Sonne die Flutwelle mit vereinten Kräften nach der-
selben Richtung an (s. Fig. 49, I), im zweiten Falle nach entgegengesetzten Richtungen,
ohne sich gegenseitig zu stören (s. Ii). Am niedrigsten ist die Flut zur Zeit der
Mondviertel (Quadraturen), weil alsdann die anziehende Kraft des Mondes sich
mit derjenigen der Sonne kreuzt, so daß nur eine Nippflut (f. Iii) entstehen kann.
Im Mittel beträgt der Höhenunterschied zwischen Flut- und Ebbespiegel selten mehr
als 2—4 m, bei Bremerhaven 3,3 m; er wird außerdem an den Küsten durch die
Wirkung der Winde beeinflußt, steigt in sich verengenden, dreieckigen Busen bis gegen
2l m und ist um so schwächer in "Binnenmeeren, so in der Ostsee nur etwa m-
Die Flutwelle dringt in der Elbe 148, im breiten, tiefen Amazonenstrome gegen
900 Km stromaufwärts. — Auch der feste Erdkörper selbst unterliegt einer Gezeiten-
beweguug (s. S. 19).
Die Strömungen bestehen in einem andauernden, stromähnlichen Fließen des
Wassers nach bestimmten Richtungen, sind meist viele Kilometer breit, aber im all-
gemeinen nicht über 200 m tief, sie verdanken ihren Ursprung hauptsächlich der
Einwirkung der regelmäßig wehenden Winde (s. S. 58 s.) und werden aus ihrer ur-
sprünglichen Richtung abgelenkt durch die Erdrotation (s. S. 3). Man unter-
scheidet Warmw asser- und Kaltwasser-Strömungen. Jene, auch Äquatorial-
Strömungen genannt, bewegen sich in der Nähe des Äquators überwiegend West-
wärts (also der Achsendrehung der Erde entgegen). Da, wo sie auf Festlaudküsteu
stoßen, verzweigen sie sich zu seitlichen Armen und führen so den höheren (kälteren)
Breiten, namentlich der n. Halbkugel, warmes Wasser zu.
Besonders gilt dies von einer Abzweigung der atlantischen Äquatorial-Strömung,
dem..Golfstrome. Dieser entsteht, tiesblau, bis zu 30° C warm, aus der Spaltung
des Äquatorial-Stromes an der brasilischen Küste, zieht erst an dieser n.w.-wärts und
als Antillen^antiljen^-Strömung in derselben Richtung an der Außenseite dieser
Inseln weiter. Em Seiteustrom tritt in den Mexikanischen Golf, und aus diesem
fließt die starke Florida-Strömung bei der gleichnamigen Halbinsel hinaus, um sich
mit der Antillen-Strömuug zu vereinigen. Alles, was sich von hier aus als warmes
Gewässer nach N.o. schiebt, führt — nicht ganz mit Recht — den Namen Golfstrom.
Er rollt, diesen Teil des Atlantischen Ozeans beträchtlich erwärmend, bis in das
Nördliche Eismeerund zumal au die n.w. Gestade Europas, zugleich den waldlosen
Polargegenden erwünschtes Treibholz zuführend. Er beeinflußt nicht nur die Temperatur
und demnach auch die Eisbildung der nordischen Meere, sondern auch Klima, Pflanzen-
Wachstum und Fischereiergebnisse für den N.w. Europas. Sein schwächeres Abbild ist
im Großen Ozean der Kur o - S ch io , d.i. die „Dunkle Salzflut" der Japaner.
Die grünlichen Kaltwasser- oder Polar-Strömungen bringen dagegen, durch
Schmelzwasser geschwellt, kaltes Wasser, oft auch Massen von Eis aus den beiden Eis-
oder Polarmeeren nach den niederen Breiten. Sie veranlassen n. a., daß die Küste
des n. Chile (Wüste Atacäma), Perus und Dentsch-Südwestasrikas kälter ist als die
entsprechende Ostküste der Erdteile und dazu auch dürr. Beide Arten von Strömungen
wirken auf diese Weise beträchtlich auf die Klimate der Erde; bedeutend ist auch
ihr Einfluß auf die Verbreitung der Pflanzen und Tiere; wichtig sind sie endlich
für tue Seefahrer zur Abkürzung ihrer Reisen, indem günstige Meeresströmungen
benutzt und ungünstige vermieden werden.