1874 -
Mainz
: Kunze
- Autor: Schacht, Theodor, Rohmeder, Wilhelm
- Auflagennummer (WdK): 8
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
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Europa
— die T ürkei.
(Mollah ist ein Ehrentitel aller obern Richter. Scheich heißt soviel wie: Greis,
Ehrwürdiger.)
Behufs der Verwaltung ist die europäische Türkei — ohne die Schutzstaaten — in
11 Ejalets oder Generalgouvernements eingeteilt, die wieder in Liwas
oder Provinzen (und diese in Kazas oder Distrikte) zerfallen. An der Spitze eines
jeden Ejalets steht ein Mali oder Generalgouverneur als Chef der Verwaltung, der
nach dem Firman vom Januar 1853 das Recht hat, die Gouverneure der Liwas, die
Mudire der Distrikte, die Mitglieder der Gemeinderäthe, sowie alle Polizei- und Civil-
beamten seines Gouvernements unter seiner Verantwortlichkeit ein- und abzusetzen. —
Die Heeresmacht des Reiches — ohne die Contingente der fast souveränen Schutz-
staaten Rumänien, Serbien, Aegypten :c. — wird gebildet: 1) durch dlls reguläre
Heer oder den Nizam, bestehend aus Hauptcorps unter Muschirs, und diese aus Divi-
sionen unter Feriks, 2) durch die Landwehr oder Rediss, zusammen etwa 200000
Mann; dazu kommen noch des Sultans Haustruppen (Garde) und 80 — 90000
Baschi-Bozuks oder irreguläre Truppen, Tataren der Dobrudscha :c. Sicher ist die
Verteidigungsfähigkeit des Staates eine geringe, und die Festungen finden sich alle in
vernachlässigtem Zustande, wohl keine einzige fähig, den vervollkommneten Geschützen
der Gegenwart längere Zeit zu widerstehen.
Für wissenschaftliche Bildung geschieht etwas in neuester Zeit, für Volksunterricht
noch wenig, überhaupt steht die geistige Kultur im Türkenreiche auf einer ziemlich nie-
deren Stufe; Mädchenschulen gibt es, wie überhaupt unter den Orientalen, noch nicht.
Die Druckerei zu Konstantinopel wird immer wirksamer. Der Türk, unwissend und
stolz, verachtete bisher die andern Nationen sammt ihrer Kultur, und betreibt noch
immer nur eine bildende Knnst, die Architektur; Malerei wird zu Verzierungen und
Arabesken angewandt, und die Musik ist nichts als ein rauschender Lärm. Was Ge-
werbthätigkeit betrifft, so findet man in der Türkei gute Lederbereitung (Saffian,
Kordnan), Färbereien mit türkisch Roth, Säbelfabriken und weniges sonst. — Das
Schlagwort vom „kranken Mann", welches Zar Nikolans einst mit schlauer Berechnung
in die Welt geworfen und welches seit dieser Zeit so oft gläubig und verständnislos
nachgebetet wurde, ist uicht ohue alle Berechtigung: es ist unleugbar, die osmanifche
Herrschaft geht ihrer Auflösung entgegen, die herrschende Rasse ist in einer Abnahme
begriffen, welche sich durch nichts aufhalten läßt. Die Mehrzahl der europäischen
Staaten — Rußland natürlich ausgenommen — hat indes an der Erhaltung de.t
Türkei ein Interesse und wäre es auch nur, wie Fuad Pascha sich äußerte, die Bän-
digung der Slavenstämme am Bosporus. Aber die Balkänhalbinsel zu reorgauisireu,
dazu sind die Osmauen wohl nicht mehr fähig. Ein großer Theil dieser wahrhaft
fruchtbaren Sendung muß dem großen Donanreiche — Oesterreich-Ungarn — zu-
fallen». das aber diese Aufgabe natürlich nur dann erfüllen kann, wenn es, neben einem
befriedigten, zum Rechtsstaat ausgebildeten Ungarn, geordnete Zustände in den Erb-
länderu besitzt und sich im Innern auf freiheitlicher Basis genügend gekräftigt hat.
Es ist das jene Politik, die der große Engen vor bald 2 Jahrhunderten nach dem
Sieg von Z enta inauguriren wollte, als er seinen Zug ins Herz von Bosnien unter-
nahm; sie mußte damals scheitern, weil das vom Blute der Eperieser Schlachtbank
triefende Oesterreich und das in eigener Calamität befindliche Reich weder den Willen