1874 -
Mainz
: Kunze
- Autor: Schacht, Theodor, Rohmeder, Wilhelm
- Auflagennummer (WdK): 8
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
Europa -
Polen.
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roh, Gewerb und Handel fast nur in den Händen der Juden, die gar bald uuent-
behrlich wurden. Uebrigeus war der Sinn der polnischen Nation kriegerisch und frei-
heitliebeud. Das Volk bestand aus den Freien oder Grundbesitzern, welche die
weiten Wälder, Sümpfe, Heiden und Ackerflächen zu ihrem Eigenthum gemacht; und
aus den Hörigen, die wahrscheinlich größtentheils Nachkommen bei der Einwanderung
unterjochter Urbewohner oder eingebrachte Kriegsgefangene waren. Unter den Freien
errangen sich die Reichsten, die Beamten (hohe Beamten oder Statthalter hießen Woi-
woden d. i. Feldherrn) und Fremde, die man etwa begünstigte, ein höheres Ansehen;
doch sank dadurch der Stand der Freien überhaupt nicht so hinab, wie bei den Ger-
manen durch die Entstehung des Lehensadels geschah.
Littauen *) und Polen waren anfangs von mäßigem Umfange, wie alle angehen-
den Staaten. Als aber ihre östlichen Nachbarn, die Russen, im 13. Jahrhundert in
mongolische Dienstbarkeit und in Schwäche geriethen, griff der littauische Großfürst um
sich, der polnische König desgleichen, ja beide nunmehr mächtiger gcwordne Staaten
wurden zu einem Reiche verbunden. Mit König Kasimir dem Großen**),
der 1370 starb, erlosch nämlich der Mannsstamm des alten polnischen Regentenhauses
der Pi asten; seiner Schwester Tochter Hedwig ward mit dem heidnischen Großfürsten
Iagiel (Jagello) von Littauen vermählt, und dieser (1386) mit der polnischen Krone
beehrt. Ganz Littanen ward nun christlich, und Polen trat in die Reihe der Groß-
mächte des östlichen Europas ein. Umsomehr dehnte sich die Herrschaft aus. Am Schluß
des 14. Jahrhunderts besaß man alles Land bis zur Wasserscheide, die das große
Stromgebiet des Dujepr von Don und Wolga trennt; und 1466. nachdem der deutsche
Orden besiegt war, kam durch den Frieden zu Thoru noch ein Stück Preußens an der
Uuter-Weichsel, und im folgenden Jahrhundert sogar Livland hinzu. Die westliche
Hälfte des vereinten Reichs hieß fortwährend Polen, die östliche Littauen.
Vielleicht hätte sich durch die Verbindung mit dem Ordenslande allmählich mehr
Civilifation die Weichsel aufwärts gezogen, und der Verkehr mit den Völkern der Ostsee,
wie auch der Jdeenkampf der Reformation, Vortheilhaft cmf die Polen gewirkt; allein
mit dem Aussterben des jagellonischen Stammes 1572 begann ein Znstand der Ver-
*) Die littauische Sprache ist im Norden gegenwärtig durch eine Linie begrenzt,
die man von Pskow (Südspitze des Peipussees) an den Rigaer Golf zieht, mdem
die Landbevölkerung von Kurland und vom südlichen Livland größtentheils den Dialekt
des Littauischeu redet, der lettisch genannt wird, aber vielfach mit fremden (deutschen,
russischen, finnischen) Wörtern durchsetzt ist, während das südlich von Kurland und bis
über den Niemen hinüber gesprochene eigentliche Littauisch sich durch Alterthümlich-
keit und großen Reichthum an volltönenden Formen — es hat, trotz der hohen poetischen
Begabung des Volkes, nie zu einer eigentlichen Literatursprache sich entwickelt — aus-
zeichnet und unter alleu indogermanischen Sprachen dem Sanskrit am nächsten stehen
soll, aber durch das Andringen des Deutschen und des Russischen auf immer engere
Grenzen eingeengt und deshalb früher oder später das Schicksal des Preußischen
theilen, d. h. völlig erlöschen wird (S. S. 634 und 809). Die jetzige Ostgrenze des
Littanischen ist eine Linie von Pskow nach Grodno.
*) Er hatte auch den von Krakau und Lnblin südlich gelegenen Staat Halicz
(Galizien), wo einslavischer, vom polnischen etwas verschiedener Dialekt geredet wurde,
nach dem Tode des dortigen Fürsten mit Polen vereint. Er suchte die Hörigen gegen
die Freien zu schützen,und erhielt deshalb den ehrenden Beinamen: Der Bauernkönig.