1900 -
Glogau
: Flemming
- Autor: Hanncke, Rudolf
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): Jungen
Gewürm verleihen dem Bilde ein farbenprächtiges Aussehen, und dem
Seefahrer will es scheinen, als schwebe er in der Luft und sehe herab
auf die wunderschönste Vegetation.
Der Erdteil selbst, an dem wir landen, tritt uns wie eine
Riesengestalt entgegen. Er erstreckt sich durch 125 Breitengrade und
hat seine Länder durch vier Zonen verteilt. Es ist, als N'enn er
den Ankömmlingen die Arme entgegenhält, ihnen sein freundliches
Antlitz zukehrt und in allem und jedem als der jüngere Bruder
Europas sich gebärden will, der völlig die europäische Civilisation
übernommen hat und mit uns wetteifert in den Kultursortschritten
der Menschheit. Die parallele Gegenüberstellung der beiden Ufer-
seiten des Atlantischen Oceans hat etwas Überraschendes. Gleichwie
die Jungfrau Europa alle ihre gewinnenden Reize nach Westen kehrt
und der Erdteil Afrika sozusagen den gewaltigen Sockel bildet, auf
dem sie sitzt, so ist Nordamerika die menschlich entgegenkommende
und fühlende Brusthälfte des Erdteils, und Südamerika fließt wie
eine gleichförmige Gewandung herab von der hehren Gestalt. Manches
deutet auch auf den früheren Landzusammenhang mit der alten Welt
über die Brücke der Behringsstraße, während erst „im Tertiärzeitalter
durch vulkanischen Aufwurf der Landenge von Panama" die Ver-
bindung mit Südamerika hergestellt ist. So treffen wir in Nord-
amerika aus alte Bekannte, wie den Wachholderstrauch und das Nenn-
tier und die vertrauten Gestalten der Kiefernarten, während Süd-
amerika uns viel fremdartiger berührt und als der eigentliche Tropen-
kontinent, als reichstes und fruchtbarstes Gelände und als „Treib-
haus" der Erde sich darstellt.
Dennoch betrachten wir Nord- und Südamerika zusammen als
eine Kontinentaleinheit, sie haben ja auch ihre gemeinsamen Sonder-
thpen, die für den ganzen Erdteil charakteristisch sind, so den Kolibri
und die Kakteen. Es erscheint nun bei dem jüngeren Bruder, wie
ich vorhin in Bezug auf die Civilisation Amerika Europa gegenüber
nannte, alles kolossalischer wie in Europa. Der Hauptvorzug Europas
in physikalisch-geographischer Beziehung ist, daß wir hier durchweg
auf eine reichere Individualisierung stoßen; so hat z. B. Deutsch-
land seine charakteristische Stufenbildung vom Tieflande her über
die Mittelgebirgslandschaften und Plateaus hin zur alpinen Hoch-
gebirgsnatur. Desgleichen erscheinen die Flüsse in viel reicherer
Gliederung, und nun gar die überall aufgelockerten,, Küstenränder
und eindringenden Binnenmeere geben Europa die Ähnlichkeit mit
einem riesigen Polypen, der nach allen Richtungen hin seine Fang-
arme ausstreckt, um die mannigfachsten Kultureindrücke aufzusaugen
und in sich zu verarbeiten. In Amerika dagegen fehlen zumeist die
Mittelstufen. Am ganzen Westrande des Erdteils haben wir das
kolossale Hochgebirge, das namentlich in Südamerika seine staunens-