1901 -
Glogau
: Flemming
- Autor: Hanncke, Rudolf
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): Jungen
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genommen, und den niederen Weltgeistlichen ist die Ehe sogar ge-
boten. Anfangs hatte ja die griechische Kirche ein entschiedenes Über-
gewicht, da das Neue Testament, die Grundlage unseres Glaubens,
doch in griechischer Sprache niedergeschrieben war. Die erst in neuester
Zeit verkündeten Dogmen der päpstlichen Kirche von der uubesleckten
Empfängnis und von der Unfehlbarkeit des Papstes, so oft er ex
cathedra spricht, haben den Riß zwischen den beiden Kirchen zu einem
unheilbaren gemacht. Der russische Klerus zerfällt in die Welt- und
Klostergeistlichkeit, die im Volke als weiße und schwarze Geistlichkeit
unterschieden werden. Es giebt nur einen Orden, den des heiligen
Basilius, und in Rußland sollen sich über 500 Klöster finden. Das
russische Volk ist religiös, was sich auch in der großen Zahl der
Kirchen ausspricht. Fast in jedem Dorfe ist eine Kirche, und in den
Städten rechnet man auf je 20 Häuser ein zum Gottesdienste be-
stimmtes Gebäude. In den Gebräuchen der orthodoxen Kirche ist
viel Ansprechendes. So, daß kein Unterschied zwischen hoch und
niedrig stattfindet und es in den Kirchen keine reservierten Plätze
giebt. Die ganze Gemeinde steht; denn vor Gott sind alle gleich.
Der Gottesdienst wird im alten Kirchenslavisch gehalten; aber die
Bibel ist in das jetzige Russisch übersetzt. Die Fasten werden strenger
beobachtet als irgendwo sonst in der Welt, und da die griechische
Kirche wesentlich auf dem Standpunkte des 10. oder 11. Jahrhunderts
stehen geblieben ist, so „überwuchert das Ceremoniell und die Symbolik
eine eindringende Ausfassung der Gottesoffenbarung". Die Frömmig-
keit ist vielfach sehr äußerlich, und es soll nicht wenig Leute geben,
die das Vaterunser und die zehn Gebote gar nicht kennen. Dagegen
grenzt die Verehrung der Heiligenbilder, die die griechische Kirche
nur anerkennt, wenn sie gemalt sind, fast an Fetischismus. In
Moskau giebt es ein Bild der heiligen Jungfrau, das, wie Peschel
berichtet, zu seinem Privatgebrauche eine Equipage mit 4 Pserden
besitzt, in der es den eifrigen Mitgliedern der Gemeinde Besuche ab-
stattet. Auch der Bauer verlangt sehnlichst danach, ein berühmtes
Heiligenbild über Nacht in seinem Hause zu beherbergen. Eigen-
tümlich klingt allerdings daneben das Bauernsprichwort: Taugt es
idas Bild), so ist es gut zum Anbeten, taugt es nicht, so ist es gut
zum Topsdeckel. Die Popen genießen keine sonderliche Hochachtung.
Sie sind arm und bestellen wie der Bauer ihren Acker selbst. In
den traditionellen Schwänken spielen der Pope und seine Frau die
stehenden Figuren eines Ausbunds im Essen und Trinken, überhaupt
in der Sittenlosigkeit. Die griechische Kirche verbietet alle In-
strumentalmusik; wohl aber ist der Gesang ein wesentlicher Teil des
russischen Gottesdienstes. Die geschulten Sängerchöre stehen um ihrer
Leistungen willen mit Recht in verdientem Rufe. Daß in religiös-
kirchlichen Fragen Äußerlichkeiten sehr entscheiden, geht auch aus der