1911 -
Berlin [u.a.]
: Oldenbourg
- Autor: Fischer, Heinrich, Geistbeck, Michael, Geistbeck, Alois
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch, Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Höhere Töchterschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mädchenschule
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Mädchenschule
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): Mädchen
2. Thüringen. 83
Rheinländer. Eine gewisse freundliche Duldung, eine daraus fließende ungekünstelte
Herzlichkeit im Umgang mit jedermann schreibt man dem Thüringer zu; beide
beruhen jedoch nicht auf charakterloser Schwäche, sondern auf einer harmonisch
gemeindeutschen Ausbildung der thüringischen Eigenart, in der sich mithin Züge
von Verwandtschaft mit Wesenselementen aller übrigen Spielarten des deutschen
Volkes finden müssen. Ehrlich verhaßt ist dem Thüringer alles Undeutsche von
Charakterhäßlichkeit: Bosheit gegen Mensch und Tier, eitle Selbstüberhebung,
Streberei und Muckerei. Er selbst hat ein warmes Herz, einen offenen Kopf,
Freude an der Arbeit, aber auch am Genuß.. So harte, an entsagungsvolle
Arbeit gewöhnte Naturen mit rotblondem Bart- und Haupthaar wie in Hessen
findet man unter dem thüringischen Landvolk kaum, vielmehr etwas vierschrötige
Männer und Weiber, blond oder braun von Haar, blau oder grau, nicht selten
auch dunkelbraun von Auge, mit sorgloser Zufriedenheit im gesunden Antlitz. Den
Mutterwitz, die gemütvolle Herzlichkeit und den derben Sprachgenius des Thüringers
hat Anton Sommer in den „Rudolstädter Klängen" vortrefflich wiedergegeben.
Bei der Dorfkirmes kann sich die thüringische Lust am Schmausen und Trinken
wohl zum Übermaß versteigen, für gewöhnlich aber wird nüchtern und müßig
gelebt, obschon sich die Neigung zu heiterer Geselligkeit, Musik und Tanz niemals
verleugnet. Der Bauerngeiz und die Grobheit, die auch in anderen Landen als
Schattenseite bäuerlicher Beschäftigung uns entgegentreten, verunzieren allerdings
im ackerbauenden Flachland öfters den thüringischen Charakter. Feiner entfaltet
sich dieser daher in der städtischen Bevölkerung und, in ersichtlicher Wechselbeziehung
zur umgebenden Natur, am Thüringer Wald. Wie rührend geringe Ansprüche
macht der „Wäldler" ans Leben! Das Gebirge hat ihn an Entbehrung gewöhnt,
seinen Fleiß, seine Handgeschicklichkeit gezüchtet, ihn aber belohnt mit frohsinniger
Empfänglichkeit für die Schönheit seiner Heimat. Er braucht nicht mit Hab und
Gut zu geizen, denn er hat davon gewöhnlich nur so viel, wie er eben unum-
gänglich bedarf; die meist zahlreichen Kinder verdienen sich frühzeitig schon eiy
wenig in der Fabrik oder helfen mit beim Hausgewerbe. Kartoffelkost herrscht
eintönig vor, aber gleichwie reiche Leute halten sich die Thüringer Wäldler ihre
lieben Waldvögel zu fürsorglicher Pflege im Bauer, ja manche schlichte Hütte sieht
man mit einer Vielzahl von Vogelbauern behängt. Mit dem Finken singt Bursche
und Mädchen selbst um die Wette. Viel sangeslustiger und gesanglich begabter
als das flache Vorland ist auch in Thüringen das Gebirge: man vernimmt kunst-
gerechte mehrstimmige Gesänge, und wie gut steht es dem jungen Volk, wenn es
nach Feierabend in Gruppen durch die Dorfgassen schlendert und frohgemut das
aus dem Herzen kommende Lied aus hellen Kehlen hören läßt:
„'s ist m'r alles eins, 's ist m'r alles eins,
Ob ich Geld Hab' oder keins!"
Das Thüringer Becken besitzt im Gegensatz zu Hessen sehr alte Marktorte,
ein Beweis dafür, daß sich von jeher in diesem Zentralland die Straßen trafen.
An den Handel schloß sich das städtische Handwerk, der Anbau von Gewächsen,
die dem Gewerbe dienten, z. B. von Waid, einer rapsähnlichen Fürberpslctnze, die
vor Einführung des Jndigos der Blaufärberei diente und vornehmlich um Erfurt
gebaut wurde. Zur maschinellen Großindustrie der Neuzeit gebrach es zwar dem
ganzen Thüringer Land an Steinkohlen. Nur tertiäre Braunkohlen wurden in