1911 -
Hannover-List [u.a.]
: Carl Meyer (Gustav Prior)
- Autor: Marquardt, Rudolf
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Lehrerseminar
- Schultypen Allgemein (WdK): Lehrerbildungsanstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Lehrerbildungseinrichtungen
- Schulformen (OPAC): Lehrerbildungsanstalt
- Inhalt Raum/Thema: Völkerkunde?
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Denn nicht etwa entwickeln sich die Volkseigenschaften aus den äußeren
Schicksalen, sondern umgekehrt, die äußeren Schicksale gehen ans den Volks-
eigenfchaften hervor. Die Ermordung Hermann des Chernskers durch seinen
eigenen Stamm ist typisch für unsere ganze Geschichte gewesen. Jedes Volk
hat nicht nur die Regierung, sondern auch die Schicksale, welche es verdient.
Zu dieser Grundlage eines starken, mit Billigkeit gegen andere ver-
bnndenen individualistischen Unabhängigkeitsgefühles kommt bei den Eng-
Ländern ein nüchterner, ans das Reale gerichteter Sinn, um sie zu einem
politischen Volk zu machen. Sie haben vorwiegend „common sense" oder
gesunden Menschenverstand und sind frei von dem Befangensein in theore-
tischen Schablonen. Die Richtung ihres Verstandes ist induktiv, der De-
duktion abgewendet. Sie erfassen demnach vorliegende Probleme mehr mit
einer naiven Unvoreingenommenheit als Völker, welche geschult werden, nach
abstrakten Theorien zu denken. Es trägt dieser Zug viel dazu bei, den
englischen Einrichtungen so oft den Charakter des Unordentlichen, ja des
Saloppen zu verleihen; aber es erhält ihnen auf der anderen Seite den
Stempel der Urwüchsigkeit und Frische. Kein Volk ist weniger methodisch
als das englische; aber kein Volk ist weniger von der „grauen Theorie"
belastet. Dies macht sich fühlbar in der Mangelhaftigkeit aller ihrer ftaat-
lichen Organisationen; aber es gibt ihnen anderseits die natürliche Elastizität,
sich schnell in neue und ungewohnte Verhältnisse zu finden. Deshalb sind
sie die geborenen Kolonisatoren der europäischen Welt.
(2. Arbeitszeit des Arbeiters.) Seine Arbeitszeit an den Wochen-
tagen, außer Sonnabends, ist von 6 Uhr morgens bis 5 Uhr nachmittags;
an den Sonnabenden aber nur bis 2 Uhr nachmittags. Während dieser
Stunden hat er zwei Erholungspausen, vou 8—8x/2 Uhr für sein Frühstück
und von 12—1 Uhr für sein Mittagessen. Dies gibt ihm an fünf Tagen
9*/,,, am Sonnabend aber nur 6l/2 Arbeitsstunden, im ganzen 54 Stunden
jede Woche. Dies ist verschieden in den Minen, wo von 7 Uhr morgens
bis 4 Uhr nachmittags gearbeitet wird mit nur einer Unterbrechung von
1i2 Stunde zwischen 11 und 11% Uhr morgens für eine Mahlzeit, und
auch beim eigentlichen Landarbeiter, welcher von 6—6 Uhr arbeitet, aber im
ganzen 2 Stunden Pause erhält.
Die Tatsache, daß der eigentliche Fabrik- und Straßenarbeiter (Navvy)
in der Regel um 5 Uhr nachmittags mit seiner Arbeit fertig ist und in den
Schoß seiner Familie zurückkehren kauu, am Souuabend aber schon um
2 Uhr mittags, während er den ganzen Sonntag überhaupt frei hat, bedeutet,
wie ich nicht darzulegen brauche, ein außerordentlich hohes Maß häuslichen
Behagens gegenüber dem Deutschen.
Wie lebt nun unser Freund an einem gewöhnlichen Tage? Um 5 Uhr
morgens wird er aufstehen müssen, um sich anzukleiden und zu seiner Fabrik
oder seiner sonstigen Arbeit zu wandern. Seine Frau, wenn er eine hat,
oder feine Hauswirtin kocht ihm vor dem Aufbruch eiue Tasse Tee oder,
neuerdings mehr und mehr, Kakao, zu welcher er ein Stück Brot mit Butter,
Margarine oder Bratenschmalz (dripping) ißt oder auch nicht. Auf seinen
Weg nimmt er sich einen gehörigen Knust Brot mit, zu dem er sich in
irgend einem frühen Laden ein Stück Speck (rasher) kauft. Dies mit einer
Kanne Tee, für welche er einen halben Penny ausgibt, bildet sein eigent-
liches Frühstück um 8 Uhr. Den Speck brät er sich ans offenem Feuer