1911 -
Hannover-List [u.a.]
: Carl Meyer (Gustav Prior)
- Autor: Marquardt, Rudolf
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Lehrerseminar
- Schultypen Allgemein (WdK): Lehrerbildungsanstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Lehrerbildungseinrichtungen
- Schulformen (OPAC): Lehrerbildungsanstalt
- Inhalt Raum/Thema: Völkerkunde?
- Geschlecht (WdK): Jungen
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gezackten Blätter, spielend flimmern hin und her die lustigen Sonnen-
strahlen, die sinnigen Kräutlein erzählen sich grüne Märchen, es ist alles
wie verzaubert, es wird immer heimlicher und heimlicher, eiu uralter Traum
wird lebendig, die Geliebte erscheint — ach, daß sie so schnell wieder
verschwindet!
Je höher man den Berg hinaufsteigt, desto kürzer, zwerghafter werden
die Tannen; sie scheinen immer mehr und mehr zusammenzuschrumpfen, bis
nur Heidelbeer- und Rotbeersträucher und Bergkräuter übrig bleiben. Da
wird es auch schon fühlbar kälter. Tie wunderlichen Gruppen der Granit-
blocke werden hier recht sichtbar; diese sind oft von erstaunlicher Größe. Das
mögen wohl die Spielbälle sein, die sich die bösen Geister einander zuwerfen
in der Walpurgisnacht, wenn hier die Hexen anf Besenstielen und Mist-
gabeln einhergeritten kommen und die abenteuerlich verruchte Lust beginnt,
wie die glaubhaste Amme es erzählt, und wie es zu schauen ist ans den
hübschen Faustbildern des Meisters Retzsch . . .
In der Tat, wenn man die obere Hälfte des Brockens besteigt, kann
man sich nicht erwehren, an die ergötzlichen Blocksberggeschichten zu denken
und besouders an die große mystische deutsche Nationaltragödie vom Doktor
Faust. Mir war immer, als ob der Pferdefuß neben mir hinanf klettre
und jemand humoristisch Atem schöpfe. Uud ich glaube, auch Mephisto
muß mit Mühe Atem holen, wenn er seinen Lieblingsberg ersteigt; es ist
ein äußerst erschöpfender Weg, und ich war froh, als ich endlich das lang-
ersehnte Brockenhaus zu Gesicht bekam.
Dieses Haus, das, wie durch vielfache Abbildungen bekannt ist, bloß
aus einem Parterre besteht und auf der Spitze des Berges liegt, wurde
erst 1800 vom Grafen Stolberg-Wernigerode erbaut, für dessen Rechnung
es auch als Wirtshaus verwaltet wird. Die Mauern sind erstaunlich dick,
wegen des Windes und der Kälte im Winter; das Dach ist niedrig; in der
Mitte desselben steht eine turmartige Warte1), und bei dem Hause liegen
noch zwei kleine Nebengebände, wovon das eine in frühern Zeiten den
Brockenbesuchern zum Obdach diente.
Der Eintritt in das Brockenhaus erregte bei mir eine etwas ungewöhn-
liche, märchenhafte Empfindung. Man ist uach einem langen, einsamen
Umhersteigen dnrch Tannen und Klippen plötzlich in ein Wolkeuhaus ver-
setzt. Städte, Berge und Wälder blieben unten liegen, und oben findet man
eine wunderlich zusammengesetzte, fremde Gesellschaft, von welcher man, wie
es an dergleichen Orten natürlich ist, fast wie ein erwarteter Genosse, halb
neugierig und halb gleichgiltig, empfangen wird. Ich fand das Hans voller
Gäste, und, wie es einem klugen Manne ziemt, dachte ich schon an die Nacht,
an die Unbehaglichkeit eines Strohlagers; mit hinsterbender Stimme ver-
langte ich gleich Tee, und der Herr Brockenwirt war vernünftig genug, ein-
zusehen, daß ich kranker Mensch für die Nacht ein ordentliches Bett haben
müsse. Dieses verschaffte er mir in einem engen Zimmerchen, wo schon ein
junger Kaufmann, ein langes Brechpulver iu einem braunen Oberrock, sich
etabliert hatte.
(3. Abstieg vom Brocken ins Jlsetal.) Das ging über Hals und
Kops. Hallesche Studenten marschieren schneller als die österreichische Land-
• i) Heute steht ein besonderer Aussichtsturm vor dem Hause.