1911 -
Hannover-List [u.a.]
: Carl Meyer (Gustav Prior)
- Autor: Marquardt, Rudolf
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Lehrerseminar
- Schultypen Allgemein (WdK): Lehrerbildungsanstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Lehrerbildungseinrichtungen
- Schulformen (OPAC): Lehrerbildungsanstalt
- Inhalt Raum/Thema: Völkerkunde?
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Weg sonniger; bald aber gelangen wir in das eigentliche „Gebirge", blicken
in dunkle Waldschluchten und weit über die blane Wasserfläche. In Luisen-
tat empfing mich lautes Kindergeschrei, Ein Mann, in einem Kasel (ein
langer Rock von dicker Leinwand mit einer Kapuze, vor dem Gesicht ein
Haarsieb), hatte eben den Bienen ihren Honig genommen (man nennt das
hier: die Bienen brechen) und kehrte reich beladen in das Hans zurück. In
der eiueu Hand hielt er die Honigwaben, in der anderen einen Feuerbrand,
um die Bienen zu vertreiben. Die Kinder umschwärmten ihn in respekt-
voller Entfernung; eine Frau erwartete sie au der Haustüre mit einem
Korbe voll Semmeln. Ich stand einen Augenblick hinter einem Baume
verborgen und erfreute mich an der lieblichen Szene; dann zog ich weiter...
Soll ich nuu uoch etwas über das Frische Haff erzählen, so bemerke
ich betreffs seines Namens, daß derselbe wohl in der Tat ein frisches Wasser
bedeutet und weder mit dem Flusse Frischiug noch mit der altpreußischen
Sprache etwas zu tun hat. Im Sommer freilich, namentlich im Juli und
August, verdient es diese Bezeichnung selten. Es entsteht dann nämlich im
Wasser eine eigene Art von Pflänzchen von fast mikroskopischer Kleinheit,
welche dem Haff eine grüne Farbe geben und, am Ufer ausgeworfen und
getrocknet, dasselbe wie mit Vitriol überziehen. Zugleich verbreitet sich ein
äußerst widerwärtiges Miasma, welches tief ins Land dringt und den
Menschen Kopfweh verursacht. Tote Fische werden in großer Zahl ausge-
worseu; Enten aber, die von diesen auf das Ufer gespülten Pflänzchen
treffen, sollen gar davon sterben. — Wenn sich das Haff in diesem Zu-
stände befindet, so sagt man: es blüht. Sonderbar ist es, daß auch die
Theiß in Ungarn im Sommer sich mit mikroskopischen Tierchen bedeckt, und
daß es dann gleichfalls von ihr heißt, sie blühe.
Nachdem dieses alles am Haff gesehen und bedacht worden, begab ich
mich in einem Taleinschnitt durch den noch juugeu Wald wieder auf die
Straße zurück. Bald verläßt man denselben und kommt durch ein sonder-
bares Hügel-(Höcker-)Land nach dem Städtchen Tolkemit. Vorher sieht
man noch am Haffufer Menschen, welche kleine Steine auflesen und in ein
Boot schütten. Es sind dieses Kalksteine, die kurz vor Tolkemit gebraunt
und demnächst verschifft werden.
Tolkemit gehört zu jenen Städtchen, welche das Schicksal haben, wegen
ihrer Kleinheit als Zielscheibe des Spottes der Reisenden zu dienen. So
erzählt ein jeder gern die Sage von einem Aal, der einst gedroht habe, die
Stadt zu verschlingen, und nur mit Mühe und Not an eine Kette gelegt
worden sei, „allwo er noch jetzt zu sehen". Andere wundern sich über die
Menge von Scherben, die an ein Scherbengericht erinnern. Und in der
Tat, Tolkemit ist ein wahres xtqa/ueixov (so hieß die Töpfervorstadt von
Athen): denn überall stehen die Töpferwaren vor den Türen auf dem so-
geuaunteu Bürgersteige, um zu trockueu und demnächst gebrannt zu werden.
Man kann keinen Jahrmarkt tief im Lande besuchen, ohne die Tolkemiter
Töpfer anzutreffen, deren Waren sich durch Sauberkeit und Dauer aus-
zeichnen. Überhaupt sind diese verschrieenen Tolkemiter fleißige Leute, die
sich sogar bis zur Höhe der Selbstironie erheben können; denn von einem
dortigen Bürger hörte ich folgendes anmutige Verslein:
O Tolkemit, du schöne Stadt,
du bist fürwahr ein Wunder,