1914 -
Frankfurt am Main
: Diesterweg
- Autor: Werhan, Karl, Sahm, Wilhelm
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Regionen (OPAC): Ostpreußen
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
Bilder aus Ostpreußens Vergangenheit. 55
waffneten Wachen besetzt. Niemand darf ohne Erlaubnis der Polizei aus
noch ein gehen. Oer Besuch verpesteter Ortschaften ist bei Todesstrafe ver-
boten, vie vielfach noch ungepflasterten Straßen und Kinnsteine werden vom
Schmutz gereinigt, die herrenlosen Hunde vom Scharfrichter und seinen Unechten
erschlagen, da man meint, daß ihre langen haare das Pestgift leicht übertragen
könnten. Pestärzte und Totengräber werden in Bereitschaft gehalten und das
abgelegene Pesthaus, das die tranken aufnehmen soll, instand gesetzt.
Doch alle diese Vorkehrungen sind vergeblich, vielleicht war es ein kranker
Wanderbursche, der die Pest eingeschleppt hat, ein Kesselflicker oder ein Spiel-
mann. Schwarzblau angelaufen und mit Beulen bedeckt, hatte man ihn am
Morgen irgendwo in der Stadt aufgefunden. Mit Windeseile verbreitet sich
unter den Bürgern der Schreckensruf: „Die Pest ist da!" Bürgermeister und Nat
halten Sitzungen ab und besprechen, was zu tun sei. Man läßt das Unglücks-
Haus, in welchem die Pestleiche gefunden wurde, vernageln, versieht es mit
einem großen, weißen kreuze und verbietet den andern Bewohnern, dasselbe
bei Todesstrafe zu verlassen, verängstigt stehen die Bürger auf den Straßen
zusammen und frischen die Erinnerungen an die letzterlebte Pestepidemie aus
oder besprechen die zu ihren Ohren gekommenen bösen Nachrichten aus dem
verpesteten Nachbarorte. Auf Märkten und freien Plätzen brennen mächtige
Kaddikhaufen, deren (Hualm die Luft reinigen soll. In den Krämerläden,
beim Bäcker und Fleischer, sind Schalen mit Pestessig aufgestellt, welche die Geld-
münzen aufnehmen, ehe sie von einer-Hand in die andere gelangen. Zn den
überfüllten Kirchen werden besondere Bittgottesdienste abgehalten. Sonst sind
alle Zusammenkünfte verboten. Eine unheimliche Stille ist über die ganze Stadt
ausgebreitet, in der noch vor kurzem Freude und Lebenslust herrschten.
Doch das Unglück läßt sich nicht mehr aufhalten. Die pestfälle mehren sich
mit unheimlicher Geschwindigkeit. Bald sind ganze Häuser, ja ganze Straßenzüge
ausgestorben, vor dem Tore muß ein besonderer Pestkirchhof angelegt werden,
da der alte Gottesacker schon überfüllt ist. Längst hat das Sterbegeläute der
Glocken aufgehört, und wenn sich die Schatten der Nacht auf die unglückliche
Stadt herniedersenken, dann gehen die Totengräber und Pestkerle ihrem furcht-
baren Gewerbe nach. In wachsleinene Mäntel gehüllt, die mit Pestessig
getränkt sind, durchsuchen sie die verseuchten Häuser, laden die im Laufe des
Tages verstorbenen auf ihre pestkarren und bestatten sie gemeinsam in schnell
ausgehobenen Gruben. Einsam und hilflos bleiben die Kranken auf ihrem
Schmerzenslager zurück. Niemand darf sich ihnen nähern. Nur der Geistliche
reicht ihnen das letzte, heilige Mahl. Erst nachdem die stark gelichteten Reihen
der Bevölkerung dem Tode kaum noch eine lohnende Ernte versprechen, läßt
dieser die furchtbare Sichel sinken, um an einem andern Orte das Würgen von
neuem zu beginnen.
4. tvie Friedrich Wilhelm I. einen adligen Dieb bestrafte. Als
Friedrich Wilhelm I. zur Negierung kam, war Ostpreußen durch die Pest
furchtbar entvölkert. Namentlich in Litauen lagen weite Landstrecken wüste und
unbebaut, da es an Menschen mangelte, den Acker zu bestellen. Oer fürsorg-
liche König hat weder den weiten Weg von Berlin nach Ostpreußen noch Arbeit
und Kosten gescheut, um das furchtbar verarmte Land wieder in Ordnung zu
bringen, viele Millionen Taler hat der sonst so sparsame Negent hingegeben,