1897 -
Leipzig
: Wunderlich
- Autor: Tischendorf, Julius
- Auflagennummer (WdK): 3
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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2. Merkwürdig ist das Leben, das die Bewohner der ein-
samen Absiedlungen im Innern der Insel führen.
Die aus Lavablöcken und Erde errichteten Hütten, welche ein Gehöft
bilden, siud von einer Schneemauer umwallt. Im Innern der Be-
hausung giebt es keinen Ofen und keine Herdfeuer. Holz fehlt oder ist
zu kostbar, um zur Feuerung verwendet zu werden; Kohle läßt sich
wegen der hohen Beförderungskosten nicht beschaffen. Freilich hat man
schlechten Torf, d. h. notdürftig getrockneten Rasen, aber nur so viel,
daß man ab und zu ein Gericht dabei kochen kann. Geht auch dieses
elende Brennmittel aus, dann verwendet man Mist, Schafsknochen und
eine Art fetter, ungenießbarer Möwen zur Feuerung. Glücklicherweise ist
aber der isländische Winter dank der Einwirkung des Golfstromes nicht
so kalt, als manche glauben. Selten steht im Winter das Thermometer
tiefer als 5 ° (X, und nur, wenn der rauhe Nordwind vom Pole her
heult und im April oder Mai die Eismaffen von Spitzbergen (Zeigen!)
flott zu werden beginnen, herrscht hier für wenige Wochen eine empfind--
liche Kälte.
Die Nahrung der Isländer ist im Winter die denkbar elendeste.
Skyr (saure Milch) giebt es nur im Sommer, weshalb man sich jetzt
mit geräuchertem Lammfleische (Hangi) und Stockfischen behelfen muß.
Und diese Nahrungsmittel werden nicht gekocht, sondern ohne jede Zu-
bereitnng kalt verzehrt. Mehl und Zwieback giebt es nur in den Häusern
der Wohlhabenden; Mus aus isländischem Moose, sowie Kuchen aus
Sandhafermehl werden nur an Feiertagen genoffen; hingegen fehlt
der Schnaps, der Ofen- und Sonnenwärme ersetzen muß, in keinem
Hause. In dem engen, finsteren Wohnräume, deffen dicke Lavawand nur
von einem winzigen Fenster durchbrochen wird, ist die ganze Haus--
genoffenschaft versammelt und atmet eiue nichts weniger als reine Luft
ein. In demselben Räume mit den Menschen zusammen leben die
Lämmer, die zu zart sind, als daß sie den Winter im Freien überstehen
könnten. Hingegen sind die erwachsenen Schaft wie auch die Pferde im
Wiuter sich selbst überlassen.
Im ewigen Einerlei fließen die Tage des Winters dahin. Da sitzt
der Familienvater auf einem großen Walsischwirbel, der ihm als Stuhl
dieut, und schreibt aus einer vergilbten Handschrift eine Sage ab. Wenn
die Mutter nicht gerade Netze strickt oder Tuch webt, unterweist sie die
Kinder im Lesen und Schreiben. Die erwachsenen Glieder der Familie
sind nnterdes mit Spinnen, Nähen oder Tabakkauen beschäftigt oder über-
lassen sich, auf Schaffellen liegend, dem Schlafe. Entschließt sich der
Vater, eine alte Sage zu erzählen, dann lauschen alle mit offenem Munde
und geröteten Wangen. Die „Saga" ist der große Trost des isländischen
Winters. Hundertmal gehört, wirken die wilden Thaten dieser nordischen
Götter und Helden noch immer so gewaltig wie das erste Mal. Der
Isländer erzählt die Sögur (Mehrzahl von Saga) noch heute mit den-