1895 -
Leipzig
: Wunderlich
- Autor: Tischendorf, Julius
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
lustigen Masken. Natürlich hatten auch die Frauen und Edelfräulein es
nicht fehlen lassen, das Fest des Kaisers durch Gold und Geschmeide zu
verherrlichen. Und wie es bei einer solchen Veranlassung, bei Musik und
Tanz in der Ordnung war. pulsierte in allen Teilnehmern ein freudig
bewegtes Leben. Doch nein, nicht in allen! Ein Gast, den niemand
kannte, machte eine Ausnahme. Zwar waren sein Benehmen, sein Anstand
tadellos, er selbst war ein schön gewachsener, hoher, stattlicher Mann, aber
seine Trauerkleidung — er trug ein schwarzes Ritterkleid ohne alle Ab-
zeichen, an denen man ihn hätte erkennen können — paßte offenbar nicht
in diesen heitern, glänzenden Kreis von Fürsten, Rittern und Edelfrauen,
die mit ihrem Herrn und Kaiser ein fröhliches Fest begingen. Natürlich
war der fremde Gast für alle, insbesondere für die Damen, ein Stück
der Neugierde, und als er gar stolzen Schrittes aus die Königin zugiug,
bescheiden ein Knie vor ihr beugte nud sie um die Ehre eines Tanzes
bat, da steckten alle die Köpfe zusammen und harreten, was wohl die
Fran Königin sagen und thuu werde.
Die Königin stieg lächelnd von ihrem erhöhten Sitze, reichte dem
Unbekannten freundlich die Hand und flog dann leichten und zierlichen
Schwunges mit ihm die langen Reihen im Saale dahin — sie entsann
sich nicht, jemals mit einem besseren, gewandteren Tänzer getanzt zu
haben. Sie entsann sich aber auch nicht, jemals anmutiger, angenehmer
unterhalten worden zu fein, als sie von dem Unbekannteil während und
nach dem Tanze unterhalten wurde; er wußte so leicht und ungezwungen
und dennoch so achtungsvoll mit ihr zu sprechen, daß sie ganz unwill-
kürlich einen Vergleich mit ihm und denen, die bis dahin mit ihr in Be-
rührung gekommen waren, in Gedanken anstellte, der offenbar zu seinem
Gunsten aussiel. Und darum bewilligte sie ihm huldvoll nicht nur den
zweiten Tanz, um den er bat, sondern auch den dritten und vierten.
Das erregte natürlich große Verwunderung und viel Neid unter den
Fürsten und Rittern, deren keiner einer ähnlichen Gunst sich rühmen
konnte; unter den Damen aber steigerte es die Neugierde, wer der glück-
liche Unbekannte sein möge, im höchsten Grade, und alle, der Kaiser selbst
nicht ausgenommen, sahen mit brennender Ungeduld der Stunde entgegen,
wo nach dem Maskengesetze jeder, also auch der Unbekannte, sich werde
zu erkennen geben müssen. Ja, diese Ungeduld, diese Neugierde beherrschte
alle Anwesenden so sehr, daß sie sogar vergaßen, sich selber dem Vergnügen
des Tanzes hinzugeben — ein Opfer, das den Damen und Edelfräulein
gewiß nicht leicht wurde.
Endlich, endlich kam der Augenblick, wo jeder die verhüllende
Maske vom Gesicht nehnien mußte. Alle thaten es, aber der Unbekannte
schlug sein Visier nicht zurück und weigerte sich auch, es zu thuu, bis
endlich die Königin ihm befahl, das Visier zu öffnen.
„Majestät", bat er, „gebt mir Urlaub, ich muß nach Haufe
gehen!" —