1900 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Bumüller, Johannes, Schuster, Ignaz
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
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Ernten verdankt. Der Ägypter betrachtet daher diese Erscheinung
fast mit religiöser Scheu. Feste jeder Art wechseln miteinander,
wenn um die Mitte des Augusts bei Kairo die Schleuse des großen
Kanals durchstochen werdeu kann, welcher hier vom Nil ausläuft
und mit seinen Verzweigungen das östliche Unterägypten — das alte
Gosen — überschwemmt. Unmittelbar nach dem Durchstich fertigt
der Kadi eine Urkunde aus, welche den genügenden Wasserstand be-
[tätigt und dem Sultan in Konstantinopel das Recht giebt, von der
ägyptischen Regierung den vollen Tribut zu erheben. Ist die Schleuse
durchstochen, so erfüllt der tausendzüngige Jubelruf die Lüfte: „Der
Strom kommt, der Strom kommt!" Etwa um den 26. September
hat der Nil die größte Höhe erreicht; das Festland ist verschwunden,
nnr die langen, vielgebrochenen Linien der Dämme, nur die Städte
und Dörfer auf ihnen tauchen im Schmucke der Palmen und der
Minarets aus der nebelhauchenden Fläche empor (Bild 102). Was
man sieht, ist kein Fluß, kein See, sondern ein Meer, so daß einst
der griechische Geschichtschreiber Herodot bei diesem Anblicke sich in
den heimatlichen Archipel versetzt glaubte. Aber nach wenigen Wochen
schon treten einzelne hochgelegene Punkte wieder aus dem Wasser-
spiegel hervor, und bald streut der Fellah (vgl. Bild 69, S. 196)
die Saat über den aufgeweichten Boden, das tiefere Eintreten der-
selben seiner Ziegenherde überlassend. Alles andere besorgen die
Sonne und der fruchtbare Nilschlamm. Der Fellah kehrt erst wieder,
wenn die Halme unter der Last der Körner zur Erde siukeu, um
nun mit der kurzen, sägenartigen Sichel sie abzuschneiden, aber auch
zugleich eine zweite Aussaat vorzubereiten. In dieser Periode ent-
faltet die Natur Ägyptens ihre üppigste Pracht, während im Früh-
jähr das Land von der Sonne verbrannt und zerrissen dalag und
der Chamsin seine Gluthitze über das geborstene Feld hinhauchte.
Das ganze Nilthal ist jetzt ein Garten voll Ähren und Blüten. Be-
rauschend ziehen die Düfte der Orangen und Mimosen, der Lupinen
und der süßen Kleearten durch die Luft, und über dieser gesegneten
Erde wölbt sich in unbeschreiblicher Klarheit das Firmament, wölken-
los bei Tage und wolkenlos bei Nacht.