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1916 -
Erfurt
: Keyser
- Autor: Sander, Egmont
- Auflagennummer (WdK): 9
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 1 – Primarstufe, Klassen 1 – 4/6
- Regionen (OPAC): Erfurt
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
— 192 —
Morgens donnerten die Kanonen, und von den Türmen wurden die Choräle
„Allein Gott in der Höh' sei Ehr", „Nun lob mein See!' den Herrn"
u. a. geblasen. Als zum ersten Male die Glocken zur Kirche riefen,
stellten sich alle Knaben und Mädchen in den Schulen ein und wurden
von ihren Lehrern zur Kirche geführt. Die Mädchen trugen im auf-
gelösten Haar Kränze, und in den Händen hatten alle Schüler und
Schülerinnen Palmenzweige und Sträußchen. Sie sangen auf dem Wege
Dank- und Lobgesänge, z.b. „Gott, der Friede hat" oder „Friede, Freude
in dem Lande, Glück und Heil zu allem Stande". Gleiches geschah auch
nachmittags. Auf dem Marktplatz hatte man unter freiem Himmel
ein Theater aufgeschlagen. Hier wurde am Sonntag und Montag
nachmittags um 5 Uhr dargestellt, was Krieg und Frieden bringen.
Außerdem wurde dazwischen musiziert und ein geistliches Lied gesungen.
Unterdessen war die Bürgerschaft mit fliegenden Fahnen aufgezogen. Sie
nahm unter Trompetenschall und Trommelschlag eine kreisförmige Auf-
stellnng ein und gab aus ihren Musketen ein dreimaliges Freudenfeuer.
Dazu donnerten auf ein gegebenes Zeichen von der Bnrg die Kanonen.
Ein allgemeines Essen schloß die Feier. —
Der „Große Krieg" hatte ein furchtbares Elend über das Erfurter
Gebiet gebracht. Die meisten Wohnstätten der Dörfer waren zerstört. So
gab es z. B. in Tiesthal von 15 Häusern nur uoch 9. Ebenso schlimm
stand es mit der Einwohnerzahl. Von den 286 Bewohnern des Dorfes
Dachwig im Jahre 1640 lebten 1643 nur noch 109. In der Stadt
selbst sah es nicht besser aus. Sie zählte 1620 etwa 19000 Einwohner.
1632 nur noch 13457 und im Jahre 1664, also 16 Jahre nach dem Friedens-
schlnß, nur noch 11700 Einwohner. Der Tod hatte eine reiche Ernte
gehalten. Die Not der Bewohner, zumal der auf dem Lande, war furcht-
bar. Kornbrot war eine Seltenheit. Statt dessen wurde Hafer- und
Gerstenbrot gebacken. Viele mußten sogar mit Hirsenstanb, Kleie und
Leinkuchen fürlieb nehmen. Nachdem die letzten Hunde und Katzen auf-
gezehrt waren, war Fleisch unbekannt. Die üppigen Erfurter Fluren
waren verwüstet. 1639 waren von der ganzen Dachwiger Flur nur noch
72 Acker bestellt. Für die Bearbeitung fehlte es überall au Menschen
und an Vieh. Die Dorfjngend hatte die Scholle verlassen. Der Hunger
lockte sie nicht. Sie waren der Werbetrommel gefolgt. Auch viele der
Alten, die der Tod verschont, hatten noch Handgeld genommen. Das
Unkraut überwucherte die Fluren. Die Wölfe nahmen überhand. Sie
kamen abends auf die Höfe und unter die Fenster wie die Huude und
suchten Speise. Die wilden Schweine liefen anf dem Felde umher, als
ob sie geweidet würden. —
Die Kriegsabgaben, die Erfurt an Freund und Feind hatte zahlen
müssen, betrugen mehrere Millionen Taler. Der Krieg hatte den letzten
Reichtum der Stadt und ihrer Bewohner verschlungen. Die Kassen füllten
sich nicht wieder. Bei der Unsicherheit der Straßen und dem Mangel an
einer kaufkräftigen Bevölkerung war in den 30 langen Kriegsjahren der
Erfurter Handel vollständig vernichtet worden. Nun fehlten den Erfurtern