1885 -
Leipzig [u. a.]
: Spamer
- Autor: Richter, Julius Wilhelm Otto
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Geschlecht (WdK): koedukativ
26 Aus den Alpen.
Uber kühne Brücken und durch wildes Steiugeröll steigt man an der tosenden Aare
entlang aufwärts zum Grimselpasse (2165 m). Etwas tiefer (1874 m) liegt
am Grimselsee das Grimselhospiz, ein einfaches Gasthaus. Der Paß hat
eiue wilde, schaurige Umgebung; seinen Hintergrund bildet der kleine, fischlose
Totensee, hinter dem das Siedelhoru emporragt; unfern auch erheben sich
die unbeschreiblich schroffen Schreck hörn er. Von dem Grimselpasse ge-
langen wir an dem ungeheuren Rhonegletscher vorüber ins obere Rhonethal
(Wallis), während gegen Nordosten der Fnrkapaß in das Urserenthal und
von hier, quer über die St. Gotthardstraße hiuweg, in das obere Rhein-
thal (vermittels des Oberalppasses) führt. Es sind großartige Hochlandsblicke,
welche der Reisende in dieser Gegend findet; besonders von der Paßhöhe der
Furka (2436 m) eröffnet sich ihm ein überraschendes Panorama. — Doch um
einen noch tieferen Einblick in die großartige Schnee- und Eiswelt des Bern er
Oberlandes zu gewinnen, verfolgen wir den Weg von den früher geschilderten
Reichenbachfällen weiter auf Scheideck, Grindelwald und Lauterbrunnen
zu. Schon bald treten wir auf demselben in ein waldesduftiges Hochthal ein,
schauen dann eine Reihe gewaltiger Alpenspitzen (Wellhorn, Wetterhorn, Rosen-
Horn, Engelhörner ?c.) und erblicken bald auch den breiten, blauberänderten
Rosenlanigletscher, welcher von dem jähen Dossenhorn (3141 in) herab-
hängt. Im weiteren Wandern enthüllt sich uns ein neuer Sturz des Reichen-
bachs, der Rosenlanifall, dann der Schwarzwaldgletscher, der Mettenberg
und Eiger und wir betreten nun die große oder Hasli-Scheideck, einen
Rücken dicht unterm Wetterhoru, der ein überwältigendestablean darbietet.
Abgesehen von dem smaragdgrünen, durch die Lütfchiue durchströmten Thal,
das sich tief unten ausdehnt und die Häusergruppen von Grindelwald herauf-
leuchten läßt, übersehen wir eine Fülle von ungeheuren Alpengipfeln, von denen
Wetterhorn, Mettenberg, Eiger, Mönch und Schreckhorn dominieren.
Von hier aus führt auch der bequemste Weg in über 3 Stunden zum Faul-
Horn hinauf, welches in feinem Gasthofe, dem höchsten Europas (2683 m), ein
verhältnismäßig gutes Unterkommen und von seinem Gipfel ein erhabenes
Panorama der Riesen des Oberlandes gewährt, während gegen Norden die
schweizerische Hochebene mit ihren herrlichen Seebecken deutlich erkennbar wird.
— Vom Faul Horn erreicht man auf beschwerlichem Wege in etwa 3 Stunden
Grindelwald. Dieses liegt in einem Thalkessel, der vom Wetterhorn, Finster-
aarhorn, den Fiefcherhörnern, dem Mettenberg, Eiger ?c., wahrhaft erhaben
umkränzt wird; der Kessel wird durch die schwarze Lütschine durchströmt,
welche dem Grindelwaldgletscher ihr Dasein verdankt. Wer alsdann zur kleinen
Scheideck auswärts klimmt, sieht das Hochgebirgspanorama durch die in Schnee
und Eis starrende Jungfrau vermehrt, welche ihren von Lawinen umtosten
Schneemantel noch deutlicher enthüllt, sobald die Wengernalp erreicht wird.
Die Jungfrau (4167 m) — sagt Koch von Berneck — bildet mit
ihren beiden Satelliten, dem blinkenden Silberhorn (3765 in) und dem
abgestuften Schneehorn (3415 in) ein aus schrecklichen Abgründen aus-
steigendes, von Eis strotzendes majestätisches, wunderbar harmonisches Ganze.
Ihre schönen Proportionen und Lineamente, die klassische Reinheit und
Delikatesse der Gestalt machen sie zu einem der edelsten, köstlichsten Dia-
manten unter den zahlreichen Edelsteinen im Alpendiadem der Schweiz.