1885 -
Leipzig [u. a.]
: Spamer
- Autor: Richter, Julius Wilhelm Otto
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Geschlecht (WdK): koedukativ
32 Aus den Alpen.
Nun befinden wir uns in einem herrlichen Winkel des Sees, von dem
aus wir eines wundervollen Blickes in das Rhonethal genießen, und mit der
Eisenbahn raschen Fluges in diesem aufwärts bis Leuk gelangen können; einereihe
stattlicher Berge, wie der G r a m m o n t (217 8 m), Colde Jaman(1879 m) u. a.,
umgeben diesen reizenden Punkt, und in weiterer Ferne winkt vom linken Ufer
der Rhone die Dent du Midi hinüber. Am Eingange des Rhonethales liegt
das altertümliche Städtchen Villenenve; es ist die Stelle, wo im Jahre 563
n. Chr. der Möns Tauretunum den Ort Pennilucus verschüttete; in der
Nähe schlug der Helvetier Divico 107 v. Chr. die Römer und ließ sie durchs
Joch gehen. Bei der Weiterfahrt nach der Nordküste hinüber sehen wir das
Schloß Chillon auf einem Felsblock sich trotzig aus dem See erheben. Herzog
Peter von Savoyen erbaute dasselbe 1232 und bewohnte es als Residenz. In
seinen unter dem Wasserspiegel liegenden Gefängnissen hat unter andern auch Franz
von Bonivard, Abt von St. Victor in Genf, geschmachtet, bis die Genfer 1536
das Schloß erstürmten; Lord Byron hat ihn besungen. Nachdem das Schloß noch
im 18. Jahrhundert als Gefängnis gedient hat, ist es in neuerer Zeit zum Arsenal
umgestaltet worden. Das Ufer zeigt jetzt eine fast ununterbrochene Reihe von
glänzenden Hotels, freundlichen Pensionshäusern und schmucken Villen, die von
Rebenhügeln und Gärten umgeben sind. In letzteren gedeihen Granaten,
Oliven, Lorbeer, Feigen und Mandeln im Freien, denn wir befinden uns hier
in dem „schweizerischen Nizza", das besonders im Frühling, Herbst und Winter
wegen seines milden Klimas von Fremden überfüllt ist. Von diesen Pracht-
vollen Ufern steigt das Gelände ganz allmählich zu den schon erwähnten
Bergen empor und trägt hier in anziehendstem Wechsel Matten, Wald und
Felsen. So gelangen wir nach dem herrlichen Montreux, später nach dem
noch reizvolleren Vevey, welche Städte, umgeben von köstlichen Gärten,
Promenaden und Aussichtspunkten und geschmückt mit glänzenden Hotels und
Landhäusern, den Mittelpunkt aller derjenigen glücklichen Menschenkinder bilden,
welche die rauhe Zeit des nordischen Winters fliehen und in angenehmerem Klima
verträumen können. — Eine Reihe von altertümlichen Burgen und Ruinen, vou
hübschen Schlössern und lieblichen Orten schließt sich an, dann folgt das glänzende
Lausanne, welches weiter aufwärts vom User sich stolz um feine Kathedrale
gruppiert und mit seinem Hasen durch eine Drahtseilbahn verbunden wird,
das altertümliche Morges, der von Weinbergen erfüllte, von köstlichen Villen
und Schlössern, stattlichen Dörfern und Weilern besetzte Landstrich La Cöte,
und das aus der Römerzeit stammende Nyon. Unter den vielen Villen ist
Schloß Prangins bemerkenswert, einst von Voltaire, später vom Exkönige
Jerome Bonaparte bewohnt, jetzt Erziehungshaus der Herrnhnter; ferner
das Schloß vou Coppet, welches die Frau von Stacl besaß. Den bezan-
bernden Hintergrund dieses köstlichen Ufergeländes bildet die Jurakette mit
ihrem höchsten Gipfel la Dole (1678 w), während am andern Ufer der Mont
Velan und der Mont Blane ihre gigantischen Häupter erheben. Und wie
unvergleichlich schön zeigt sich sodann im Vordergrunde das glänzende Genf
wieder, überragt vom Dome St. Peter und den leuchtenden Kuppeln der rns-
fischen Kapelle! Glücklich fürwahr der Sterbliche, dem es vergönnt war, mit be-
geisteruugsfähigem Herzen das paradiesische Ufergelände dieses Sees zu besuchen!