1908 -
Essen
: Baedeker
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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4. Das Ovamboland.
Das Ovamboland ist der nördlichste Teil unseres Schutzgebietes. Es
ist in mehrere voneinander unabhängige Stämme geteilt. An der Spitze eines
jeden Stammes steht ein Häuptling, der noch Selbstherrscher im wahrsten
Sinne des Wortes ist. An Bevölkerung wird das Ovamboland nach Ansicht
der Missionare mehr als 100000 Menschen zählen, und man kann annehmen,
daß die Ovambo mindestens 10 bis 15000 Krieger aufbringen könnten. Sie
waren aber ihren Nachbarn nicht gewachsen, und die Handvoll Hottentotten
des Kaokofeldes, die jahrelang mit ihnen Krieg geführt und Tausende von
Rindern geraubt hatten, hatten wenig Furcht vor ihnen. Noch ist ihre mili-
tärische Kraft nicht einheitlich zusammengeschlossen, sondern in viele kleine
Stämme zersplittert, die aufeinander eifersüchtig und fortwährend in gegen-
seitiger Fehde begriffen sind.
Was den Zustand in Ovamboland für den Europäer so unsicher und
unzuverlässig macht, ist der Umstand, das Recht und Gerechtigkeit in unserem
Sinne nicht besteht, sondern alles von der Willkür des Häuptlings abhängt.
In diesem Sinne kann man europäerfreundliche und europäerfeindliche Stämme
unterscheiden; aber auch in den Gebieten jener Stämme ist der Europäer
seines Lebens nicht mehr sicher, sobald ein Häuptling stirbt. Dann herrscht
wochenlang die vollste Rechtlosigkeit; Mord und Totschlag sind an der Tages-
ordnung, der ganze Stamm befindet sich in Aufruhr, und wehe den Weißen,
die sich gerade in dieser Zeit in dem Gebiet aufhalten. Das wissen die
Missionare ganz genau, mit denen ich mich gerade über diese Unsicherheit auf
das ausführlichste unterhalten habe. Sie wissen, daß ihnen der Tod droht,
wenn einer der Häuptlinge stirbt. Überhaupt spielt das Leben eines Menschen
dort eine geringe Rolle. Der gegenseitige Mord ist sogar in der Familie
nichts Ungewöhnliches und geschieht stets in hinterlistiger Weise, ohne daß die
Außenwelt viel davon erfährt.
Unsere ganze Reise durch das Ovamboland ist glatt verlaufen ohne
irgendwelche Störung oder Schwierigkeit mit den Bewohnern. Der Grund
hierfür mag wohl der gewesen sein, daß mein Name bei den Ovambo in
freundlicher Weise bekannt war. Wir hatten schon seit dem Jahre 1892
Hunderte von Ovambo in den Otavi-Minen beschäftigt, die sich als Arbeiter
sehr bewährt hatten; und die Ovambohäuptliuge hatten schon seit Jahren den
Wunsch ausgesprochen, mich kennen zu lernen. In der Tat wurden wir auch
überall auf das freundlichste aufgenommen, was schon dadurch zum Ausdruck
kam, daß wir in allen Dörfern auf das reichlichste mit Kaffernbier bewirtet
wurden.
Interessant war unser Besuch bei einem der gefürchtetsten Häuptlinge.
Die Ovambohäuptliuge haben die Gewohnheit, die Besucher, auch wenn es
Weiße sind, gewöhnlich recht lange warten zu lassen. Ich hatte ihm mitteilen
lassen, daß ich nicht warten, sondern sofort wieder meiner Wege gehen würde.
In der Tat wurden wir auch sofort empfangen. Mein Begleiter hatte für
alle Fälle einen geladenen Revolver in der Tasche. Der Häuptling saß auf
einem Stuhl, er hatte europäische Kleidung an. Neben ihm kniete sein Rat-
geber, ein dicker, großer Ovambo mit einem schlauen Bauerngesichte. Für
uns standen zwei Stühle dem Häuptling gegenüber bereit.
Ich habe selten ein so häßliches Gesicht gesehen wie das dieses Häupt-
lings. Er blickte unausgesetzt vor sich hin, nur selten streifte uns ein scheuer