1913 -
Berlin [u.a.]
: Oldenbourg
- Autor: Wütschke, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Höhere Schule
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): Jungen
20. Auf der Karawanenstraße von Tanger nach Fes.
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diesen Hauptteil des Blad el Machsen, des scherifischen Kernlandes, durch-
ziehen und alle mehr oder weniger auf dem Wege nach Fes hier zusammen-
laufen. Und da bei dem bekannten Mangel an Brücken und Fähren —
denn auch davon gibt es nur an den begangensten Stellen wie am Wad el
Kns vor El Ksar el Kbir das eine oder andere traurige Probestück — auch
die erfahrensten Reisenden auf die Hilfe der furtenkundigen Anwohner an-
gewiesen sind, so ergibt das Warten auf Führer an den Ufern immer ein
buntes Bild echt morgenländischen Karawanenlebens.
Lange Züge von schwer beladenen, langsam und gleichmäßig sich fort-
schiebenden Kamelen, größere und kleinere Gruppen von Maultieren und
Eseln mit ihren stimmkräftigen Treibern, hochgemut und mürrisch drein-
schauende Reiter mit langer Flinte und bescheidene Fußgänger, alle müssen
sie unterschiedslos an den steilen Böschungen des seine schmutzigbraunen
Fluten rasch vorbeijagenden Stromes halten, absitzen und geduldig auf die
Rückkehr der Furtenführer warten. Man läßt die Tiere in der Nähe grasen,
bessert an der Verladung und Verschnüruug der Lasten etwas nach und setzt
sich dann ins Gras, zieht die kleine Hanfpfeife aus der rotledernen Umhänge-
tasche und fängt, gemächlich und bedächtig, ein Gespräch an mit dem ersten
besten Wanderer und Maultiertreiber, der einem zunächst am Boden sitzt.
Erst werden natürlich mit großer Ausführlichkeit die begrüßenden Redens-
arten ausgetauscht, in denen stets mehr von Allah und Mulai Jdriß und
anderen Landesheiligen als von einem selbst die Rede ist. Aber man hat
hierzulande Zeit und läßt sich's nicht verdrießen, ein paar Minuten zu ver-
lieren mit leeren Worten, frommen Fragen und wohlwollenden Wünschen, die
bei aller ihrer geschäftsmäßigen Gleichartigkeit doch mit geschickt gespielter
Teilnahme vorgebracht werden, wie es sich bei einem wohlerzogenen Mauren,
der immer Allah und seine Heiligen im Munde führen muß, vollkommen von selbst
versteht. Dann erst kommen ganz allmählich die Fragen an die Reihe, die
jedem längst auf der Zunge brennen: Woher des Wegs? Wohin? Was habt
ihr geladen? Wieviel seid ihr in eurer Karawane? Wo habt ihr euren letzten
Halt gemacht? Wie weit gedenkt ihr heute noch zu kommen? Und dann
natürlich die Erkundigungen nach den Zuständen in der Hauptstadt, nach den
neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatz und von der Haltung der schwanken-
den Stämme, die teils zum Sultan stehen, teils schon zu den Aufständischen
übergegangen sind.
Und, merkwürdig, wie dieser Austausch von Frage und Antwort auch
sofort wieder die Lust zu fabulieren weckt, wie jeder gern groß tun möchte
mit besondern Erlebnissen und schrecklichen Nachrichten vom Wege, die ihn
zum Mittelpunkt eines bewundernd lauschenden Zuhörerkreises machen sollen.
Die letzten Tage, wo ich durch ein einsames, spärlich bevölkertes Land ge-
zogen war, hatte man den Aufstand und alle Mären von Krieg und Kriegs-
gefchrei völlig vergessen. Hier, beim Zusammentreffen mit den Weggenossen,