1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Bilder aus Ost-Europa,
Bild. Die Wände und der aus tannenen Planken gezimmerte Fuß-
boden sind schwarz; denn im Winter geht in der Porte das Feuer nicht
aus, das jetzt, genährt durch grabe Tannenscheite, von dem in der Mitte
angebrachten massiven Herd hoch auflodert und, seinen roten Schein
überall hinwerfend, die noch hier und da in den Fugen des Gebälks
eingeklemmten brennenden Späne überflüssig zu machen scheint. Hier
in diesem Räume, durch feine Zwischenwand getrennt, finden wir den
Hausherrn mit feiner ganzen Familie und mit den Haustieren friedlich
vereint. Die Frauen sind bei ihren Handarbeiten, am schnurrenden
Spinnrad oder am Backtrog, die Männer finden wir Schlittschuhe
schueideud und Schlitten zimmernd: die Kinderscharen erblicken wir
herumspielend oder kriechend, und ihr Geschrei wechselt mit dem Gackern
der zahlreichen Hühnerfamilie ab. Endlich nahe bei der Thüre steht
das Pferd vor seiner Häckselkrippe. In solcher Porte lebt der Finne,
soweit die Geschichte, ja die Sage zurückreicht. Jetzt verschwindet sie
allmählich; an ihrer Stelle findet man oft die im Grunde nur wenig
von ihr verschiedene Tuba (Stube).
In den südlichen Knstengegenden und auf den Schären haben die
Bauernhäuser viel Ähnlichkeit mit denen der Schweiz. Die über-
hängenden Dachplaukeu sind zum Schutz gegen die Feuchtigkeit mit
einer Mooslage belegt, und diese grünen Dächer gewähren einen eigen-
tümlicheu, eben nicht unangenehmen Anblick,
Im Südosten des Landes, in Karelien und besonders in den
Kirchspielen am Ufer des Ladoga, da erblüht die heilige Blume der
Dichtkunst noch urkräftig. Hier giebt es vielleicht uicht ein Kirchspiel,
das nicht unter seinen Bewohnern einen oder mehrere Dichter zählte.
Es siud schlichte Bauern. Zuweilen machen sie ihre Verse aus dem
Stegreif und fingen sie gleich bei einem Feste; oft auch arbeiten sie
dieselben sorgsam aus. Sie tragen sie in ihren Gedanken herum, des
Morgens, wenn sie znr Arbeit gehen, des Abends, wenn sie von des
Tages Mühen ausruhen. Oft machen mehrere zusammen ein Gedicht.
Wenn in einen: Kirchspiele zwei befreundete Dichter wohnen, kommen
sie zuweilen in ihren Mußestunden zusammen. Dann setzen sie sich
quer über eiue Bauk einander gegenüber, sassen sich gegenseitig die
Hände, und nun beginnt vor einer zahlreich versammelten Zuhörerschaft
von Männern, Frauen und Kindern der Gesang. Der eine beginnt
unter fortwährendem Wiegen seines Oberkörpers die erste Strophe, der
andere wiederholt sie. Während dieser Zeit macht er die zweite; dann
überläßt er die Fortsetzung seines Liedes seinem Freunde und über-
nimmt nun selbst die Rolle des Wiederholers. So machen sie lange
und meist gute Gedichte. Oft messen sich auch mehrere in einem
Sängerwettstreit. Jeder der Dichter muß der Reihe nach und ohne
Zögern das Wort nehmen. Die Leichtigkeit, mit dem er seinem Gegner
antwortet, ist es, die man vorzugsweise bewundert. Der Inhalt dieser
Gesänge ist entweder eine Naturschilderung oder eiue Verherrlichung
dieser oder jener Hauptbeschäftigung der Finnen, des Jagd- oder Hirten-
lebens, oder irgend ein freudiges oder trauriges Ereignis, das sich im