1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Petersburg.
45
durch Gesetz sogar dieses versagt ist, und die sich danu wieder durch
die Fülle der Lockeu entschädigen. Einige, die den Ziegen Nachnahmen
und unter dem Kinne einen Schopf von Haaren stehen lassen;
andere — ja wer zählt alle polnischen, russischen, ungarischen, französischen,
jüdischen, tatarischen, chinesischen Bart- und Haartrachten: Männer in
Kastans und Talaren, in Fracks und Surtouts, mit Schafspelz-
mützen, Feder- und Filzhüten, Tschakos, Turbans und Schapkis, mit
Stiefeln, Pantoffeln, Lindbastschuhen, Frauen ä la Busse, ä la
Polonaise, mit Hüten, mit Mützen, in Pariser Gewändern und alt-
russischen Sarasaus, Gewappnete und Wehrlose. Es giebt dann auf
den Straßen soviel verschiedenes Volk, als es verschiedene Trachten
und Nationalitäten giebt.
3.
In Petersburg ist zwar wegeu der Nähe der Ostsee der Winter
im gauzeu weniger streng, als in dem mitten im Lande liegenden
Moskau; dennoch fällt dort das Thermometer häufig tiefer als in
Moskau. Im Sommer kann die Hitze 30 Grad, im Winter die Kälte
30 Grad betragen Gewöhnlich geht aber das Leben im Winter, es
mag regnen oder schneien, frieren oder tauen, seinen alten, gewohnten
Gang. Tag für Tag knistern die Birkenbäume im Ofen, einen Tag
wie den andern rutschen die Schlitten in den Straßen umher; be-
ständig werden die öffentlichen Wärmestubeu für die armen Leute
geheizt und regelmäßig die öffentlichen Feuer auf der Straße, in der
Nähe der Theater, für die Kutscher u. s. w. unterhalten. Nur wenn
die Kälte ausnahmsweise zu außerordentlicher Höhe steigt, treten
bedeutende Veränderungen in der Bewegung auf den Straßen ein.
Wenn es heißt: „Das Thermometer ist auf 20 Grad herabgesunken",
dann spitzt man die Ohren. Bei 23—24 Grad wird die Polizei
wach; die Offiziere machen Tag und Nacht die Runde, um die Schild-
wachen und Polizeidiener, die in kleinen Buden in den Straßen ihr«'
Aufsicht üben, wach zu erhalten und die im Schlaf Überraschten auf
der Stelle tüchtig strafen zu laffen; denn der Schlaf ist in diesem
Falle das sicherste Buttel zu einem sanften Hinübergleiten aus dieser
Welt in jene. Bei 25 Grad hören die Theater auf, weil nicht mehr
die nötigen Sicherheitsmaßregeln getroffen werden können. Die Fuß-
gänger laufen alsdann so eilig, als hätten sie die wichtigsten Geschäfte,
und die Schlitten, die schon vorher ziemlich flink sich bewegten, fliegen
nun im Galopp über den schreienden Schnee. Gesichter bekommt man
dann gar nicht mehr ans der Straße zu sehen; denn alles hat sich
die Pelze über Kopf und Hut gezogen. Die Furcht, Augen, Ohren
und Nase durch den Frost zu verlieren, beängstigt jeden, und da sich
das Abfrieren durch kein unangenehmes Gefühl ankündigt, so hat
man genug zu denken, daß man nicht eins der verschiedenen Glieder
des Körpers vergesse, sondern zu Zeiten etwas reibe. „Väterchen, deine
Nase!" erinnert der Vorübergehende den Entgegenkommenden und reibt
ihm ohne Umstände seine kreideweiße Nase mit Schnee ein.