1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Kijew.
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Weinbrennerei sind sehr verbreitet. Die Stadt zerfällt in zwei ihrem
Charakter wie ihrer Lage nach ganz gesonderte Teile: die untere
Stadt, „Podol", die dicht an den Fluß herantritt, hat meist unan-
sehnliche schmutzige Gassen und größtenteils hölzerne Häuser. Hier
treiben die Händler, darunter viele Juden, und die Schiffer ihr Wesen.
Der aristokratische Stadtteil liegt aus hohem Berge. Hier finden wir
viele stattliche Gebäude, wie die „Wladimir-Universität," ein
kolossales Gebäude, wie es bisher keine andere russische Universität be-
sitzt, und die bedeutendsten Kirchen der Stadt, vor allen die berühmte
Sophien-Kathedrale. An einem der am schönsten gelegenen Punkte
aber, dort wo nach einer alten Sage der Apostel Andreas um das
Jahr 40 nach Christus das Kreuz pflanzte, ist von der Kaiserin
Elisabeth eine kleine zierliche Kirche ausgeführt worden. Von hier aus
schaut das Auge über die untere Stadt hinweg das Dnjepr-Thal
hinab. Den Dnjepr hinab gleiten zahlreiche Kähne in raschem Tempo;
die Strömung ist reißend. Aber auch der Blick in die oberste Stadt
ist ein erquickender. Das dichte Laub der Eichen, des Ahorns, der
Pappeln und Akazien, das die Stadt umkränzt, wirkt in wohlthueudster
Weise. Werden wir schon durch die Baumarten daran erinnert, daß
wir uns im südlichen Rußland befinden, so bringt ein Gang durch die
Straßen der oberen Stadt dies uns zu noch deutlicherem Bewußtsein:
an den Fenstern Jalousieen; vor den Hotels und Kaffeehäusern Stühle
und Tische, durch große leinene Zeltdächer gegen die heiße Julisonne
geschützt; das herrliche Obst, darunter Melonen und Arbusen (Wasser-
melouen), an den Straßenecken zu wohlseilen Preisen ausgeboten; die
Trinkhallen, in denen Soda- und Selterswasser gereicht wird, weit
häufiger als in Petersburg und Moskau. Die Bevölkerung von Kijew
hat bereits eine ganz andere Physiognomie als die Moskaus. Man
merkt sogleich, daß man im Lande der Kleinrussen ist. Auch vielen
Polen begegnet man.
Ungefähr eine Stunde von Kijew, stromabwärts, befindet sich der
besuchteste Wallfahrtsort des Reichs, das „Kijewsche Höhlenkloster,"
das um die Mitte des elften Jahrhunderts durch den heiligen Antonius,
welcher längere Zeit in Konstantinopel nud auf dem Berge Athos ge-
weilt hatte, seinen Ursprung empfing. Man kann sich kaum einen
düstereren Gang denken als den durch diese Katakomben. Zuerst steigt
man in einem mit Glas gedeckten Korridor Hunderte von Stufen zur
ersten Kapelle hinab. Zur Rechten und zur Linken kniet eine nnge-
heure Menge von meist verkrüppelten Bettlern. Sie flehen, ihre ver-
stümmelten Gliedmaßen vorweisend, die mildthätig gestimmten Wall-
jahrer um ein Almosen an. Das Gemurmel, welches uns auf den
ersten Stufen empfing, verwandelt sich, je weiter wir gehen, in ein
immer lauter werdendes wüstes Geschrei, welches das Schauerliche der
Situation noch erhöht. Endlich sind wir am Eingang in die eigent-
lichen Höhlen angekommen und zünden uns Wachskerzen an. Ehe wir
den unheimlichen Gang antreten, sällt unser Blick auf ein drastisches
Fresko-Bild, auf welchem viele Teufel arme Menfchenseelen peinigen.
Meyer, Lesebuch der Erdkunde Ii. 5