1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Die südrussischen Steppen.
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flügel als Zuflucht gegen Habicht und Falken dient, schneidet sich vom
Birnbaum den Peitschenstiel, wenn er mit schnellem Gespann die Steppe
durchjagen will, bestreut mit duftendem Gras den Fußboden seiner
Wohnung, schmückt mit ihm Spiegel und Wagen, bereitet sich aus
Steppengewächsen die würzige Kräutersuppe, steckt dem Pferde einen
Blumenbüschel hinters Ohr, hängt gewürzhafte Pflanzen in Bündeln
an der Zimmerdecke auf, nagelt ein Balsambouquet über die Thür,
bekränzt mit Gras und Blumen die Heiligenbilder, befestigt rings an
Wand und Hausgerät kreuzweis Lavendel- und Balsamstränßchen, von
denen er von Zeit zu Zeit einige Zweige abrupft, um sie zu kauen.
Das Steppengras ist ja sein Erhalter und Ernährer, da es seine
Herde weidet, und bunte Steppenblumen flechtet seine Tochter sich
täglich ins dunkle Haar. Er hat ja nur die Steppe, die ihm alle
Bedürfnisse befriedigen muß, von der ihm alles lieb und wert ist. Der
Birnbaum und der Mongolenhügel sind seine Wegweiser, an beide
knüpfen sich seine Erinnerungen und Sagen, der Schlehdorn giebt ihm
Blüten und Früchte, giebt ihm den Stachel zum Ochsenstecken und den
Zinken zu seiner Egge, mit welcher er die Heuschrecken zerfleischt und
zerstückelt, den Schlehdorn besingt er im Liede, das Steppengras feiert
er im schwermütigen Gesange; der Steppe verdankt er den Reichtum
seiner Sprache, seine Beschäftigung, seine Poesie, seine Erhaltung. An
ihr Leben, an ihre Veränderungen knüpft er sein Leben, sein Denken und
Dichten; mit Steppengras feiert er sein Pfingsten, seine Heiligtümer.
Mit dem Frühlinge erwacht auf der Steppe aber auch ein reiches
Tierleben, welches sich hier in Freiheit entwickelt und tummelt, denn
wenn auch des Morgens und Abends graue Nebel aus den feuchten
Schluchten aussteigen, fo bleibt die Steppe selbst voll ungetrübten
Sonnenscheins, weben und spielen schimmernde Lichtwellen um die
Krautblätter, fließen im zitternden Wogenfchlage über die grünen Gras-
ebenen und reichen als duftiger Streifen weit hinaus über den Rand
ferner Bodenerhebungen. Jetzt huschen zierliche Erdhäschen durch das
Krautgestrüpp, spielen und tändeln miteinander im Sonnenschein, jagen
sich durch ihre Löcher in den Hängen der Thäler, die sie meilenweit
unterhöhlt haben, lassen hier und dort ihr melancholisches Zirpen ver-
nehmen, richten sich neugierig empor, wenn sie einen Menschen erblicken,
fliehen, richten sich langsam von neuem auf und schlüpfen behend in
ihr Erdloch, wenn sie Gefahr sehen. Klagend wiegt sich der Kiebitz in
Schwärmen über den Weiden, jagen silberweiße Falken; weiden auf
kahlen Strichen Trappenhorden, die der listige Kosak nicht selten be-
schleicht, kreisen Adler in den Lüsten, fliegen Geier nach gefallenen
<Äteppentieren, schreit der Wiedehopf, speist das Birkhuhn Wurzeln und
Larven, ziehen Schwärme von wilden Tauben rauschend hin und wieder,
denen Habicht und blutrote Falken folgen, schleicht der Wolf den
Herden nach, wandert die numidische Jungfrau bedächtig durch das
Gras, als ob sie die beiden Federlocken hinter dem Ohre zu verletzen
und ihren Schwanenhals anzustrengen fürchte. Während die graugelbe
Lerche in den Lüften schwebend singt, die Biene summend die Blumen-