1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Der Kaukasus.
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Wolken, die über den westlichen Bergen standen, erglänzte zuerst.
Dann wurden nacheinander die hohen Schneehäupter der Centralkette
im Norden beleuchtet; ihre relative Höhe war an der Reihenfolge der
Erleuchtung zu erkennen. Zugleich erglänzte auch der Wolkenrand im
Osten. Endlich kam die Sonne selbst herauf, gelb, ohne Morgenröte;
gelb war auch der vorhergehende Glanz. Das Morgenrot, vom Rigi
gesehen, der Sonnenuntergang im Berner Oberlande sind ungleich
schöner als die gleichen Naturscenen im Kaukasus. Unvergeßlich sind
mir die Sommerabende von Jnterlaken, wo die herrliche „Jungfrau"
in silberweißem Gewände wie eine Nymphe des Himmels herabblickt
auf das freundliche Bödeli. Der Reflex der Abendsonne auf der
weißen Gestalt erzeugt dort eine eigentümliche Rosenfarbe. In btefern
Rosenlichte erglüht die Jungfrau wunderschön an jenem reinen Abende,
und wenn die Sonne verschwunden, erbleicht sie schnell und gleicht, in
dem grünen Rahmen der Wälder, einer edlen Leiche, die geschmückt ist
zur letzten Feier. Solche Landschaftsbilder habe ich im Kaukasus
nicht gesehen. Von der Tereksteppe und den Höhen Georgiens aus
gesehen, übertrifft der Kaukasus an grandioser Majestät alle Gebirge
Europas. In seinem Innern mag es noch viele höchst malerische
Punkte geben, die unseren Alpengegenden nicht nachstehen. Aber die
Seeen fehlen dem kaukasischen Gebirge ganz und gar. Durch den
Mangel dieser herrlichen Krystallspiegel der Tiefen fehlt dem Kaukasus
eine Zierde; welche die Alpen der Schweiz zum schönsten Gebirge der
Erde macht. Eine solche Bereiniguug des Lieblichen mit dem Groß-
artigen, wie die Landschaft am Thuner-See und noch mehr die Ufer
des Vierwaldftätter-Sees auf der Nordseite, dem Pilatusberge gegen-
über, zeigen, sucht man im Kaukasus vergebens. Auch wird man von
keiner der dortigen Höhen ein Panorama überschauen, das an Mannig-
saltigkeit und pittoreskem Reiz dem Blicke vom Rigi gleich wäre. Die
Wälder, welche den Kaukasus, besonders von der Seite des schwarzen
Meeres, umgeben, und die Blnmenslora seiner baumlosen Region sind
reicher und schöner als in Tirol und in der Schweiz; aber dieser male--
rifche Vorzug wiegt die Krystallpracht der Alpenseen und die großartigere
Gletschernatur der Schweiz nicht auf. Kalt und fühllos wird keiner
bleiben, der von den Höhen bei Keschanr die Gebirgsnatur überschaut;
wirft er aber einen vergleichenden Rückblick auf die schönsten Land-
schasten von Tirol und der Schweiz und versetzt er sich im Geiste auf
den Rigigipfel, so wird es ihm ergehen wie Viktor Jacquemout, welcher
selbst beim Anblicke des größten Gebirges dieser Erde, des Himalaya,
ausrief: „O wie schön sind doch Europas Alpen!" M°rih Wagner.