1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Bilder aus Süd-Europa.
deren blühenden Wechselformen das Auge mit sprachloser Wonne hangen
bleibt. Dieses prachtvolle Panorama ist näher und fernerhin teils von
niedrigeren Berggeläuden, teils drüber hinaus von einem blauduftigen
Alpengürtel umsäumt, dessen lichtumflosiene, in violetten Purpur ge-
kleidete Häupter sich mit dem duukelu Himmelsblau vermählen. Wie
hehr und stillselig ist hier alles ringsum! Das Freudengezeter der
Cikaden erfüllt wie ein millionenfacher, wortloser Psalm die Lüste; die
sanftbewegten Maulbeerbäume glänzen in langen Linien überallhin; das
Heer der sorgsam geordneten Gewächse steht unter einem Himmels-
glänze da, wie ich zuvor nichts gesehen, und alles atmet in einem süd-
lichen Sonnenelemente, das sogar der Luft einen würzigen Geruch ver-
leiht. Von einem Maulbeerbaume zum andern schlingt der Weinstock
seinen festlichen Kranz, und auch die dunkelgrünen, säulenartigen
Cypressen begrüßen den Wanderer nicht selten, besonders aber links
drüben vor dem stattlichen Lustschlosse eines Beronefers, wo sie in
regelmäßigen Gliedern wie Grenadiere der Kaisergarde Napoleons her-
überschanen. Biel süßes Licht mit wenig Schatten ist das Bild dieser
vortrefflichen, für den Deutschen so fremdartig reizenden Gegend, und
wenn unser Germanien mit seinen schattigen Bergwäldern prangt, so ist
Italien besonders durch seinen Himmel schön, der alles mit doppeltem
Sonnenglanze beleuchtet. Unter einem nordischen Firmament würde
es viel von seinem Schmucke verlieren. Was uns an Italien so wnn-
dersam erscheint, ist jener Hauch der ewigen Jugend über den Gräbern
großer Vergangenheit, jene holde, sich stets erneuernde Lebensfülle, jenes
heilige Stillleben der Natur im Bunde mit längst verschwundenen
Geistern — ein unaussprechliches Gefühl, das niemand fchöner be-
fungen hat als Goethe in seinem herrlichsten Siebe: „Kennst du das
Land, wo die Citronen blühn?" Darum weiß auch der deutsche Jüng-
ling kein glänzenderes Ziel für feinen Zugvogeltrieb zu finden als den
schmalen, hinter der Alpenwelt sich hinunterziehenden Landesstreif, der
seine durch zwei uuerlöschliche Vulkane ausgezeichnete Südhälfte bis in
die Nähe des fremden Afrikas erstreckt.
2.
Kaum findet sich eine ähnliche Mannigfaltigkeit schöner Natur
zum zweiten Male auf der Welt so vereinigt wie in Italien. Machen
wir einen kleinen Streiszug durch Flur und Wald, um uns davon zu
überzeugen! Der Morgen blitzt so frisch und duftig durch die Wald-
kühle, die neckischen Eidechsen °mit ihren klugen Augen schlüpfen über
den Weg oder sonnen sich auf altem Steingetrümmer, bunte Schlangen
rascheln im vorjährigen Laubabfall der immergrünen Eichen. Die
Kastanien blühen, ' und ihr würziger Dust mischt sich mit dem des
blühenden Weinstocks und all der wildwachsenden Blumen und blühen-
den Gesträuche. Dazwischen schmettern jubelnde Nachtigallen. Zwischen
Hecken von Lorbeer und anderen Büschen, umsponnen von Epheu und
wilden Reben, von weißblühender Winde und duftigen Monatsrosen,
schlängeln sich bergauf und abwärts einzelne steile Fußpfade, nur für